Volkstheater Die Unbekannte aus der Seine von Ödön von Horváth




Verschenkt

Der Protagonist in Horváths Stücken ist zumeist der perspektivlose Kleinbürger. Es sind Menschen an Abgründen, die selbst alle Abgründigkeiten der Welt in sich tragen. Horváths Dramen sind eine Freakshows des Allzumenschlichen. In „Eine Unbekannte aus der Seine“, geschrieben 1933, griff er ein Thema auf, das wie kaum ein anderes die Kleinbürgerlichkeit des Denkens und Empfindens entlarvt. Hintergrund ist die obskure Totenmaske einer Frau, deren Leiche 1900 aus der Seine gefischt wurde. Ein Mitarbeiter der Pariser Leichenschauhalle hatte sie angefertigt, um das ungewöhnliche Lächeln der schönen Frau für die Nachwelt zu konservieren. Gelegentlich wurde der Gesichtsausdruck der Unbekannten mit dem Lächeln der Mona Lisa verglichen, ein Vorgang, der viel über den scheinbar naturgegebenen Voyeurismus des Menschen aussagt. Die Totenmaske wurde ein Bestseller und „schmückte“ zahllose Wohnstuben. Dieser Vorgang beschreibt an sich schon die Charaktere vieler Horváthscher Figuren. Dass er sich dieser unheimlichen Geschichte annahm, verwundert also nicht.

Er war den kryptofaschistischen Tendenzen dieser kleinbürgerlichen Existenzen auf der Spur und ließ die braven Spießer an ihren dunklen Seite zerbrechen, selbst dann, wenn sie wohlanständig überlebten. Als Menschen im humanistischen Sinn waren sie unbrauchbar geworden. Der vorbestrafte und arbeitslose Albert kehrte in die Heimatstadt zurück, um seine Braut wiederzusehen. Diese hat sich allerdings schon mit Ernst arrangiert. Enttäuscht wendet sich Albert ab und begeht gemeinsam mit Nicolo einen Raubmord an einem Uhrmacher. Die Unbekannte, sie ist seit zwei Tagen obdachlos, wird Augenzeugin des Verbrechens. Das Wissen um die Missetat bringt die beiden zusammen. Als schließlich die Braut Irene bereit ist, zu Albert zurückzukehren, geht die Unbekannte in die Seine, um ein- für allemal das belastende Wissen gegen Albert auszulöschen. Sie tut es freien Willens und als Liebesbeweis. So schrieb Horváth die Geschichte nieder. So werktreu erzählte Regisseurin Anna Bergmann sie allerdings nicht auf der Bühne des Volkstheaters. Dort wurde die Unbekannte von Irene erdrosselt. Dabei drängt sich natürlich die Frage auf, woher das Lächeln auf dem Antlitz der Toten kam, die so gewalttätig ins Jenseits befördert wurde?

Doch das ist nicht die einzige Frage, die sich im Zusammenhang mit der Inszenierung aufdrängt. Ben Baurs Bühnenbild beeindruckte immerhin im ersten Teil der Inszenierung. Er hatte eine kleinstädtische Kulisse geschaffen, in der das ganze Panoptikum aus Eingeborenen einsehbar war wie auf einem Präsentierteller. Die durchgängig schwarzen Gebäude umrahmten die marktplatzähnliche Spielfläche, auf der der erste Teil der Handlung bis hin zum Mord, dem städtischen Aufruhr um die Freveltat und die parallel ablaufende Junggesellenparty des Inhabers des Elektrogeschäftes sehr überschaubar ablief. Am Ende philosophierte Albert über seinen verzweifelten Zustand. In diese Szene hinein erschienen die Bühnenarbeiter, um die Kulisse zu demontieren. Warum? Immerhin lenkte das Gewusel sehr von dem überaus wichtigen Monolog ab.


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Sina Kießling, Felix Kramer,Robin Sondermann, Pascal Fligg,Kristina Pauls, Jean-Luc Bubert

© Arno Declair

Der zweite Teil spielte vor einem, den gesamten Bühnenhintergrund verdeckenden Prospekt mit einer Waldlandschaft. Davor befand sich die Wohnung Alfreds als eine Art flachbegrenzter Spielplatz. Und hier drängte sich die nächste Frage auf. Warum musste Felix Kramer (Albert) beinahe die gesamte Szene, in der er wiederum auf groteske Weise sein Dasein, das Dasein an sich und seine vermeintliche Liebe zu der Unbekannten (Xenia Tilling) spiegelte, splitterfasernackt agieren? Eine schlüssige Antwort kann darauf nicht gegeben werden und Spekulationen sollen an dieser Stelle unterlassen werden. Sicher war dieser Entblößung eine Symbolik eigen. Aber welche?

Immerhin bemühte Frau Bergmann einige Theatertechnik, ließ es auf der Bühne kräftig regnen. Als Irene (Sina Kießling) ihren Mord an der Unbekannten begangen hatte, Alfred endlich in seine Kleider geschlüpft war, fiel der Prospekt unerwartet auf den Bühnenboden und gab den Blick auf eine spätere Zeit frei. Komplett rosafarben präsentierte sich nun die heile Welt der Kleinbürger, die, aufgereiht mit Kind und Kegel, ihre „Glückseligkeit“ zur Schau stellten. Platter ging’s kaum, als man sich um die Leiche gruppierte, und darüber schwärmte, dass die Tote, sie lag bis zum Schlussvorhang auf der Vorderbühne, eine wunderbare Installation abgab. Der Bürger als Kunstliebhaber feierte Triumphe, als sich das rosafarbene Haus öffnete und der Kinderchor des Gärtnerplatzes ein süßliches Finale einläutete. Auch hier stellt sich die Frage, ob dieser recht plakative Einfall den Aufwand künstlerisch rechtfertige?

Mögen die szenischen Lösungen auch dem einen oder anderen Zuschauer gefallen haben, die Aufhebung und der Transport der Horváthschen Vision kann kaum als geglückt angesehen werden. Das Universum dieses Dramas in geschriebener Form ist deutlich größer, als die schmalspurige Desavouierung des Kleinbürgertums. Die Verächtlichmachung verhinderte zumindest ein tieferes Verständnis für die hintergrüngigen Verhältnisse. Es wäre wohl besser gewesen, wenn sich die Regie auf mehr als nur drei oder vier Rollen konzentriert hätte. Von Geschlossenheit kann kaum die Rede sein, denn neben den Figuren Albert, Irene, die Unbekannte und Ernst (Jean-Luc Bubert) kam kaum eine wirklich zum Tragen. Damit wurde ein in sich geschlossenes und im Detail einander bedingendes Gesamtbild verschenkt. Ein umfassenderes und geschlossenes Menschenbild entwickelte von den oben genannten Darstellern lediglich Jean-Luc Bubert als Ernst. Seine Figur nahm die deutlichsten Züge an. Viele wichtige Nebenrollen verbleiben nicht in der Erinnerung, wie zum Beispiel Ursula Maria Burkhart als Lucille, Justin Mühlenhardt als blinder Theodor, Pascal Fligg als Polizist oder Michael Tschernow als Uhrmacher. Bei der Lesart von Regisseurin Anna Bergmann verkamen diese Rollen zu Fußnoten der Geschichte, obgleich den Darstellern ihr Bemühen deutlich anzusehen war.

Es war ebenso ersichtlich, dass es Anna Bergmann um starke, reizvolle Bilder ging, und nicht um die komplexe Geschichte, deren Wahrheiten in den Seitengassen lagern und dort auch belassen wurden. Der starke Plot konnte vor Diffusion nicht schützen. Das Ergebnis befriedigte nicht und hinterließ einen schalen Nachgeschmack. Schade, denn es ist ein große Geschichte, der ein fester Platz in den Spielplänen gebührt, da sie heute wie damals so oder so ähnlich noch immer geschieht. Ödön von Horváth ist trotz aller Überzeichnung noch immer ein Meister in Fragen des Allzumenschlichen.

Wolf Banitzki

 

 

 


Die Unbekannte aus der Seine

von Ödön von Horváth

Jean-Luc Bubert, Ursula Maria Burkhart, Pascal Fligg, Sina Kießling, Felix Kramer, Justin Mühlenhardt, Kristina Pauls, Robin Sondermann, Xenia Tiling, Max Wagner, Michael Tschernow

Regie: Anna Bergmann

Volkstheater Die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht / Kurt Weill




Etwas von Allem

Das kennt man, das unterhält. Das kennt man, das gefällt. Das kennt man, das unterhält. „Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht.“

„Honey Island“ empfing die Zuschauer im Volkstheater zur Dreigroschenoper. Der Schriftzug prangte über dem Rondell welches einer Jahrmarktsbude ähnelte und dessen Mitte von einer farbenfrohen Maske geziert war. Die Musiker, bekleidet mit gelben Zirkusuniformen, betraten die Bühne, stiegen in den Orchestergraben. Auftakt. Und Honey Island war auch der Pferdestall, in dem der Gentleman und Gauner Macheath die brave naive Polly, Tochter des Unternehmers Peachum, heiratete. Zur Hochzeitsfeier kamen die „Mitarbeiter“ und Polly (Sybille Lambrich)  trug zur Unterhaltung der Gesellschaft das wohlbekannte Lied von der Seeräuber-Jenny vor. Sie tat dies artifiziell und hervorragend, kommentierte sich abschließend auch mit den Worten: „Das ist Kunst.“ Doch es ging schnell weiter, zur Sache. Ein Bett wurde aufgebaut, dann wurde „gepapperlapoppt“ , und mit „Halt die Fresse ...“ Honeymoon gemacht. Peachum (Stefan Ruppe) betrieb ein Geschäft mit dem Mitleid der Wohlhabenden, ihren Almosen. Mit der Heirat seiner Tochter waren weder er, noch seine Frau (Ursula Burkhart) – die das Mädchen schon mal mit den Worten: „Du Dreckschlampe ...“ nach Hause schickte - einverstanden und da Polly sich nicht zur Scheidung überreden ließ, beschlossen die Eltern sie zur Witwe zu machen. So begann ein Reigen menschlicher Anstrengungen und Verstrickungen in die, wie könnte es anders sein, auch die Polizei einbezogen war. Der Chef Brown war ein Freund und Kampfgefährte Mackies und beide verbanden, abgesehen von freundschaftlichen Kumpelgefühlen, naturgemäß auch Geschäfte. Es „menschelte“ aufdringlich von der Bühne, wenn Tiger-Brown (Tobias van Dieken) die Beweggründe darlegte. Da buhlten und kämpften Polly und Lucy (Kristina Pauls) in bester dämlicher, im treffendsten Sinne des Wortes, Girlie-Show-Manier um Macheath, und Nutte Jenny (Xenia Tiling) verriet ihn enttäuscht gegen Geld. Auch Macheath (Pascal Fligg), anfangs noch durchaus Mann und Herr seines Lebens, wurde im Laufe des Stückes immer mehr zum, in sich haltlosen, Spielball der menschlichen Kräfte seiner Umgebung.

Die Lieder von Weill und Brecht und das hervorragende Spiel der Kapelle trugen diese Inszenierung. Alle Darsteller, je nach dem Temperament der Rolle und der Situation gemäß, gaben ihr Bestes. Dazwischen zog der Nebel Londons über die Bühne. Kitschige Bilder, wie etwa die in rosa Licht getauchte Szene vor der Hochzeitsnacht oder die in goldene Kleidung gehüllten barbusigen Nutten, bildeten Höhepunkte. Sie, wie die insgesamt opulente Ausstattung und die aufwändige Kostüme beeindruckten die Augen der Betrachter. (Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier)

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Thomas Kylau, Stefan Ruppe, Pascal Fligg

© Arno Declair

Das englische Original der Dreigroschenoper, das Stück „The Beggars Opera“ wurde 1728 zum ersten Mal in London aufgeführt. Regisseur Christian Stückl orientierte sich an der Inszenierungstradition der Barockoper und hielt sich an Brechts Weisung, nur unmittelbar bespielte Requisiten zuzulassen. Einem schlüssigen und bereits erprobten Erfolgskonzept nachfolgend, konnte der Applaus nicht ausbleiben.

Und das ist der Kern von der Geschichte: Den Armen bleibt immer nur die Hoffnung auf die Gnade „von Oben“ (in jeglicher Weise, also auch der künstlerischen) oder auf ein Schiff „mit fünfzig Kanonen an Bord“ und wiederum die Gnade von „...“. Denn, nun sei wie im Programmheft Brecht zitiert, leben die Menschen „nicht in Moral, sondern natürlich von Moral“. Oder, um es auf den Punkt zu bringen, davon, dass sie Moral verkaufen und einfordern, für sich selbstverständlich. Gezeichnet wurde also, auch auf der Bühne eine Show, an deren Anfang die Bibel und deren Ende Begnadigung zu einem besonderen Anlass standen, und letztere gehören zu den Wundern, die ihren Ursprung ebenfalls „ganz Oben“ haben.
Der Opernschluss, Gipfel der Parodie und eine rundum satte goldene Zufriedenheit ausstrahlende Szene machte auch deutlich: Es ist ein Traum. Der älteste und größte Traum der Menschheit, der nach Wohlstand und einem gefüllten Bauch. Es ist der Traum, den man vergeblich durch die Parodie ins Diesseits zu holen sucht. Es ist der Traum, den die Bibel den Himmel nennt, das Jenseits des irdischen Jammertals. Es war eine im Zeitgeist gelungene Szene, denn die Mitte des Bürgerlichen lässt sich nur zu gerne vormachen, dass ihre kleinen und großen Schwächen und Verfehlungen ohne Konsequenzen bleiben und das Maß in der Gesellschaft darstellen. Ihr Sieg erscheint zur Zeit unaufhaltsam ... erscheint. (Die Welt ist reich, nur der Kleingeist schlecht. Anm. CMM)

Zeitlos berührten die bekannten Melodien Weills das gesamte Publikum. Mit den Lied-Texten von Brecht fühlten sich besonders die älteren Zuschauer angesprochen, mit der teils schnoddrigen Inszenierung und den neuzeitlichen Prol-Dialogen traf Stückl den Nerv der jüngeren Generationen. Das war Volkstheater, welches an diesem Abend geboten wurde. Dafür könnte man dem Volk, zumindest für den schlechten sprachlichen Aspekt eine Armutsbescheinigung ausstellen. Künstlerisch spiegelte es die gesellschaftliche Haltung in vielen Facetten und vom moralischen Standpunkt, der heute, wie ehedem, ein wirtschaftlicher ist, also ökonomisch betrachtet, kann die Inszenierung, nächste Vorstellung bereits am Premierenabend ausverkauft, sicherlich als Erfolg gesehen werden.



C.M.Meier

 

 


Die Dreigroschenoper

von Bertolt Brecht / Kurt Weill

Stefan Ruppe, Ursula Burkhart, Sybille Lambrich, Pascal Fligg, Tobias van Dieken, Kristina Pauls, Xenia Tiling, Justin Mühlenhardt, Adam Markiewicz, Thomas Kylau, Tobias Schormann,
Musik: Alien Combo - Stephan Reiser, Mathias Götz, Norbert Bürger, Karsten Gnettner, Stefan Schreiber, Micha Acher, Markus Acher, Jan Eschke

Regie: Christian Stückl

Volkstheater Anna Karenina von Armin Petras nach Lew Tolstoi



 

Anna Karenina oder die Freiheit der Entscheidung

Tolstois Romanepos ist ein überaus komplexes Werk, in dem die Geschichte dreier adliger Familien beschrieben wird, deren Schicksale miteinander verwoben sind. Armin Petras ging daran, den annähernd tausendseitigen Roman zu einer Bühnenfassung umzuarbeiten. Dabei beschränkte sich der Autor weitestgehend auf die drei wichtigen Handlungsstränge, deren Entwicklungen gegenläufig anmuten.
Fürst Stefan Oblonski, Bruder Anna Kareninas, ist von seiner Frau Dascha bei einem seiner regelmäßigen Seitensprünge ertappt worden. Dascha sieht in ihrer moralischen Entrüstung keinerlei Möglichkeit, die Ehe weiterzuführen. Doch am Ende ist diese Ehe die stabilste Beziehung, nicht zuletzt durch das Eingreifen Annas, die zur Besonnenheit mahnt.
Der Gutsbesitzer Lewin bemüht sich um Daschas junge Schwester Kitty Schtscherbazkaja, die jedoch in den Grafen Wronski verliebt ist, und ihm eine Abfuhr erteilt. Am Ende heiraten Lewin und Kitty, denn sie ziehen der großen Leidenschaft das kleine Glück vor.
Anna Karenina ist mit dem erfolgreichen und moralisch integeren Staatsbeamten Karenin verheiratet. Annas Liebesaffäre mit dem Grafen Wronski führt schließlich zum Bruch der Ehe, dem Verlust ihres Sohnes Serjosha und ihrer Selbsttötung. Gesellschaftlich deklassiert hatten sich die beiden Liebenden auf das Gut der Wronskis zurückgezogen und mussten nun erkennen, dass sie einander nicht mehr genügen. Wronski stürzte sich in die Arbeit; Anna stürzte ihrerseits in Depressionen. Das Ende ist bekannt.

Dass Tolstois Roman so erfolgreich war, lag nicht zuletzt auch daran, dass er ein gewaltiges Sittengemälde spiegelte. Die moralischen Prämissen und Tabus, die diese Liebesgeschichte im ausgehenden 19. Jahrhundert letztlich in einer Tragödie enden ließen, hatte noch lange über Tolstois Tod hinaus Bestand. Jetzt, davon kann man getrost ausgehen, sind sie in unserer westlichen Gesellschaft weitestgehend überwunden. Ehebruch heißt nur noch selten Ehebruch, da das Bewusstsein soweit gediehen ist, dass Ehen heutigentags eher in Ausnahmefällen bis zum Tod eines der beiden Partner Bestand haben und glücklich sind. Ehebruch implizierte immer auch eine Schuld, und selbst die Jurisprudenz verzichtet inzwischen weitestgehend auf den Begriff der Schuld bei Ehescheidungen. Das Gesetz trägt, und das ist unbestritten eine Errungenschaft, der Gefühlslage Rechnung. Niemand kommt mehr auf die Idee, von Schuld zu sprechen, wenn sich die Liebe verabschiedet hat.

Von dem Ballast des Sittengemäldes befreit, versuchte Regisseur Frank Abt im skelettartigen Dramenkonstrukt Armin Petras einer Fragestellung auf die Spur zu kommen, die uns im Hier und Heute auf den Nägeln brennt. Abt fand heraus, dass sich Anna Karenina letztendlich in einem Dilemma befand, das sie automatisch zur Tragödin werden ließ. Wie immer sich Anna Karenina entscheiden würde, sie wäre in jedem Fall die Verliererin. Also, so der Regisseur, ging es hier um die fragwürdige Freiheit zur Entscheidung.

Grundsätzlich: Wer die Freiheit zur Entscheidung in Frage stellt, steht vor einem unlösbaren Problem. So geschehen in Frank Abts Inszenierung, die keine Antworten zu geben vermochte. Abgesehen davon ist die Betrachtungsweise, ob Anna Karenina in jedem Fall die Verliererin ist, doch eine sehr subjektive. Aus entsprechender Perspektive betrachtet, könnte die Behauptung, Anna habe dem Leben das Größtmögliche abgefordert und auch (temporär) bekommen, während sich alle anderen auf spießigste Weise (für die Ewigkeit) eingerichtet haben, schwerlich angefochten werden. Freiheit ist immer nur eine Idee, die zu leben mit einem Risiko verbunden ist. Der Idealist hält folglich dagegen, jeder Versuch der Freiheit lohnt sich, weil man dadurch das Menschsein spürt. Für die Liebe gibt es noch keine Altersvorsorge. Aber vielleicht gibt es schon ein Unternehmen, das an diesem Problem arbeitet.


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Xenia Tiling, Barbara Romaner

© Arno Declair



Ca. drei Stunden dauerte die Bühnenfassung des Romans im Volkstheater. Die Geschichte wurde übersichtlich erzählt. Wohlgemerkt: Erzählt, denn die Texte waren überwiegend reflexiv, prosanah und nicht selten fühlte man sich in ein Hörbuch versetzt. Zudem hatte Frank Abt die Personen gegeneinander ausgewechselt, ließ jeweils die Texte des oder der anderen Darsteller sprechen, was ein weiteres Abrücken von den Wirkungsweisen der dramatischen Kunst bedeutete und was den Prosacharakter der Veranstaltung zusätzlich verstärkte. Daher kann nicht geleugnet werden, dass die Inszenierung einige Länge aufwies. Regisseur Abt, der sich ganz sicher im Klaren darüber war, wie sehr sich die Geschichte in die Länge ziehen würde, stachelte seine Protagonisten denn auch zu frenetischem Spiel an. So gingen Barbara Romaner  (Anna) und Robin Sondermann (Wronski) mehrfach auf die emotionalen Barrikaden, schrieen sich und der Welt ihre Liebe, aber auch ihre Verzweifelung ins Antlitz. Nicht selten gerieten diese Szenen zu einer Gefühlsepilepsie, die dem nüchternen Betrachter die Tür in das Mitfühlen vor der Nase zuschlug.
Dennoch muss die Leistung gerade dieser beiden Darsteller gelobt werden, denn ihnen war ihr ernsthaftes Bemühen deutlich anzusehen, eine der größten Liebesgeschichten mit Blut zu erfüllen.

Auf kollegiale Hilfe brauchten sie dabei nicht zu verzichten. Stefan Ruppe hinterließ mit seiner hochsensiblen und komischen Gestaltung der Figur des Lewins einen bleibenden Eindruck. Kristina Pauls Kitty entwickelte sich mit der Geschichte. Am Anfang noch mädchenhaft linkisch und verliebt auf Wronski schielend, stand am Ende eine Braut im Raum, die Lewin, den Erhörten, kurz und knapp zu verstehen gab, was ihn zukünftig als Ehemann erwarten würde. Friedrich Mücke (Karenin) und Xenia Tilling (Dascha) ähnelten sich in ihren Haltungen als selbstkontrollierte, auf die Etikette und den Ruf achtende Bürger. Friedrich Mücke nahm man den hohen Staatsbeamten ebenso unzweifelhaft ab wie Xenia Tilling die duldende, aber doch dominante Ehefrau. Torsten Kindermann wurde in seiner Rolle als Fürst Stefan Oblonski wenig gefordert. Dafür waren seine musikalischen Auslassungen am Klavier für das Atmosphärische von überragender Bedeutung.

Ästhetisch erwies sich die Inszenierung als geschlossen. Für Bühne und Kostüme zeichnete Oliver Helf verantwortlich. Er beließ es bei einer Spielfläche, die versatzweise mit Mobiliar ausgestattet war, das auf das ausgehende 19. Jahrhundert verwies. Die Darsteller trugen Kostüme, wie sie in den Petersburger Salons vermutlich anzutreffen waren. Dabei vermied es der Ausstatter, ein realistisches Bild der Zeit der Belle Epoque zu kreieren. Die Andeutungen waren maßvoll und erfüllten bestens ihren Zweck. Im zweiten Teil erstreckte sich die Spielfläche bis in den hintersten Bühnenraum. Sie war jetzt eine Eislauffläche und suggerierte, dass es nun darauf ankam, Geschick zu entwickeln, um auf den Beinen zu bleiben. Das damalige gesellschaftliche Leben war auf dünnem Eis angesiedelt. Da galt es, den Schein zu wahren. Karenin brachte es sinngemäß auf den Punkt: In dieser Gesellschaft wird niemand geduldet, der nicht lachen kann.

Die Inszenierung ist in jedem Falle sehenswert, insbesondere für den, der den Roman nicht kennt oder für den, der ein natürlicheres Bild von Anna Karenina bekommen möchte als das, welches Greta Garbo hinterließ.
Ob die Geschichte noch immer modern ist, muss jeder aus seiner Lebenshaltung und -erfahrung heraus für sich entscheiden. Mir erscheint es wie ein großes tragisches Märchen aus einer Zeit, als Liebe noch anstößig war, wenn ihr der Segen von außen fehlte.
Um über die Freiheit der Entscheidung nachzudenken, dazu verleitete der Abend nicht zwingend.


Wolf Banitzki

 

 


Anna Karenina

von Armin Petras nach Lew Tolstoi

Friedrich Mücke, Kristina Pauls, Barbara Romaner, Stefan Ruppe, Robin Sondermann, Xenia Tiling, Torsten Kindermann

Regie: Frank Abt

Volkstheater Ein Volksfeind von Henrik Ibsen




Keine Panik: Alles ist, wie es war ...

Kurarzt Dr. Stockmann ist beliebt in seiner Heimatstadt, denn auf seinen Rat hin wurde das Städtchen in ein Kurbad umgewandelt. Die heimischen Investoren sind zufrieden mit der Rendite. Da es jedoch in der vergangenen Saison zu einigen auffälligen Erkrankungen unter den Kurgästen gekommen war, hatte Tomas Stockmann Wasserproben in einem Labor analysieren lassen. Das Ergebnis trifft zum Handlungsbeginn ein und ist verheerend. Das vermeintlich heilsame Wasser am Ort ist eine Kloake, verseucht von den Abwässern der heimischen Industrie. Nun gilt es zu handeln und als erster erfährt Bruder Peter Stockmann von dem Gutachten. In seiner Macht sollte es liegen, sofort die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, die da wären, den Kurort für zwei Jahre als solchen zu schließen und eine Millionen (Euro) teure Sanierung vorzunehmen. Spontane Unterstützung erfährt Tomas Stockmann von Hovstad, dem Redakteur des vor sich hindümpelnden Stadtblattes. Tomas ist sehr überrascht, als er erkennen muss, dass Dank eines vom Bruder in Auftrag gegebenen Gegengutachtens die ganze Angelegenheit doch eher harmlos erscheint. Die Aktionäre, vertreten durch Ruth Aslaksen, fürchten Einbußen und machen ihre Einflüsse geltend. Dr. Stockmann nimmt den Fehdehandschuh auf und ruiniert sich und seine Familie im Kampf um die Wahrheit. Als erklärter „Volksfeind“ wird er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Die Modernität des 1882 geschriebenen Stückes springt geradezu ins Auge. Tagtäglich feiern in unserem Land neoliberale Lobbyisten Triumphe und das Volk, dessen Belange von den Volksvertretern längst nicht mehr vertreten werden, sieht sich ohnmächtig einer sonderbar deformierten Demokratie gegenüber. Ibsen war kein Mann des sozialen Engagements. Es hat ihn nicht einmal sonderlich interessiert, obgleich er als Kind einen Wirtschaftsruin am eigenen Leib miterleben musste. Der große Norweger war eher ein Anarchist, der an die unbedingte Notwendigkeit zur Wahrheit glaubte und dessen Dramen ständig überprüften, wie weit Ideal und Realität voneinander entfernt waren. „Es gilt, sich selbst zu retten. (...) Der Staat ist der Fluch des Individuums. Der Staat muss weg.“ (Henrik Ibsen) Er verabscheute die Politik und den Staat, ohne allerdings auch nur ansatzweise Alternativen aufzeigen zu können oder zu wollen. Der Arzt Tomas Stockmann trägt deutliche Züge seines Schöpfers, dessen Weltanschauungen gelegentlich wie Narreteien  erscheinen. „Ibsen hält gern der Moral Moralpredigten und ruft die Ordnung zur Ordnung.“ Alfred Polgar

Regisseurin Bettina Bruinier wusste genau um die Schwächen und Stärken dieses Stückes und griff beherzt ein. Als sich der „Strudelkopf“, wie Ibsen Tomas Stockmann genannt hatte, am Ende mit den Worten: „Der ist der stärkste Mann der Welt, der allein steht.“, selbst definierte, schoss ihn seine Ehefrau Katrine nieder. Der moralische Zersetzungsprozess hat für Bettina Bruinier selbst vor der letzten Bastion menschlicher Sicherheit, der Familie, nicht Halt gemacht. Ihre Abrechnung mit dem Jetzt und Heute ist tabulos. Ohne ins Kabarettistische zu verfallen, verweist sie mit aller Deutlichkeit auf aktuelle Vorgänge und auch auf Personen. Die Volkstheaterinszenierung ist inhaltlich kompromissloses und ästhetisch gut gestaltetes politische Theater.

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Robin Sondermann, Stefan Ruppe, Jean-Luc Bubert, Xenia Tiling

© Arno Declair

 

Markus Karner hatte eine Bühne aus weißen gelochten Stellwänden geschaffen, wie man sie aus Großraumbüros kennt. Eingelassene Fenster wiesen den Raum auch als fixes Gebäude aus. An mehreren Stellen wurde das Weiß durchgängig als Projektionsflächen genutzt, auf denen Videos (Media Artist: Kerstin Polte) das Agieren aller Darsteller unter Wasser zeigten. Wasser war der Gegenstand des Spiels und auf diese Weise war es allgegenwärtig. Im Verlauf der Handlung wurden Pappkameraden auf die Bühne gebracht, die sowohl „kompakte Majoritäten“ als auch „Wahlvolk“ vorstellten. Die überschaubare Bildhaftigkeit ließ sich mühelos entschlüsseln. Bettina Bruinier ließ die Räume erspielen, beginnend mit der Wohnung Stockmanns, in der man eine Party feierte. Der Versammlungsraum, in dem Stockmann seine Anklage erheben wollte und in dem er zum Volksfeind ernannt wurde, hatte den Charakter eines Parlaments. Redakteur Hovstad und sein Gehilfe hockten sehr eng beieinander, denn die Zeitung befand sich in der Krise und Redaktionsraum war schon immer teuer.

Friedrich Mücke gab den Dr. Tomas Stockmann anfänglich naiv-liebenswert. Alles schien zum Besten gerichtet und Stockmann schwelgte so sehr im kleinen Glück, dass er nicht einmal ansatzweise begriff, welche Auswirkungen sein Wissen auf die Gesellschaft haben würde. Am Ende schwor Mückes Stockmann jeder Versuchung, die sich gegen die Wahrheit richten könnte, rigoros ab. Sein, an der Realität gemessen, lächerlicher Idealismus zwang die Protagonisten zum Handeln. Der wichtigste Gegenspieler war der von Robin Sondermann dargestellte Bruder Peter. Sondermann gelang es, den Zwiespalt zwischen Bürgermeister und Bruder differenziert zu gestalten. So wurde Peter Stockmann nicht ausschließlich zum plakativen Gegner, selbst dann nicht, als er den Bruder zum offiziellen Volksfeind erklärt. Dabei war Zorn und Verzweifelung über Uneinsichtigkeit die Triebfeder, keinesfalls jedoch Machtlüsternheit. In einer anderen wichtigen Rolle überzeugte Xenia Tiling. Als Ruth Aslaksen brachte sie eine „Erfolgsfrau“ auf die Bühne, deren Anblick und Agieren Beklemmungen erzeugte. Sie entwarf eine Frau, die eiskalt und zynisch die Handlung vorantrieb. Äußerlich entsprach die Darstellerin durchaus dem, von der Journaille verherrlichten Bild der „Powerfrau“. In dieser Inszenierung wurde allerdings deutlich, dass man so ein Frauenbild nicht anhimmeln, sondern eher fürchten sollte. Im Gegensatz dazu demonstrierten Kristina Pauls (Tochter Petra) und Mareile Blendl (Ehefrau Stockmanns) fassbare Menschlichkeit. Kristina Pauls, die jugendliche Variante des Idealistenvaters, reagierte ohne Kalkül, aufbrausend und einfordernd. Mareile Blendl als Ehefrau Katrine versuchte verzweifelt Harmonien herzustellen. Sie war jedoch völlig überfordert mit einer Situation, in der sie wie ein Ball im Strudel der Ereignisse immer wieder zwischen die Fronten gespült wurde. Jean-Luc Bubert, der als Hovstad dauertrinkend vor der eigenen Schamlosigkeit und moralischen Verwahrlosung zu fliehen versuchte, ließ erkennen, dass die Medien nicht mehr unbedingt der Wahrheit verpflichtet sein müssen und dass die einstige Macht zu einem zahnlosen an der Leine geführten Tiger verkommen ist.

Wieder einmal bot das Ensemble des Volkstheaters eine respektable Leistung, und wieder einmal stellte Regisseurin Bettina Bruinier ihr Können unter Beweis. Inzwischen bürgt ihr Name auf dem Plakat des Münchner Volkstheaters für künstlerisch hochwertiges und anspruchsvoll unterhaltendes Theater. Und noch etwas zeichnet diese Inszenierung aus: Sie kommt im rechten Gewand zur richtigen Zeit, und zwar unmissverständlich.


Wolf Banitzki

 

 

 


Ein Volksfeind

von Henrik Ibsen

Mareile Blendl, Jean-Luc Bubert, Pascal Fligg, Wolfram Kunkel, Friedrich Mücke, Kristina Pauls, Stefan Ruppe, Robin Sondermann, Xenia Tiling

Regie: Bettina Bruinier

Volkstheater Das fünfte Imperium nach Viktor Pelewin




Tanz der Vampire

„Nutzen Sie ihre Chance zum Eintritt in die Elite!“. Wer kann so einem Angebot schon widerstehen, gerade in wirtschaftlich prekären Zeiten? Roma, mittelloser Jugendlicher inmitten eines Russlands der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten (so lange man über das nötige Geld verfügt, diese zu bezahlen), widersteht mitnichten. Was er noch nicht weiß: Er ist auserkoren, an der Spitze einer Vampir-Elite ein neues – das titelgebende fünfte – Imperium zu gründen. Ein Biss und aus Roma wird Rama der Vampir. Die ernüchternde Erkenntnis: Auch in der blutsaugenden Elitegesellschaft geht nichts ohne „Lernen, lernen, lernen“. Der Grundkurs „Glamour und Diskurs“ ist obligatorisch, ohne ihn wird es nichts mit der Karriere und den Frauen. Und auch gegen Liebeskummer und Eifersuchtsattacken ist selbst der abgebrühteste Vampir nicht gefeit.
So weit so banal der Plot des Romans von Viktor Pelewin, den Mareike Mikat für die kleine Bühne des Münchner Volkstheaters adaptierte. Mikat, dem Münchner Publikum seit ihrem Radikal jung!-Gastspiel im vergangenen Jahr bekannt, mischt in ihrer Inszenierung munter Kapitalismuskritik mit B-Movie-Ästhetik und einem fast durchweg jungen Ensemble. Der wohl beabsichtige Coolness-Faktor bleibt allerdings über weite Strecken aus.
Die zentralen Themen sind schnell klar: Kapitalismus ist böse und der Mensch als betriebsblindes Nutztier nicht so weit oben in der Nahrungskette, wie er glaubt. Statt dessen gibt er sich bereitwillig dem (Medien)Konsum hin, womit er sich als ideales „Melktier“ der im Verborgenen agierenden Vampir-Elite erweist. Den blutsaugenden Übermenschen geht es ausschließlich um Macht, Kontrolle und die ausreichende Versorgung mit Flüssignahrung.


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© Gabriela Neeb


Knapp zwei Stunden lang vollführen die fünf Schauspieler in Marie Roths papierverkleidetem Klettergerüst einen sportiven Tanz der Vampire. Während Andrej Kaminsky (Loki) als Lenin-Wiedergänger und abgewrackte Alt-Göttin schillert und Anika Baumann (Hera) ihren Wandel vom braven Mädchen zur femme fatale mit Furor in Szene zu setzen weiß, nimmt man Justin Mühlbauer den toughen Aufsteiger Rama trotz Goldkette und Pelzmantel nicht ab. Der Bastel-Charakter von Raum und Requisiten hat Charme, verliert sich allerdings – ein Problem der gesamten Inszenierung – immer wieder in effekthascherischen Spielereien. Exemplarisch die referentielle Breitseite des Schlussbilds: Der KONSUM lacht in Großbuchstaben, daneben posiert Jean-Luc Bubert als gekreuzigter Jesus. Manchmal ist weniger mehr.



Tina Meß

 

 


Das fünfte Imperium

nach Viktor Pelewin

Anika Baumann, Jean-Luc Bubert, Pascal Fligg, Andrej Kaminsky, Justin Mühlenhardt

Regie: Meike Mikat