Residenztheater  Faust von Johann Wolfgang Goethe


 

 

Dramatischer Frankenstein

„Faust“ ist das deutsche Drama schlechthin, an dem nicht nur die literarisch-künstlerische Welt vorbei kommt, sondern auch die Philosophie. Die Rezeptionsgeschichte des Werkes ist eine wechselvolle, die ihre weltanschauliche Dimension erst durch das Eingreifen der marxistischen Geisteswissenschaften, insbesondere in der Person von Georg Lukács, entfaltete. Seine Interpretation zielte auf die letzten Fragen, die bis dato nur halbherzig angedeutet waren. Lukács nennt den „Faust“ „ein Drama der Menschengattung“, eine „Abbreviatur („Abkürzung“, „abgekürzte Schreibweise“- Anm. W.B.) der Menschheitsentwicklung selbst“. Die Konsequenzen dieser Sichtweisen sind gravierend, denn aus ihnen ergeben sich Fragestellungen wie: Gibt es „einen inneren Kern des Menschen“ der sich im Geschichtsprozess unverändert durchhält? Ist die Geschichte nur die Realisierung eines unveränderten „Gattungsmäßigen“? Wenn ja, dann ist der Mensch unrettbar einer Schadhaftigkeit unterworfen. Wozu also aufbegehren? Lassen wir unserem dunklen Trieb seinen Lauf! Die heutige Realität scheint zumindest nach diesem Muster gestrickt zu sein.

Goethe selbst, in „seinem dunklen Drang“, opponierte. Aufgewachsen im strengen Geist eines kirchlichen Lutheranismus, wurde ihm eingeschärft, dass die Wirklichkeit zwar von Gott geschaffen wurde, dass sie aber durch die Schuld der Menschen der Herrschaft des Satans anheimgefallen war. Einzige Möglichkeit, diesen Zustand zu überwinden, war ein entsagungsbereites Leben. Doch davon wollte der junge Goethe nichts wissen, denn er spürte in sich eine nicht zu unterdrückende „Anhänglichkeit an die Welt“. Insbesondere die Propagierung der „Erbsünde“ durch den Kirchenapparat stieß ihn ab. Seine Entwicklung glich dem Lauf eines fliehenden Feldhasen. Erlöst wurde er aus seiner Orientierungslosigkeit erst durch den Kontakt mit den Ideen Herders, der „das Irdische selbst mit den Attributen des Göttlichen“ belegte. Goethes Abkehr von der Religion und der Kirche war radikal. Er nahm die vom Kainsmal der Verderbtheit befreite Realität an, um sie mit allen Kräften seiner eigenen Person zu genießen.

Als er 1771 in Frankfurt in das Berufsleben eines Advokaten eintrat, tat er dies mit dem festen Vorsatz, die Gesellschaft zu bessern. Ein Revolutionär war er nicht, vielmehr ein rational denkender Reformer. Aber ungeduldig war er allemal: „Das Unverhältnis des engen und langsam bewegten bürgerlichen Kreises zu der Weite und Geschwindigkeit (s)eines Wesen“ machten ihm das Leben unerträglich, wie er in einem Brief an seine Mutter aus dem Jahr 1781 gestand. Er wollte dem „untätigen Leben zu Hause“ endlich entsagen, um eine „Weltrolle“ zu spielen, um ein „herrliches, handelndes Wesen“ zu sein. Er wollte, verkürzt gesagt, ein „faustischer“ Charakter sein, einer, der seinem inneren Drang konsequent folgt und somit „Großes“ bewegt. Dabei philosophierte er nicht in den freien Raum hinein, denn zwei philosophische Strömungen hatten inzwischen die Lufthoheit über den akademischen Mief der Scholastik erobert, der modifizierte Gottesbegriff von Baruch Spinoza (Deus siva natura – Gott ist in der Natur oder Gott ist die Natur – Pantheismus) und der radikale Atheismus des Materialisten, Aufklärers und Enzyklopädisten Paul Henri Thiry d'Holbach (1723-1789). Sein 1770 erschienenes Werk „System der Natur“ war gespickt mit radikalster Religionskritik. Das französische Parlament ordnete (naturgemäß) die Verbrennung seiner Werke an.

Goethe tat nur, was viele Frauen und Männer der Zeit taten, sie suchten nach einer neuen „sittlichen Kultur“. Den Materialismus verwarf er: „Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zumute, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand.“ Aber auch das Kirchenchristentum verwarf er und setzte seinen „Faust“ dagegen. Er war früh vertraut mit dem Volksbuch, mit dem Puppenspiel und dem Drama von Christopher Marlow. Aber auch persönliche Erfahrungen flossen ein, so die Liebe zu Frederike Brion, die er sitzen ließ, als er Straßburg verließ. Am 14. Januar 1772 wurde in Frankfurt eine gewisse Susanna Margarethe Brandt öffentlich mit dem Schwert enthauptet. Sie war des Kindsmordes für schuldig befunden worden. Beide Erfahrungen verschmolzen zur „Gretchen-Tragödie“.

  Faust-Residenztheater  
 

Werner Wölbern

© Matthias Horn

 

Nun wird sich der hoffentlich noch nicht gelangweilte Leser fragen, brauche ich dieses Wissen, um eine „Faust“-Inszenierung am Münchner Residenztheater genießen zu könne? Gewiss nicht, doch schaden kann es auch nicht. Immerhin kommt der Ruf des „Faust“, das deutsche Drama schlechthin zu sein, nicht von ungefähr. Es stellt alle wichtigen Fragen nach einer möglichen Befreiung des Menschen aus einer Existenz der vermeintlichen oder tatsächlichen Schicksalhaftigkeit. An der Größe dieser Fragestellung muss sich jede Inszenierung messen lassen. Auch die von Martin Kušej, die mit viel Getöse am 5. Juni über die Bühne des Residenztheaters donnerte.

Martin Kušej bot eine Lesart an, die am ehesten an die Malmöer Inszenierung von Ingmar Bergmann aus dem Jahr 1958 erinnert. Darin agierten Faust und Mephisto als Verbündete, als zwei Möglichkeiten, auf die Welt zu reagieren. Wer genau hinschaut, wird bemerken, dass die Inszenierung nur mit „Faust“ betitelt ist und nicht mit „der Tragödie erster Teil“. So bediente sich der Regisseur denn auch bei beiden Teilen, gerade wie es ins Konzept passt. Und das Konzept ließe sich vielleicht als „Roadmovie mit zwei Underdogs“ beschreiben, bei dem einer der Protagonisten eigentlich nicht recht weiß, was er will: Faust. Er weiß es auch am Ende des höllischen Spektakels nicht so recht. Die Handlung orientierte sich vornehmlich an Reizworten, die sich im „Faust“ durchaus finden, und die eine neue, moderne Bebilderung und somit auch Interpretation erfahren. Der Krieg ist ein Krieg von Terroristen (auch Kinder), die sich in die Luft sprengen oder massenhaft nieder metzeln. Die Ökonomie ist in der Hand von Mafiapaten. Liebe ist verwahrlost zu unumgänglicher Prostitution. Der Hexensabbat findet im Harry Klein oder im Berghain statt und die „guten Menschen“, hier bemühte Kušej seltsamer Weise das mythologische Paar Philemon und Baucis, werden weggebombt und verbrannt.

Kušej implantierte das ungleiche, gleiche Paar Faust und Mephisto in die Arbeitswelt, in einen pulsierenden, urbanen Alltag. Zumindest das Bühnenbild von Aleksandar Denić überzeugte und beeindruckte darüber hinaus. Sein düsterer, stählerner, dreistöckiger Aufbau mit Kran erinnerte irgendwie an den legendären „Red Hook“ von New York zu Zeiten von Eugene O'Neills. Al Capone startete in diesem Teil von Brooklyn seine Gangsterkarriere. In ständiger Drehbewegung entstanden immer wieder neue Räume, die aber allesamt einen Charakter atmeten: den der Unterschichten- und Gangsterexistenzen. Martin Kušej mag es hart, hart wie Metall. Bert Wrede lieferte ihm einen Klangteppich, der zwar nicht so exzessiv wie Heavy Metal war, der aber dieselbe Untergründigkeit mitbrachte. Das dumpfe Grollen war dazu angetan, zu verunsichern, denn die seismisch wahrnehmbaren Schwingungen waren höllisch, suggerierten ein Brodeln im Untergrund, verhießen Katastrophen.

Die Besetzung der Hauptrollen mit Werner Wölbern (Faust) und Bibiana Beglau (Mephisto) beschworen großes Theater. Das eben dies nicht stattfand, war keinesfalls den Darstellern anzulasten. Die taten ihr Möglichstes. Wölbern gab einen wuchtigen und dennoch sensiblen, von allen Hunden dieser Welt gehetzten Faust. Was allerdings zu keiner Zeit in der dreistündigen Vorstellung sichtbar wurde war, dass es sich bei Faust um einen Wissenschaftler, einen Gelehrten handelte. Kušej hatte den Eingangsmonolog, in dem Faust sein Dilemma umfänglich erklärte, trotz „eifrigem Bemühn“ keine verwertbaren Wahrheiten gefunden zu haben, schlichtweg gestrichen. Er ließ den Mann des Geistes stattdessen in die Welt der Gewalt eintauchen, um sich endlich einmal zu spüren. Und hier wurde es peinlich, denn diese Anleihe erinnerte an den Film „Fight Club“ von David Fincher. Darin verkörperte Edward Norten einen langweiligen Durchschnittsamerikaner, der, als er seine Wohnstatt mit Ikea-Möbel perfektioniert und konfektioniert hatte, den „Faust“ in sich erkannte und fortan blutbadend seine Fäuste sprechen ließ. Den Part des „Mephisto“ übernahm Brad Pitt, gleichsam prügelnd und dabei nicht einmal existent. Dass Bibiana Beglau die Rolle des Bösewichtes ohne Einschränkungen ausfüllen kann, stand bereits vor der Premiere fest. So waren die beiden Protagonisten auch darstellerisch eine Augenweide, eigenartig, differenziert und grenzgängerisch.

Doch sie spielten ein Spiel, dass sich vielleicht mit dem Kompositum „theatralischer Frankenstein“ umschreiben lässt. In Effekt haschender Weise waren Zitate miteinander geklittert worden, die weder dem Charakter noch dem Anliegen der Figur des Fausts dienlich waren. Als der Vorhang fiel, waren alle Fragen zu dieser Figur weitestgehend offen. Von den großen Fragestellungen im Goetheschen Werk ganz zu schweigen. Am Ende sah sich der Zuschauer einer apokalyptischen Welt gegenüber, in der es mehr ums Überleben ging, denn um eine willentliche (und vielleicht fortschrittliche) Gestaltung. Das wäre zumindest Goethes ureigenes Anliegen gewesen. Und Gretchen, deren Geschichte die Tragödie auf das menschliche Maß bringen sollte? Andrea Wenzl anfangs anrührend, aber kaum mehr als Projektionsfläche für Fausts erwachender Liebe (gleichsam ein Problem für den freien Geist), badete letztlich in ihrem Blut und verschied, ohne nennenswerte Erinnerungen zu hinterlassen. Hanna Scheibe als Frau Marthe hatte nicht viel mehr hinzuzufügen, als die Hausfrauenlibido einer Unbefriedigten, die sie hexentanzartig zur Schau stellen musste. Als Michele Cuciuffo in der Rolle des Valentin, Gretchens Bruder, nach dem Duell mit Faust seine Leben aushauchte und den Sterbemonolog im Goetheschen Original sprach, bekam man für einen kurzen Augenblick eine Ahnung von der Großartigkeit des Textes.

Fazit: Laut ging es zu und es wurde gewaltig bewegt. Allein, als Betrachter blieb man weitestgehend außen vor und unbewegt. Selbst als Kenner des Werkes hatte man in der ersten Hälfte einige Orientierungsprobleme, die wieder auftraten, als sich Kämpfer, Prostituierte, Terroristen, Paten und Tote morbide tummelten. Zugegeben, auf die Toten traf das nicht mehr zu. Vieles war plakativ und unverhältnismäßig suggestiv, einiges war auch verblüffend, z.B. als ein totes Pferd den Bühnenhimmel wie an einem Karussell hängend durchschwebte. Erschreckend waren die Donnerschläge und das Feuerwerk, bei denen man sich spontan an die vielen Theaterbrände erinnerte. Wirklich erhellend war wenig. Dass wir nicht in der besten aller Welten leben, ist hinlänglich bekannt und dass wir stets (vom Teufel) versucht werden auch. Faust als ein „herrliches, handelndes Wesen“ fiel aus. Schade.

 

Wolf Banitzki

 


Faust

von Johann Wolfgang Goethe

Werner Wölbern, Bibiana Beglau, Andrea Wenzl, Elisabeth Schwarz, Hanna Scheibe, Jörg Lichtenstein, Silja Bächli, Michele Cuciuffo, Simon Werdelis, Miguel Abrantes Ostrowski, Jürgen Stössinger, Götz Argus

Regie: Martin Kušej

Residenztheater  Der Hausmeister von Harold Pinter


 

Das Unheil lauerte im Schweigen

So, wie Samuel Beckett die „Nachfolge“ von James Joyce antrat, stieg Harold Pinter in die großen Fußstapfen Becketts. Die Männer waren einander in Zuneigung verbunden, wobei sie doch stets gehörigen Abstand hielten. Und das war gut so, denn alle drei waren literarische Titanen, die keine anderen „Götter“ neben sich ertrugen. Aber da sie in drei Generationen aufeinander folgten, verkehrten sie respektvoll wie Väter und Söhne. Als Roger Blin, der 1952/53 Becketts Weltruhm mit der Pariser Uraufführung von „Warten auf Godot“ begründet hatte, inzwischen jedoch mit dem großen Iren verstritten war, 1961 „Der Hausmeister“ von Pinter in Paris auf die Bühne brachte, kam es auf Betreiben Blins zum ersten Treffen der beiden Dramatiker. Beckett zeigte sich von einer gänzlich unerwarteten Seite, redselig und überaus gesellig. Er, der Pinters Talent schätzte, fischte im Gespräch immer wieder nach Komplimenten und behauptete, seine Literatur habe keine Form. Als Pinter widersprach, brachte Beckett sein eigenes Formverständnis wie folgt auf den Punkt: „Ich war mal im Krankenhaus. Auf einer anderen Station lag jemand im Sterben – der Mann hatte Speiseröhrenkrebs. In der Stille konnte ich sein Schreien ständig hören. Das ist die einzige Form, die mein Werk hat.“ Beide verstanden sich.

Nun wird man Pinter schwerlich in die Kategorie Theater des Absurden einordnen können, doch es steht außer Frage, dass seine Werke inhaltlich ebenso existenzialistisch sind wie Becketts. Bei der Form drängen sich die Übereinstimmungen geradezu auf. In Becketts Spätwerk verstummten die Protagonisten fast gänzlich. Pinter bekannte: „Ich glaube, dass wir nur allzu gut miteinander kommunizieren, in unserem Schweigen, in dem, was ungesagt bleibt, und dass das, was stattfindet, ein ständiges Ausweichen ist, letzte verzweifelte Manöver, uns nicht preiszugeben. Kommunikation ist verstörend. Sich in das Leben eines Anderen einzumischen zu beängstigend. Anderen die eigene Armseligkeit in uns zu offenbaren ist eine erschreckende Aussicht.“ Und so bleiben alle Figuren des Dreipersonenstücks Andeutungen.

Von Aston, der in einer maroden Wohnung seines Bruders lebt, die er renovieren soll, erfährt man, dass er in einer Psychiatrie eingesessen hat, nachdem er an öffentlichen Plätzen zu viel geredet hatte. Was mag er geredet haben, dass man einen chirurgischen Eingriff in sein Hirn vornahm? Man bekommt kaum mehr als eine Ahnung davon. Wenn er redet, hat das gesprochene Wort kaum Bedeutung. Doch die Pausen dazwischen sind beredt. Eines Tages bringt er den alten Obdachlosen Davies mit und bietet ihm eine Schlafstätte an. Davis ist misstrauisch. Er ist ein rüder Geselle, voller Hass gegen alles und alle die anders sind. Seine Legende sollte Aston nachdenklich machen, denn Davis führt einen falschen Namen, ist schnell mit dem Messer zur Hand und behauptet, nicht im Besitz seiner wichtigen Papiere zu sein, die ihn rehabilitieren. Er könnte sie holen, doch dafür hat er nicht das rechte Schuhwerk.

  Hausmeister  
 

Hans-Michael Rehberg, Shenja Lacher

© Ruth Walz

 

Schließlich tritt noch Mick auf den Plan, Astons Bruder, ein Unternehmer und Hausbesitzer mit hochfliegenden Plänen. Als Davis realisiert, wer das Sagen hat, dreht sich sein Sinn und er versucht Aston, den er schon hinlänglich ausnutzt, auch noch auszubooten.

Es geht Mensch gegen Mensch. Jeder will und muss sich irgendwie mit den Gegebenheiten, die nicht freundlich sind, zu arrangieren. Für diesen unterschwelligen Krieg schuf Annette Murschetz ein düsteres Bühnenbild. Der schmuddelige Raum, eher Obdachlosenasyl als Wohnung, wurde im Schein der gelblichen Deckenfunzel noch unansehnlicher, noch unwohnlicher. Angefüllt war der Raum mit allerlei Möbeln, Koffern, Kisten, Küchengeräten, Schrott, undefinierbaren Überbleibseln und Stapeln von Zeitungspapier. In diesem Verhau lebten die beiden Männer, nervten sich mit Körpergerüchen und unerträglichen Geräuschen während des Schlafs. Die Stimmung, eingangs von der freundlichen Selbstlosigkeit Astons dominiert, begann zu kippen. Aggressionen kamen auf und drohten zu eskalieren. Ausgesprochen wurde wenig, umso unheilvoller waren die Pausen, das Stottern, die abgebrochenen Sätze.

Wer konnte geeigneter sein, diesen gewaltigen Brocken Dramatik auf die Bühne zu bringen als Andrea Breth. Endlich gelang es, sie, eine der ganz großen Regisseurinnen, an ein Münchner Theater zu verpflichten. Andrea Breths Inszenierungen zeichneten sich in der Vergangenheit vor allem durch ein tiefes (und gesundes) Verständnis und durch ein tiefes Ausloten der Texte aus. Inszenatorischen Schnickschnack suchte man bei ihr stets vergeblich. Der Text fordert die Form und wenn er das tut, dann stimmt es rundum. So auch im Münchner Residenztheater.

In einem Labyrinth aus Dinglichkeiten, zumeist überflüssigen, mäanderte das Leben zäh vor sich hin. Wenn Shenja Lachers Aston Auskunft gab, dann klangen seine einfachen, emotional hintergründigen Sätze wie in Ton gestochene Gebote. Sein Dasein war ritualisiert, seine Pfade vorbestimmt, denn das was wichtig war, hat man ihm genommen. Die Erinnerung war Rest. Für den Zuschauer erschloss sich wenig mehr als eine Ahnung und die war bedrohlich, denn jedem stand es frei, sie mit den eigenen Dämonen aufzufüllen.

Bruder Mick hingegen war ein Macher, einer der der Welt nicht unterlag. Norman Hacker gab ihn schneidig und robust. Aber auch in seiner Figur schwang eine Emotionalität mit, die Verzweiflung, eine tiefe existenzielle Traurigkeit implizierte. Hans-Michael Rehberg, er kehrte nach fünfzig Jahren an eine Stätte seines Karrierebeginns zurück und feierte am Premierenabend seinen 76. Geburtstag, verkörperte den Hausmeister Davies. Es war eine Augenweide, diesen großen Mimen in seiner Lebendigkeit und physischen, sowie sprachlichen Präsenz zu erleben. Sein Davis war ein verschlagener Alter, stets auf der Hut vor Anfeindungen und immer bereit, Händel vom Zaun zu brechen. Sein Wille dominierte, schürte den Konflikt und beim Zuschauer das Unbehagen.

Die zweieinhalb Stunden waren auch für den Zuschauer harte Arbeit. Obgleich das Drama durchaus komische Momente hat, die allerdings im Beckettschen Sinn ihre Wirkung nur entfalteten, wenn Inhalt und Darstellung bis zum Äußersten gingen, war die Handlungsarmut quälend. In allem schien auch ein wenig „Warten auf Godot“ zu stecken. Doch um Handlung ging es nur sekundär. Vielmehr wurde die Unfähigkeit zur Kommunikation zelebriert, und dabei ging Pinter, wie auch Andrea Breth bis zum Äußersten. Mochte sich das Problem der rationalen Wahrnehmung auch entzogen haben, der emotionalen Intelligenz entging es nicht. Und das vornehmlich Dank der inhaltlichen und ästhetischen Geschlossenheit der Inszenierung.

Es war in jedem Fall ein sehr besonderer Abend, dessen Bilder und Töne sich nicht so schnell aus dem Gedächtnis löschen lassen. Einmal mehr wurde der Beweis erbracht, dass es durchaus lohnt, Autoren auf die Bühne zu bringen, die nicht unbedingt „abonnementfördernd“, weil nicht kurzweilig sind. Großen Dank an Frau Breth und an ihre Darsteller.

 

Wolf Banitzki

 

 


Der Hausmeister

von Harold Pinter

Norman Hacker, Shenja Lacher, Hans-Michael Rehberg

Regie: Andrea Breth

Residenztheater  Was ihr wollt von William Shakespeare


 

 

Der Abend der Komödianten

Amélie Niermeyer garantiert inzwischen Solidität und niveauvolles, künstlerisches Theater, wenn sie Klassiker inszeniert. Mit dieser Gewissheit geht man gern ins Theater, selbst wenn es drei Stunden verspricht. Wer hat nicht schon unter Aufführungslängen von drei, vier oder fünf Stunden gelitten! Auch wenn Frau Niermeyer mit ihrer „Maria Stuart“ am Residenztheater 2009 kein wirkliches Beben auslösen konnte, so erregte ihre Inszenierung von Bergmanns „Persona“ 2012 doch einiges Aufsehen. Das 2013 von ihr eingerichtete bürgerliche Trauerspiel „Kabale und Liebe“ auf der Bühne des Residenztheaters überzeugte in jeder Hinsicht. In allen Inszenierungen setzte Frau Niermeyer auf die Strahlkraft Juliane Köhlers. So auch in Shakespeares „Was ihr wollt“. Es ist die letzte wirkliche Komödie des Meisters und wahrhaft meisterlich.


Viola wird nach einem Schiffbruch in Illyrien an den Strand gespült. Verkleidet als Mann begibt sie sich in die Dienste des Herzogs Orsino. Der liebt hingebungsvoll die Gräfin Olivia, die wegen des Todes ihres Bruders allen weltlichen Freuden entsagt hat. Orsino schickt Viola, die sich jetzt Cesario nennt, zur Gräfin, damit diese stellvertretend um ihre Gunst anhält. Das fällt Viola nicht leicht, denn sie ist ihrerseits bereits unsterblich in den Herzog verliebt. Olivia findet Gefallen an dem zarten Pagen und verliebt sich in Viola. Diese vertrackte Geschichte findet ihre Auflösung, als Violas Zwillingsbruder gleichfalls an die Gestade Illyriens geschwemmt wird. So bekommt am Ende jeder den Partner, den er oder sie liebt.


Und da es sich um eine Komödie handelt, schwirren noch einige Mitbewerber wie Sir Andrew Bleichenwang oder Malvolio, Haushofmeister mit Hang zum Höheren, um die schöne Olivia aufgeregt herum. Der Ausländer Bleichenwang wird dabei immer wieder vom Oheim Olivias, dem trunksüchtigen, auf Almosen angewiesenen Sir Toby Rülp ermutigt, der den wackeren Saufkumpan naturgemäß kräftig zur Ader lässt. Rülp, Bleichenwang und Olivias Dienerin Maria erteilen ihrerseits Malvolio eine derbe Lektion, die diesen von seinem Liebeswahn kuriert. Kommentiert oder kontrastiert wird die Handlung durch einen Narren, der einer tiefen Traurigkeit verfallen ist. Soweit die Geschichte in groben Zügen.


Amélie Niermeyers Inszenierungsansatz ist so einfach wie grandios. Inspiriert durch das 60. Sonett: „So wie die Wellen streben nach dem Kieselstrand, so hasten unsere Minuten an ihr Ende“, inszeniert sie die wogende Handlung als ein Auf und Ab der Gezeiten. Bühnenbildner Alexander Müller-Elmau nahm es wörtlich und brachte eine riesige bleigraue Welle in Form einer Walze auf die Bühne. Die rollte, die Darsteller gelegentlich bedrohlich vor sich hertreibend, über die ganz Bühne, bis in die tiefste Tiefe des Raumes vor und zurück. Dieser Welle entstiegen die Figuren und in dieser Welle verschwanden sie auch wieder.

  Wasihrwollt  
 

Juliane Köhler, Wolfram Rupperti, Götz Schulte, Arnulf Schumacher, Alfred Kleinheinz, Antonio, Barbara Melzl, Markus Hering, Christiane Roßbach, Norman Hacker, Shenja Lacher, Ian Fisher

© Thomas Dashuber

 

Als sich der Vorhang zur (zweiten) Vorstellung öffnete, wurden die Zuschauer von dem wunderbaren Gesang des aus Missouri stammenden Songwriters Ian Fisher in den Bann geschlagen. Er gab den Narren, der sich in dieser Inszenierung fast ausschließlich auf Gesang und Mimik beschränkte. Neben den im Stück vorkommenden Liedtexten gab er auch Sonette zum Besten. Angesichts seiner exzellenten Darbietung wurde der erste Satz im Stück, gesprochen vom Herzog: „Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter!“, Programm. Ian Fisher begleitete die Handlung über weite Strecken auf der Gitarre.

Es gelang Amélie Niermeyer, Figuren, die nicht vordergründig komisch sind, mit komischen Momenten auszustatten. So zwang Götz Schultes Orsino, ein honoriger Staatsmann, des Öfteren zum Schmunzeln, wenn ihn seine unerfüllte Liebe buchstäblich verdrehte. Schultes Orsino bekam in seiner Liebesqual durchaus komische Züge, geriet aber nie lächerlich. Ebenso hatte Barbara Melzls Olivia die Lacher auf ihre Seite, als sie den unverhofft aufgetauchten Zwillingsbruder Violas, Sebastian (Wolfram Rupperti) majestätisch getragen in ihr Schlafgemach führte. Ihr schamlos blitzender Ausdruck ließ keine Zweifel über das Bevorstehende aufkommen. Juliane Köhlers Viola/Cesario geriet zwangsläufig komisch, wenn sie sich verängstigt, verzweifelt und heillos überfordert Situationen ausgeliefert sah, die so absurd waren, dass man sie kaum glauben konnte. Obgleich Frau Niermeyers Inszenierung nicht jugendliche Verliebtheit vorführte, bestach Juliane Köhler mit quirliger Agilität. Der Ansatz, die Liebenden als reife Menschen darzustellen, bereicherte das Drama um die Dimension des Existenziellen. Alle Bemühungen zielten auf „eheliche Liebe und ehrbare Leidenschaft“ und ein Scheitern bedeute gleichsam die Katastrophe.

Dieser Ansatz war unübersehbar, sinnvoll und bremste den Spaß dennoch nicht aus.
Dafür sorgten vor allem Norman Hacker als Sir Toby Rülp und Shenja Lacher als Sir Andrew Bleichenwang. Sie zelebrierten Wortwitz, Situationskomik und schreckten vor Slapsticknummern nicht zurück. Ziel ihrer Niedertracht war vor allem Malvolio, gespielt von Markus Hering. Selten sah man einen Liebenden, der, wie eine Presswurst in gelbe Bänder geschnürt und breit grinsend, so grandios seinen tragisch anmutenden Hirngespinsten erlag. Herings Rolle beinhaltete mehr, als nur die Puritaner-Parodie, und so stellte sich durchaus Mitgefühl für ihn ein.

Amélie Niermeyer gelang in jeder Hinsicht das rechte Maß. Darum fand auf der Bühne auch keine Selbstentzündung statt und das erwies sich als gut. Anton Kuh warnte davor, als er sinngemäß schieb, dass es töricht sei, „wenn auf der Bühne über längere Strecken eine überkandidelte Bumsfidelität herrschen müsste“. Er meinte, „wenn oben übermäßig gelacht werden muss, verschreckt das das Lachen im Parkett. So komisch, wie die dort oben tun müssen, könne gar nichts sein“. (Friedrich Luft, Kritik vom 11.10.1962 zur Kortner-Inszenierung)

Es war der Abend der Komödianten und als solche entpuppten sich mehr oder weniger alle Darsteller. Die drei Stunden waren sehr kurzweilig. Der Spaß hielt sich nicht in Grenzen und das Publikum bedankte sich zu Recht mit frenetischen Applaus und vielen Bravos. Es ist eine Komödie, auf die man schon seit längerem gewartet hat.

 

Wolf Banitzki

 


Was ihr wollt

von William Shakespeare

Juliane Köhler, Wolfram Rupperti, Götz Schulte, Arnulf Schumacher, Alfred Kleinheinz, Antonio, Barbara Melzl, Markus Hering, Christiane Roßbach, Norman Hacker, Shenja Lacher, Ian Fisher

Regie: Amélie Niermeyer

Residenztheater Aus dem bürgerlichen Heldenleben von Carl Sternheim


 

 

Der Aufstand kommt – oder auch nicht

Am Anfang stand die „Hose“, oder besser, deren Fall. Das Missgeschick widerfuhr Luise, Ehefrau des kleinbürgerlich, spießigen Beamten Theobald Maske. Doch was von einigen Beteiligten ursprünglich als soziales Desaster empfunden wurde, entpuppte sich als ökonomischer Glücksfall. Die Reize Luises haben einige Männer hochgradig erotisiert und nun ist es für Theobald ein Leichtes, sämtliche Zimmer im Mietshaus gewinnbringend zu vermieten. Erste und wichtigste Reinvestition ist ein Sohn, den sich Theobald Dank des Hosenfalls endlich leisten konnte. Und es war ein gute Investition, denn Sohn Christian ist ein Erfolgsbesessener, dient sich geschickt hoch bis zum Generaldirektor eines Unternehmens, von dem er, niemand weiß es, zwanzig Prozent der Aktien hält. Er ist ein „Snob“, schreitet, dem Stern des Erfolgs folgend, über menschliche Gefühle kalt und fühllos hinweg. Er heiratet in den Adel ein und verstreut gleichsam das Gerücht, selbst unehelicher Sohn eines Adligen zu sein. Im Jahr „1913“, Christian, inzwischen einer der reichsten Männer der Welt, bereitet seinen 70sten Geburtstag vor. Es ist das Schicksalsjahr für die Familie Maske, denn Christians Tochter Sophie versucht, dem Vater das Heft des Handelns aus der Hand zu nehmen. Nur mit äußerster Anstrengung gelingt es Christian, sein Patriarchat zu verteidigen. Er sucht einen Verbündeten. Sein Sekretär Wilhelm Krey scheint geeignet. Doch der ist von den revolutionären Ideen beseelt, die sich im und nach dem 1. Weltkrieg radikal Bahn brechen. All das erlebt Christian nicht mehr, denn er stirbt unverrichteter Dinge.

Was Sternheim in „1913“ beschrieb, ereilte ihn selbst im Jahr 1912. Zu der Zeit bewohnte er bereits das vierte Jahr das von ihm mit dem Geld seiner zweiten Ehefrau Thea Löwenstein errichteten Schloss (im Stil Louis XVI) „Bellemaison“ in Höllriegelskreuth bei Pullach. Thea Löwenstein musste mit dem Großteil ihres Vermögens den finanziellen Ruin ihres Vaters abwenden. Carl Sternheim und seine Frau Thea verkauften „Bellemaison“ und zogen nach Belgien, wie sie sich 1927 scheiden ließen. Sternheim starb 1942 arm und vereinsamt in Brüssel.

Bei allem Respekt für Carl Sternheim, er gehörte der Klasse an, die er kolportierte, war ein Verehrer Bismarcks und des preußischen Militärs. Dennoch war er klug genug, sich nicht auf deren Seite zu schlagen, sondern deren Lächerlichkeit durch den Fokus seines Monokels auf die Bühne zu bringen. Adressat seines Hohnes war der „Spießbürger der Nach-Bismarck-Zeit“ und mit ihm nahm er gleichsam die Aristokratie aufs Korn, die sich allzu gern von eben diesem Spießbürger korrumpieren ließ. Bei aller gesellschaftlichen Klarsicht und Hemmungslosigkeit in seiner Kritik, fand sich im letzten Winkel des Reichsdeutschen Sternheim eine stille Verehrung für das preußische Junkertum und dessen Vorreiters Moltke. Es ist also Vorsicht geboten im Umgang mit Carl Sternheim und seinem „Bürgerlichen Heldenleben“. Im Übrigen hat er sich nie letztgültig dazu geäußert, welche Komödien dieser Serie tatsächlich dazu gehören.

  Heldenleben  
 

Hanna Scheibe, Oliver Nägele, Jens Atzorn

© Matthias Horn

 

Der Dramatiker Sternheim war ein Phänomen, was seine Sprache anbelangte. Seinerzeit hielt man sie für expressionistisch. Tatsächlich blieben seine Figuren Gattungsvertreter, deren Kosmos immer der des Besitzes ist. Folglich bietet sich die verfremdete Lesart geradezu an. Nicht Menschen agieren, sondern „geometrische Klischees“ die mit „Sprachmasken auftreten, die als vorgeprägte Maske hörbar wird“, und die sich somit selbst demaskieren. (Georg Hensel) Man bedenke, die Protagonisten der drei vorliegenden Dramen heißen Maske.

So gesehen können die Stücke Sternheims nur Folien sein, die mit der heutigen Realität vergleichend herangezogen werden können. Das Ergebnis ist überraschend. Die Aktualität ist auf den ersten Blick erschütternd. Auf dem zweiten bleibt nur der Schluss: Bei aller Schminke, die Prämissen des Kapitalismus und die daraus resultierenden Folgen sind unverändert geblieben. Tom Kühnel und Jürgen Kuttner widmeten sich auf die ihnen eigene Art diesen Texten, was bedeutet, sie benutzten sie, um ihre Kapitalismus- und Gesellschaftskritik an den Mann und die Frau zu bringen. Man spielte die Stücke, doch man kommentierte sie gleichsam, und zwar im Übermaß. So wurden die Sternheimschen Vorlagen mit Adorno, van Hoddis, Kersten und Werfel aufgestockt. Heraus kam ein philosophisch, politischer Diskurs, manchmal schwer zu fassen und schwer zu verdauen. Das theatralische Moment wurde mit kabarettistischen Momenten gebrochen, was Raum zum geistigen Atemholen gab. In zwei Szenen trat Jürgen Kuttner als Maschinengewehr der Aufklärung in Erscheinung und an die Rampe und verballhornte, was ohnehin kaum noch jemand kennt, nämlich die europäische Philosophie und die griechische Mythologie.

Ausgehend von der großen Wende der europäischen Philosophie, die in Descartes „Cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich.) gipfelte, schlug er den Bogen zu ihrer Vollendung in heutiger Zeit durch Juliane Werdings: „Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst…“ Das war lustig. Weniger lustig und vielmehr erschütternd war die Vorstellung eines Bundeswehr-Werbefilms zum Starfighter (Lockheed F-104), dem von Franz Josef Strauss (als Verteidigungsminister) angeschafften Kampfflugzeug. Der Film war unterlegt mit den Zeilen aus Ovids Metamorphosen, die den Flug des Ikarus beschrieb, der bekanntlich mit dem Tod des kühnen Dädalus-Sohnes endete.

Aber keine Bange, Theater gab es auch, denn die ganze Geschichte dauerte immerhin 3 Stunden und 45 Minuten. Jo Schramms Bühne zeigte für „Die Hose“ eine indische Wellblechhütte, aus der sich die Maskes zu befreien suchten. „Der Snob“ residierte in einem klassizistischen Tempel inklusive moderner Malerei und gänzlich entortet, irgendwo in einer Wellnessoase mit Zen-Garten, verlor sich das Jahr „1913“.

So unglaubwürdig, wie sich der Mofa fahrende Oliver Nägele als Theobald Maske ausgerechnet in Indien ausnahm, so schlüssig figurierte Johannes Zirner als sterbender Globalplayer Christian Maske zwischen Bonsais. Im Dienst der Botschaft wurde kräftig aufgesetzt und übergestülpt. In diesem Sinn fiel es den Darstellern auch schwer, sich in den unterschiedlichen Rollen differenziert zu geben. Gerhard Peilstein der Mann für das Aristokratische, gab sowohl Graf Aloysius Palen, wie auch Graf Otto von Beeskow. Einen Unterschied nahm man vornehmlich in den Kostümen (Ulrike Gutbrod) wahr. Wie auch sollte sich ein Unterschied einstellen, unterlag er doch in beiden Rollen ein und derselben Sprachmaske. Ähnlich erging es Franz Pätzold als Mieter Frank Scarron in „Die Hose“ und als Sekretär Wilhelm Krey in „1913“. Dabei wäre hier wesentlich mehr Differenzierung möglich gewesen. Doch Pätzold spielte den verstiegenen Dichter mit ebenso viel stimmlicher Expression und emotionalen Druck wie den verkappten Revolutionär. Friederike Ott war in „Der Snob“ (Marianne Palen) und in „1913“ (Ottilie) jeweils die bestmöglich zu verhökernde Aristokratentochter. Auch ihre Rollen waren sehr klischeebehaftet und es gelang ihr nicht, sich deutlich darüber zu erheben.

Besser dran waren Hanna Scheibe als mütterlich, naive Luise Maske und skrupellose Geschäftsfrau Gräfin Sofie von Beeskow. Auch Jens Atzorn konnte von der Unterschiedlichkeit seiner Rollen profitieren. Als von Wagner besessener Mieter Benjamin Mandelstam in „Die Hose“ war er eine recht lächerliche Figur; als Phillipp Ernst in „1913“ hingegen gestaltete er einen ignoranten Bo, der einem Aufruhr die Pediküre vorzog. Katharina Pichlers unterschiedliche Frauenbilder als kuppelnde Nachbarin und als verschmähte Ex-Geliebte waren ebenso wohltuend anzuschauen. Johannes Zirners Christian Maske erschien in „Der Snob“ als ein energetischer, von Ehrgeiz zerfressener Mann, in „1913“ hingegen als ein an sich selbst verzweifelnder, alter, bissiger Greis, der immerhin noch einen Neuanfang wagen würde, hätte er nur einen Verbündeten. Durchgängig deutlich und charakteristisch war Oliver Nägele als Theobald Maske. Sein etwas tumber, nur in Geldfragen aufgeweckter Kleinbürger kam den Vorstellungen Sternheims vielleicht am nächsten. Es war ein reines Vergnügen, seine Präsenz und seine spielerische Präzision zu erleben.

Bei aller Vergnüglichkeit, die die Regisseure Tom Kühnel und Jürgen Kuttner entfesseln konnten, mussten doch einige Längen ausgehalten werden. So intellektuell anspruchsvoll die Spielfassung auch war, so unübersehbar und vordergründig waren leider die politischen Botschaften und ihre eher kabarettistische Umsetzung. Es stellte sich daher insbesondere in „1913“ ein Grad der Ermüdung ein, mit dem man nach fast vier Stunden den Heimweg antreten musste. Viele Bilder waren von politischen Thesen/Analysen/Parolen verdrängt worden, vor allem durch das Gerede vom kommenden Aufstand. (Ein frommer Wunsch?) Viel griffiger (Sprach-) Witz, wie er in Sternheims Texten reichlich vorhanden ist, ging im Politdiskurs unter oder wurde schlichtweg verschenkt. So gerieten die Figuren noch schematischer, als sie ohnehin schon sind. Daher drängte sich auch die berechtigte Frage auf, wie effizient dieser Abend wirklich war. Angesichts des Aufwandes, hielt sich das Vergnügen letztlich dann doch in Grenzen.

 

Wolf Banitzki

 

 


Aus dem bürgerlichen Heldenleben             
Die Hose. Der Snob. 1913

von Carl Sternheim

Oliver Nägele, Hanna Scheibe, Katharina Pichler, Franz Pätzold, Jens Atzorn, Jürgen Kuttner, Johannes Zirner, Gerhard Peilstein, Friederike Ott

Regie: Tom Kühnel und Jürgen Kuttner

Residenz Theater Der Vorname von Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière


Der Gott des Gemetzel schlug wieder zu

Elisabeth und Pierre verkörpern gemeinsam mit ihren Kindern (sie sind mit den Namen Athena und Adonas gestraft) so etwas wie eine gute, intakte Bildungsbürgerfamilie. Er, Literaturprofessor, kümmert sich gewichtig und mit Nachdruck um „Wörter und deren Bedeutung“. Nebenher bleibt wenig Raum für die kleinen Alltäglichkeiten wie Haushalt oder Kindererziehung. Man könnte auch sagen, Pierre ist der klassische aufgeblasene Familienpascha. Die Dinge des Alltags bleiben an der inzwischen vom Marathon des Lebens gezeichneten, Elisabeth, einer etwas verhärmten Französischlehrerin, hängen. Sie kümmert sich aufopferungs- und liebevoll um alles und jeden. An diesem Abend bereitet sie ein marokkanisches Essen vor. Bewirtet werden sollen Vincent, Elisabeths Bruder und Pierres Freund aus Jugendtagen mit seiner schwangeren Frau Anna. Vincent war in seiner Jugend nicht unbedingt der strebsamste, doch im Kreis der Freunde als Immobilienmakler der ökonomisch erfolgreichste. Als erster Gast erscheint jedoch Claude. Er ist Posaunist und mit Elisabeth seit ihren Kindertagen befreundet. Claude ist sensibel, dezent und zurückhaltend, und wollte man ihn charakterisieren, wäre es sinnvoller, „die Eigenschaften aufzuzählen, die ihm nicht eigen sind“.

Während sich Elisabeth um das Essen kümmert, die schwangere Anna noch auf sich warten lässt,  tauschen die Männer die üblichen Bösartigkeiten und Sticheleien aus. Als der in Vaterfreuden schwelgende Vincent allerdings verrät, dass der Junge, ein Ultraschallfoto verheißt dieses Geschlecht, Adolphe heißen soll, bricht ein Sturm der Empörung los. Es ist für Pierre und Claude völlig undenkbar, dass jemals noch einmal ein Kind Adolf genannt werden kann, denn davor ist Namensvetter Hitler. Die Erklärung, dass der Name dem berühmten Roman von Benjamin Constant „Adolphe“ entnommen wurde, tut dabei nichts zur Sache, denn phonetisch ist kein Unterschied zwischen Adolphe und Adolf auszumachen. Die Geschichte beginnt hochzuschaukeln und die Animositäten wachsen sich zu Zornesausbrüchen aus. Bald ist der Moment gekommen, in dem man sich (endlich einmal) die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagt. Und das tut dann auch richtig weh. Manches gerät unverzeihlich und zum Schluss bekommt Claude wegen seiner Liebe auch noch eins auf die Nase.

Die wundervolle Komödie von Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière entlarvt peinliche Lebenslügen und lächerliche Klischees, ohne den lebensnotwendigen Kompromiss, und nichts anderes ist das gesellschaftliche Zusammenleben, aus dem Auge zu verlieren. Werden die Arrangements erst einmal als solche erkannt, brechen die Geschwüre auf, die sich unter den Lebenswegen gebildet haben. Obgleich die Dramaturgie des Stückes ein wenig gekünstelt, ein wenig an den Haaren herbei gezerrt wirkt, ermöglicht es ein fulminantes Stück Theater voller tiefer Einsichten und überbordender Heiterkeit. Es sind wir selbst, über die wir dabei lachen, denn keine angesprochene menschliche Schwäche ist uns fremd. Es ist eigentlich sehr schade, dass die großen Theater die guten Komödien zu scheuen scheinen, wie der Teufel das Weihwasser. Während überambitionierte Regisseure aus „Hamlet“, „Macbeth“ oder „Lear“ Hanswurstiaden machen, weil sie meinen, der Zuschauer muss auch mal lachen können im Theater, sind solche wunderbaren Komödien eher die Seltenheit. Dabei gibt es gegen derartige Stücke absolut nichts einzuwenden. Sie sind intelligent, sprachlich brillant, haben Tiefgang und erzählen viel über die Menschen und unsere Gesellschaft. Wenn man den Deutschen nachsagt, sie gingen zum Lachen in den Keller, dann vielleicht auch, weil man ihr Lachen im Theater nicht selten mit düsteren, existenziellen Themen erstickt.

 

  DerVorname  
 

v.l. Friederike Ott, Norman Hacker, Michele Cuciuffo, Sophie von Kessel,  René Dumont,

© Matthias Horn

 

Eigentlich sollten auch die Schauspieler solche Stücke bei den Theatern einfordern, denn was befördert ausschweifige Komödiantik mehr, als ein gutes Lustspiel. Die Lust am Spiel war bei allen Beteiligten unübersehbar. Wenn es für Komödien eines Beweises bedarf, erbrachte die gelungene Inszenierung von Stephan Rottkamp am Residenztheater diesen allemal. Robert Schweers Bühnenbild zeigte einen eleganten und unverbindlichen Raum in strahlendem Weiß mit Bücherschrank, dezent verborgener Hausbar und großen Hockern. Von oben und den Seiten wurde das unschuldige Weiß allerdings von schwarzen Farbflüsse bedroht, die das Bild unaufhaltsam zu erobern drohten.

Regisseur Stephan Rottkamp hatte vornehmlich den Text inszeniert und auf klamaukige Beigaben verzichtet. Sämtliche Darsteller brillierten auf ureigenste Weisen. Norman Hacker als Vincent Larchet und Michele Cuciuffo als Pierre Garaud gaben zwei ebenbürtige Alphatiere, deren Kräfte sich allerdings aus unterschiedlichen Quellen speisten. Cuciuffos Pierre lebte hemmungslos seine intellektuelle Arroganz aus. Er, der Wissende um „die Wörter und ihre Bedeutung“, konnte stets das letzte Wort haben, denn seine vermeintliche Überlegenheit schüchterte ein. Umso lächerlicher wirkte er, wenn er seine eigenen Schwächen offenbarte oder sie ihm vor Augen geführt wurden. Hacker hingegen zog sein ungeheures Selbstbewusstsein aus seinem Self-Made-Status. Sein Drang, stets im Vordergrund zu agieren und um jeden Preis witzig zu erscheinen, steigerte die Fallhöhe enorm, aus der er mit allerlei Peinlichkeiten stürzte.

Ganz im Gegensatz zu diesen beiden Darstellern agierte René Dumont als Claude Gatignol mit feiner, subtiler mimischer und gestischer Raffinesse. Der schüchterne Mann, der lange nachdenken musste, ob es in seinem Leben einen Menschen gab, den er hassen könnte, war in einem Maße weich und verletzlich, dass die anderen die unerschütterliche Meinung vertraten, er müsse schwul sein. Der Beweis, unter großen seelischen Nöten erbracht, dass dies nicht der Fall sei, führte schließlich in die blutige Katastrophe. Sophie von Kessel gab über weite Strecken eine Elisabeth Garaud-Larchet, die sich mit der Rolle des mehr oder weniger devoten Hausfrauchens abgefunden hatte, denn Aufbegehren machte angesichts der widerwärtigen Egozentrik des Ehemannes und auch des Bruders wenig Sinn. Doch irgendwann gerät jeder Mensch an seine Grenzen. Der lange Monolog der Abrechnung mit den sie umgebenden Menschen und den Fassaden der Bürgerlichkeit glich einem Schlachtfest. Ebenso radikal stellte Friederike Ott als Anna Caravati ihren Partner Vincent und ganz nebenbei alle anderen Anwesenden, ausgenommen Claude, dem sie liebevoll verbunden war, in Frage.

Das gemeinsame Diner war ein Desaster und zugleich ein großartiger Theaterspaß. Die Zuschauer erlebten eine Gesellschaftskomödie, die von der Regie in bester Salonstückmanier in Szene gesetzt worden war. Ein geringer Anlass, ein nicht gerade intelligenter Witz brachte ein großes Lügengebäude aus Ideologien, selbstgefälligem Liberalismus oder egoistischem Narzissmus donnernd zu Fall. Der Spaß war unbestritten, denn auch am Ende waren die Protagonisten durchaus liebenswerte Zeitgenossen. Sie ähnelten uns einfach zu sehr, folglich konnten wir ihnen nicht wirklich böse sein.

Wolf Banitzki

 


Der Vorname

von Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière

Sophie von Kessel, Michele Cuciuffo, René Dumont, Norman Hacker, Friederike Ott

Regie: Stephan Rottkamp