Teamtheater Tankstelle Good Morning, Boys and Girls von Juli Zeh
Nicht Fragen, Antworten sind gefragt
‚Alles ist schon einmal dagewesen. Wir leben in einer Karaokewelt, wiederholen nur, was andere bereits getan haben. Darum muss man, wenn man Aufsehen erregen will, alles viel krasser gestalten, viel krasser!’ Das ist die These von Cold, alias Jens, der über fast neun Monate minutiös seinen Amoklauf an der Schule plant. In dreißig Szenen wird Psyche ausgeleuchtet, fiktiv, aber auch real. Das Stück beginnt mit Fantasiesequenzen, in denen Jens für CNN seine Eltern interviewt, wie sie sich denn nun fühlen, als Eltern des berühmtesten Massenmörders. Die Antworten fallen nicht so aus, wie er es sich vorstellt. Die Mutter gefällt sich noch in ihrer Ratlosigkeit (Er war doch so ein liebes Kind!), sucht verzweifelt Ausflüchte, während der Vater (Das Kind war ein Unfall!) sich komplett abwendet. Doch alles dies ist keine greifbare Realität. Einige andere, bizarre Szenen hingegen verweisen auf eine Richtung, in die vermeintliche Kritik an realen Vorgängen steuern könnte. Insbesondere, wenn Jens im Deutschunterricht die martialische Tötung von fünf Nazis beschreibt, die er mit seiner liebevoll Zoey genannten Pumpgun geradezu hingerichtet hat. Die Nazis haben drei „Ölaugen“ (Türken) tyrannisiert. Aber auch sie müssen sterben. Warum? Weil er gerade dabei war und weil sie einen Hund schlecht behandelt haben. Die Lehrerin ist begeistert von der Gestaltungskraft des Schülers, von der Bildhaftigkeit. Es gibt Lob für die Kurzgeschichte. Niemand will wahrhaben, dass diese Fantasien längst an der Schwelle zur Realität stehen.
Mittendrin immer wieder Szenen, in denen Counter Strike gespielt wird. Man spielt es im Netz gemeinsam oder gegeneinander. Es lässt sich nicht leugnen, diese Jugendlichen befinden sich in einem permanenten Kriegszustand. Cold hat noch nie ein Mädchen geküsst, aber er hat schon Tausende vermeintlicher Feinde getötet, virtuell, versteht sich, und also straffrei. Gottlob sind sich Politiker, Lobbyisten und gekaufte Psychologen darin einig, dass derartige Spiele nichts mit Amokläufen zu tun haben. Alle spielen sie, doch nur sehr, sehr wenige werden zu Amokläufern. Das ist doch beruhigend, oder? Jens wird es jedenfalls nicht. Er wird vielmehr Opfer. Diese überraschende Wendung im Stück könnte doch immerhin auch bedeuten, dass uns die Kontrolle, die Fähigkeit zur Prävention aus den Händen genommen ist. Amoklauf ist längst Bestandteil der Jugendkultur geworden. Wer jetzt entsetzt widerspricht, dem sei empfohlen, sich im Netz kundig zu machen. Es ist allen zugänglich, auch denen, die Empörung heucheln.
Das Stück ist, trotz oder gerade wegen der extremen Brisanz, nicht unumstritten, denn Julie Zeh will nicht wirklich nach Schuldigen suchen, nicht verurteilen, nicht einmal warnen. Im Stück wird permanent an Amokläufe in der Vergangenheit erinnert und es entsteht der Eindruck, dass dieses Phänomen seit gut einhundert Jahren zum festen Bestandteil des weltweiten Schulwesens gehören. Halt, nicht ganz. In Asien gibt es sie (noch) nicht. ’Haben die keine Knarren in Asien?’ Erinnern wir uns an das kollektive Entsetzen quer durch die Gesellschaft, die die Menschen hinaustrieb zu Lichterketten, Blumenniederlegungen und tränenerstickten Befindlichkeitsäußerungen. Fragezeichen auf Asphalt, computerausgedruckte A3 Blätter mit der Frage: Warum? Was hat es genützt? Außer, dass wir jetzt die Jahrestage der Massaker begehen können, nichts! Wo ist der Zorn der betroffenen Eltern, Geschwister, Angehörigen, die, wie Blitze aus heiterem Himmel Kinder, Freunde, Angehörige verloren haben? Wann endlich werden die Politiker zur Rechenschaft gezogen für ihre Versäumnisse? Nie, denn es sind keine Versäumnisse. Es ist Vorsatz, denn der Waffenindustrie in den Arm fallen hieß, Arbeitsplätze gefährden, Steuereinnahmen und Wähler verlieren. Das System will geschmiert sein und da kann es auch schon mal Kinderblut sein. Es sind Colateralschäden im Herzen der Gesellschaft, aber doch nur an der Peripherie einer Wirtschaft, die wachsen und wachsen und wachsen muss.
Genau diese Kritik muss sich Julie Zeh auch gefallen lassen, denn Jugendliche, und in der Premiere saßen einige, erhielten, wie die Erwachsenen ebenso, keine Antworten. Das wäre vertretbar gewesen, wenn der Ansatz ein künstlerischer gewesen wäre, wie z.B. in „Kaktus“. Hier aber wird mit Realitäten jongliert, die bekannt sind. So blieb Regisseur Philipp Jescheck kaum mehr übrig, als diese Realitäten „reizvoll“ in Szene zu setzen. Das gelang ihm, zumal er mit Benjamin Jorns die perfekte Besetzung für die Rolle des Cold/Jens fand. Der sensible junge Schauspieler erinnerte in Aussehen, Lächeln und Spielweise sehr stark an Brad Dourif in der tragischen Rolle des Billy Bibbit in „Einer flog übers Kuckucksnest“. So sehr er sich bemühte, den harten Kerl aus sich herauszustülpen, so sehr stand ihm dabei sein naturgegebener sensibler, sehnsuchtsvoller Ausdruck im Weg. Dass er am Ende nicht der Killer war, schien geradezu logisch. Alle Gewalt blieb bis dahin nur Fantasie. Ganz anders Stella Goritzki, die in der Rolle der Susanne bis zum Ende undurchschaubar blieb. Ihre Entschlossenheit, aber auch ihre Zurückhaltung definierte schließlich den Typus des Amokläufers und machte verständlich, warum diese Täter vorher nie ausgemacht werden. Allein, diese Rolle erklärte sich selbst nicht hinreichend.
Ebenfalls sehr glaubhaft agierte Maike Specht als die Lehrerin Frau Patt. Sie entblößte mit ihrem pointierten Spiel das Dilemma, in dem sich die Lehrerschaft heutzutage befindet. Sie sollen den Kindern mit Sympathie und Liebe entgegentreten, denn wie sonst sollen sie die Schutzbefohlenen dazu bringe, zu lernen, und zugleich sollen sie ihnen wie eine Polizei begegnen, mit grundsätzlichem Misstrauen. Was hat das noch mit Pädagogik zu tun? Holzschnittartig hingegen kamen Ulla Wagener als Mutter und Anno Koehler als Vater herüber. Hier ist wieder Kritik am Stück angesagt, denn beide erfüllten die Klischeevorstellungen von den karriere- und gewinnorientierten Eltern, denen die Entwicklung der Kinder gleichgültig zu sein scheint und die alles tolerieren, solange die Kinder im selben Standesdünkel leben wie sie selbst. Und wenn Statistiken hundertmal belegen, dass es eben der Typus Eltern ist, aus deren Schoß die Amokläufer entspringen, so blieb die Darstellung platter Realismus. Das kann Frau Zeh besser.
Michele Lorenzinis Bühne, er zeichnete ebenso für die Kostüme verantwortlich, bestand aus einem einzigen, riesigen Stoß Kleidung. Dieser Haufen wurde spielend wieder und wieder erklommen, als handele es sich um den Berg, auf den Sisyphos seinen Stein rollte. Es ist eine brauchbare Metapher, die vom permanenten Bemühen, den Gipfel des Besitzes, der materiellen Sachlichkeit zu erklimmen, um darauf zu thronen. Allein und unkommentiert allerdings bleibt sie wieder nur eine Plattitüde.
Es ist unbedingt eine sehenswerte Inszenierung, die schon wegen des großen Engagements der Darsteller zu empfehlen ist. Es ist auch der sichtbare und gewiss auch ehrlich gemeinte Versuch, so viele Facetten des Problems wie möglich beleuchten zu wollen. Wenn dennoch so hart mit dem Abend ins Gericht gegangen wurde, dann nur aus einem einzigen Grund. Wenn ich die Frage nach dem Problem des Amoklaufens an Schulen stelle, dann muss ich auch deutliche Antworten geben. Sonst gerät man in den Verdacht, sich an einem Thema profilieren zu wollen, bei dem man knöcheltief im Blut von Kindern watet. Julie Zehs Integrität ist selbstverständlich unbestritten. Hier geht es vielmehr um Scheitern. Dass in Talkshows keine Antworten gegeben werden dürfen, weil es lediglich um den Meinungspluralismus geht und deren Vielfalt Quote macht, mag ja noch angehen. Theater sollte sich in diese Niederungen gesellschaftlichen und geistigen Opportunismus allerdings nicht begeben.
Good Morning, Boys and Girls
von Juli Zeh
Ulla Wagener, Anno Koehler, Maike Specht, Benjamin Jorns, Stella Goritzki Regie: Philipp Jescheck |