Residenztheater Eine Familie von Tracy Letts


 

 

Perspektivlos


„Wir sind hier in der Prärie. Das ist ein Bewusstseinszustand, ein seelisches Leiden, klar? So ähnlich wie Blues.“ Der amerikanische Schauspieler und Dramatiker Tracy Letts ist in Durant, einer amerikanischen Kleinstadt, aufgewachsen. In seinem Theaterstück „Eine Familie“ nimmt er Bezug auf dieses Leben und erzählt die Geschichte seiner Großeltern, welche auch sein Leben prägte. In Chicago mit der Steppenwolf Theater Company uraufgeführt, gelangte das Stück im nächsten Schritt an den Broadway und Letts erhielt dafür 2008 den Pulitzer-Preis für Dramatik. Wenn das keine typische Erfolgsgeschichte ist, und eine Perspektive die doch keine ist … „Heute ist Tracy Letts der festen Überzeugung, dass jeder in seinem Leben einmal an einen Punkt kommen muss, an dem er die ‚eigenen Beschädigungen‘ nutzen sollte.“ (Programmheft)


Das alte Ehepaar Violet und Beverly Weston lebt zurückgezogen in ihrem Haus. Violet ist krebskrank und tablettensüchtig, Beverly alkoholabhängig. Er nimmt Johnna, eine junge Ureinwohnerin als Hilfe auf, bevor er wenige Tage später das Haus für immer verlässt. Aus gegebenem Anlass kommen seine drei Töchter, Barbara, Ivy und Karen, sowie Violets Schwester Mattie Fae und ihr Mann Charlie zusammen. Das Familienkarussell beginnt sich zu drehen, Szene um Szene, immer schneller.


Jens Kilian schuf sinngemäß auf der Bühne verbindend ein offenes Haus mit Wohnraum im Erdgeschoss, Bibliothek und Schlafräumen im 1. Stock und einer kleinen Dachkammer für Johnna. So erhielt das Publikum Einblick auf alle Ebenen der Geschichte, in der jeder auch sein persönliches Befinden, wie etwa Hasch rauchen, Existenzangst oder Midlifecrisis in den Focus rücken konnte. Letts verflocht geschickt Gegenwart mit der Vergangenheit und breitete Problem für Problem vor dem Publikum aus; alle durchaus gesellschaftlich relevant und aktuell, sodass jeder sich angesprochen fühlen konnte. Wobei der Wiedererkennungseffekt der amerikanischen Soap durchaus als befördernd eingesetzt war, und Wohnzimmerfernsehatmosphäre aufkam. Tina Lanik führte Regie und ordentliche klare Bilder unterstützten den Text und diese Stimmung in Residenztheatermanier. Die im Fokus des Stückes stehenden Frauen ließen alle Schauspielerinnen zu Hochform finden, allen voran Sophie von Kessel und Charlotte Schwab. Der Entfaltungsraum für die Darsteller der Männer war deutlich begrenzter und doch boten auch sie angemessenes schauspielerisches Niveau. Thomas Gräßle gab einen durchaus coolen Sheriff Deon.


Im Stück war es die wiederholt zitierte, doch nie ausgesprochene Vereinbarung des alten Ehepaares Weston, sich für Erlittenes zu entschädigen, der letzte Coup sozusagen im Krimi des Lebens. Selbstbestätigung, akribische Analyse und die ultimative Wahrheit … ist das wirklich alles um Zufriedenheit bzw. Quote entstehen zu lassen?

     
 

H

© M

 

Die Selbstzerstörung per se, die in der Natur und damit im Menschen genauso angelegt ist wie das Wachstum per se, sucht sich ebenso durchzusetzen. Der natürliche Verfall (der Neuem Raum und Nährboden schafft) kennt viele beschleunigende Ausdrucksformen wie Krebs, Alkohol- und Drogensucht, Klimawandel und Wirtschaftswahn, um nur einige zu nennen.Und während die Einen Wachstum predigen um zu zerstören, gleicht die Natur in ihrer Weise aus.


Wenn also der Hintergrund in den Vordergrund gerückt wird, entsteht auch nicht wirklich etwas Neues. Während im klassischen Drama die Psyche im Verborgenen agiert, hinter der Maske und nur an einigen Stellen hervortritt, so demonstrierte in diesem Stück die Psyche unverdeckt ihre Anlagen, und fällt somit hinter das Tierische zurück. Die Maske, welche auch als Regeln für Verhaltensformen im Patriarchatund damit der bürgerlichen Gesellschaft steht, diese Maske ist es, die das aufkommende Matriarchat abzulegen sucht, schließlich geht es derzeit vor allem um den Beweis, dass Frauen doch die besseren Männer sind.


Als Entfaltungsraum in der Realität blieb dem Patriarch der Familie, nun als Ältester Violets Schwager Charlie, an der Tafel (des Abendmahls der Psychosen) nach dem Begräbnis das Tischgebet zu sprechen, was Karens Verlobten Steve, den Gast keineswegs daran hinderte im selben Augenblick seine Geschäfte zu führen, wofür der Angebetete sicherlich Verständnis hat, wird doch in seinem Namen weltweit das umfassendste Geschäft überhaupt betrieben. Womit also alles seine Ordnung hat.


Am Schluss der Vorstellung applaudierte das Publikum begeistert und die Quotenerwartungen werden sicherlich weiterhin erfüllt.

 

C.M.Meier

 


Eine Familie (August: Osage County)

von Tracy Letts
Deutsch von Anna Opel

Paul Wolff-Plottegg, Charlotte Schwab, Sophie von Kessel, Arthur Klemt, Marie-Therese Fischer, Katharina Pichler, KatrinRöver, AurelManthei, Barbara Melzl, Wolfram Rupperti, Lukas Turtur, Thomas Gräßle, Amanda da Gloria

Regie: Tina Lanik

Residenz Theater Antonius und Cleopatra von William Shakespeare


 

 

Warlords und das Karussell der Gewalt

„Das Stück ist schwer zu besetzen und mit seinen vielen kontrastreichen Schauplätzen schwer auf die Bühne zu bringen; es wird selten gespielt und hat selten Erfolg.“ So die lapidare Einschätzung von Georg Hensel in „Spielplan“ zum Shakespeare-Stück. Das Historiendrama ist die Fortsetzung von Shakespeares „Julius Cäsar“. Folgendes zum geschichtlichen Hintergrund: Julius Cäsar wurde von Marcus Iunius Brutus und Gaius Cassius Longinus ermordet. Der Tyrannenmord hatte ein Machtvakuum hinterlassen, in dem sich die republikanischen Tyrannenmörder und die Caesarianer Marcus Antonius, Octavius und der Verbündete Marcus Aemilius Lepidus als Aspiranten auf die Herrschaft gegenüber standen. Aus der Schlacht von Philippi gingen die Caesarianer als Sieger hervor und bildeten ein Triumvirat, um das Reich zu regieren. Antonius indes frönte in Alexandria seiner wollüstigen Liebe zu Cleopatra und kümmerte sich wenig um seine Ämter als Staatsmann. Als seine Frau Fulvia starb und Antonius nach Rom reisen musste, vertieften die drei Triumvirn ihren brüchig gewordenen Bund, indem Antonius Octavia, die Schwester von Octavius Caesar, besser bekannt als Augustus, heiratete. Bald schon kehrt Antonius, der Lust seiner Lenden gehorchend, wieder in das Bett Cleopatras zurück und das Triumvirat begann zu kriseln. Als erster, weil der schwächste, wurde Lepidus von Oktavius vom Schachbrett der Geschichte gefegt. Dann kam es zur Konfrontation zwischen dem jungen, machtgierigen Oktavian und dem älteren, der Liebe zur Ptolomäerkönigin verfallenen Antonius. Die Liebe hatte „sein Schwert weich gemacht“ und fatale Kriegsentscheidungen beschleunigten Antonius´ Untergang. Antonius musste erkennen, dass er mit seiner Liebe sein Lebenswerk ausgelöscht hatte. Seine Vermutung, dass die geliebte Cleopatra ihn verraten hätte, bestätigte sich zudem und er zürnt ihr derartig, dass sie ihm aus Furcht vor seinem Zorn hinterbringen lässt, sie habe sich getötet. Daraufhin stürzt sich der Kriegsheld ins Schwert. Doch die Verletzung war nicht sofort tödlich und so versöhnte sich das Paar wieder, um gemeinsam zu sterben, Antonius an seiner Verletzung durch sein Schwert und Cleopatra an einem Schlangenbiss, den sie sich selbst zugefügt hatte.

„Antonius und Cleopatra“ ist eine der am häufigsten adaptierten Liebesgeschichten. Shakespeare, der zumeist sein Augenmerk auf Machtkonstellationen und Kabalen legte, folgte bei diesem Thema vornehmlich der Psychologie der einzelnen Protagonisten und nicht den staatspolitischen Vorgängen. Die sind ja ohnehin bekannt. Es bedarf eigentlich nicht des Hinweises, dass es sich um ein brandaktuelles Thema handelt, denn recht besehen, war es zu allen Zeiten aktuell. Regisseur Thomas Dannemann gestaltete seine Inszenierung als einen Krieg zwischen Warlord, wie er in vielen Ländern heute nach dem „Tyrannenmord“ herrscht, Irak, Afghanistan, Libyen…Tatsächlich hat sich eine neue Kultur des Bürgerkrieges entwickelt, in der viele Vorgänge nach einem und demselben, effizienten Schema ablaufen. Eine neue Qualität ist dabei, dass diese Kriegsherren zumeist von Hotels aus operieren, die sie zu ihren Hauptquartieren gemacht haben. Folgerichtig entwarf  Stefan Hageneier auf der Drehbühne drei beinahe identische Räume, die sich unwesentlich unterschieden. Damit löste man geschickt und sinnfällig das Problem mit den „vielen kontrastreichen Schauplätzen“, wie Hensel es beschrieb. Zeitbezüge waren unübersehbar, wenngleich nicht unbedingt immer schlüssig, wie zum Beispiel die langen Bärte der uniformierten Kämpfer, die im Mittelteil getragen wurden und dann wieder verschwanden. Derartige Zitate brauchte es eigentlich nicht. Sie stifteten eher Verwirrung.

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Hanna Scheibe, Manfred Zapatka

© Matthias Horn

 

Gespielt wurden die Texte (Übersetzung von Frank-Patrick Steckel) heutig, weitestgehend frei von Pathos und natürlich. Manfred Zapatkas Antonius war furios und berserkerhaft, ein echtes Alphatier, der trotz seiner Jahre noch gut im Saft stand und dessen sexuelle Leistungsfähigkeit Ehrensache zu sein schien. Fragil hingegen wirkte Simon Werdelis als Octavius Caesar. Er war der Kopfmensch, leise, kalt kalkulierend und stets hellwach, den physischen Auseinandersetzungen geschickt ausweichend. Einen von Antonius angebotenen Zweikampf schlug er wohlweislich aus. Gerhard Peilsteins Lepidus, der dritte Triumvirn war, obgleich er die Vorzüge der Macht genüsslich auskostete, ein politisch impotenter Beau, der eher darauf bedacht war, gut auszusehen als Herrscher.

Hanna Scheibe gab eine schrille, launische und selbstverliebte Cleopatra, deren Gebaren allerdings nicht unbedingt königlich, sondern nicht selten einfach nur zickig war. Auszuhalten hatte ihre Launen und Emotionen die Hofdamen Charmian (Andrea Wenzl) und  Iras (Valerie Pachner). Sie waren ganz und gar die willige Gefolgschaft ihrer Herrin, schön anzuschauen in ihren schrillen Kostümen (Regine Standfuss), und dabei keinesfalls weniger kapriziös und exotisch.

Bei den Nebenrollen stachen Bijan Zamani als Maecenas und René Dumont als Agrippa ins Auge. Sie verkörperten das verbeamtete Verwaltungsprinzip, ohne das inzwischen auch ein Bürgerkrieg nicht mehr auskommt. Thomas Loibl hingegen verkörperte den Typus Krieger in der Rolle des Domitius Enobarbus überzeugend heutig. Ihm gelang der beeindruckende Spagat zwischen einem rohen Rambo und einem menschlichen Wesen mit tiefgehenden Gefühlen. Konrad Hempel, der die Rolle des  Mardian, ein Diener der Cleopatra, gab, trug mit seinen Riffs auf der Gitarre nicht unwesentlich zur bedrückenden und unheilvollen Grundstimmung der Inszenierung bei.

Die Inszenierung hatte ein gutes und tragfähiges Konzept und hätte durchaus überzeugen können, auch und vor allem durch die zeitgemäße Anlage der Rollen. Die Leistungen der Darsteller waren nicht zu tadeln. Dennoch funktionierte die Inszenierung nicht in dem gewünschtem Maße, denn es stellte sich kein wirklicher Fluss der Geschichte ein. Zu viele unmotiviert erscheinende Gänge durch die monotonen Kulissen der Drehbühne streckten den Abend über Gebühr. Wilder Aktionismus im kaum einsehbaren Mittelteil der Drehbühne verführte zu spekulativen Überlegungen, die jedoch keine Ergebnisse zeitigten und lediglich die Konzentration des Betrachters grundlos über Gebühr strapazierten. Weniger wäre deutlich mehr gewesen, vor allem wirkungsvoller. Exzessives Zerstören ist ohne Frage eine Nebenerscheinung des Krieges, allein, auf der Bühne des Residenztheaters, die am Ende einem unvollendeten Abriss glich, wurden zu viele Energien damit vergeudet, die sinnvoller und konzentrierter hätten eingesetzt werden können. Die Zuschauer kennen die Bilder der Zerstörung aus den Nachrichten hinlänglich, die die Warlords und ihre marodierenden Henkersknechte allenthalben hinterlassen, wenn sich das Karussell der Gewalt dreht. Den Part hätte man getrost der Fantasie der Zuschauer überlassen können. Leider ist auch diese Inszenierung eine verschenkte Chance, den Ruf des Stückes, wie ihn Georg Hensel beschrieb, und seinen Erfolgsmöglichkeiten entschieden entgegen zu treten.

 

Wolf Banitzki

 


Antonius und Cleopatra

von William Shakespeare
Deutsch von Frank-Patrick Steckel

Manfred Zapatka, Thomas Loibl, Steffen Lehmitz, Michele Cuciuffo, Simon, Friederike Ott, Bijan Zamani, René Dumont, Gerhard Peilstein, Jeff Wilbusch, Götz Argus, Hanna Scheibe, Andrea Wenzl, Valerie Pachner, Konrad Hempel, Dominik Jedryas, Daron Yates

Regie: Thomas Dannemann

Residenztheater Drei Schwestern von Anton Tschechow


 

Unentschieden

„Die Zeit wird kommen, da werden wir alle erkennen, warum das alles, weshalb diese Leiden, da wird es kein Rätsel mehr geben, bis dahin jedoch muss man leben … man muss arbeiten, nichts als arbeiten.“ Soweit das optimistische Resümee Irinas, nachdem alle Messen gesungen sind, jegliche Hoffnung auf Erlösung geschwunden ist. Dabei wähnte sie sich am dichtesten dran am vermutlich und vermeintlich letzten Ausweg aus der Tristesse der provinziellen Hoffnungslosigkeit. Der Baron Tusenbach, Irina liebte ihn nicht, doch respektierte sie ihn, hatte der jüngsten der drei Schwestern die Ehe und ein neues Leben angetragen. Er war der Einzige, der glaubhaft tätig nach Glück und Befriedigung gesucht hatte. Darum auch die Entscheidung, den Dienst in der Armee, eine weitestgehend sinn- und tätigkeitsfreie Daseinsform, zu quittieren. Doch Soljenyj, der unberechenbare und von der nekrophilen Lebensweise (Im Frommschen Sinn) ausgehöhlte Regimentskamerad, neidet ihm das Glück, an der Seite Irinas leben zu dürfen und tötet den einzigen Hoffnungsträger dieser dekadenten Gesellschaft im Duell.

Das Los der drei Schwester scheint unabänderlich zu sein. Geboren und aufgewachsen im mondänen Moskau der Zarenzeit, wurden sie mit der Versetzung ihres Vaters als Gardegeneral aus einem Leben voller Abwechslungen, Geist und Esprit (wenn es denn tatsächlich so war) herausgerissen und in die Provinz verpflanzt. Sie leben auch noch nach dem Tod des Vaters in relativer Geborgenheit. Olga ist Lehrerin an einem Mädchengymnasium; sie wird am Ende sogar die Direktorin der Bildungsanstalt sein. Mascha führt den Haushalt der großen Familie. Sie ist mit dem stumpfsinnigen und engherzigen Gymnasiallehrer Kulygin verheiratet, liebt aber den Batteriechef Oberst Werschinin. Und Irina leidet unter ihrer anspruchslosen Tätigkeit als Telefonistin. Umgeben vom geradezu paradiesischen Garten des Hauses, strebt doch ihr Sinn nur zu einem Ort: Moskau.

Moskau ist zum Projektionsort aller ihrer Sehnsüchte geworden. Immer wieder merken sie an, dass sie bald nach Moskau zurückkehren werden. Doch sie schaffen es nicht. Das Prinzip „Oblomow“ ist übermächtig. Und in diesem Fall ist das Oberhaupt der „Oblomowschen“ Versammlung Bruder Andrej, auf dessen Karriere als Wissenschaftler man gesetzt und von dem man sich erhofft hatte, dass er die Schwestern als Universitätsprofessor nach Moskau zurückbringen würde. Doch Andrej ist fett geworden, ist faul, spielsüchtig und frei von irgendwelchen Ambitionen. Und er ist auf der Flucht vor seiner dümmlichen, ordinären und unsensiblen Ehefrau Natascha, die er zu lieben vorgibt. Am Ende ist er zweifacher Vater und  Mitglied der Kreisverwaltung. Er schwört darauf, dass diese Aufgabe ihm zur Ehre gereicht und ihn ausfüllt.

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Barbara Melzl, Juliane Köhler, Thomas Lettow, Bijan Zamani, Markus Hering, Valerie Pachner, Hanna Scheibe

© Thomas Dashuber

 

Regisseurin Tina Lanik bezog sich bei ihrer Inszenierung auf den „Gärtner“ Tschechow, der sich für seine letzten Lebensjahre auf der Krim ein Haus mit Garten angeschafft hatte, diesen aber nicht wirklich zum Blühen brachte. Folglich reicherte Stefan Hageneier die Bühne mit zahlreichen und recht imposanten (Topf-)Bäumen an, die ein wahres Dickicht bildeten. Auf der Vorderbühne stapelten  sich Holzpaletten, Gartengeräte, Säcke mit Erde, auch ein eingefasstes Beet gab es. Alles das machte normale Gänge schier unmöglich und die Darsteller mussten permanent gebückt durch das Dickicht auf und ab gehen, Stufen erklimmen, balancieren und darauf achten, in keine Spalten zu treten oder hängen zu bleiben. Die banalste Interpretation des Gartens: Obgleich Sinnbild der Schönheit und des Lebens, spiegelt der Garten der Prosorows die geistige, (spieß-) bürgerliche Enge der menschlichen Existenz der Bewohner wider! erscheint doch zu allzu platt. Als reines „Paradies“ indes war er zu unfertig und sah zu sehr nach Arbeit aus.

Über die Lesart des Stückes durch Tina Lanik kann man auch nach der Premiere nur mutmaßen. Zumindest konfrontierte sie das Publikum mit keiner besonderen Sicht auf das Drama, das, wie alle Stücke von Tschechow, sowohl Elegien als auch Komödien sind. Doch Tschechow Dramen, in denen gestorben wird, in denen Menschen ihre Existenzen verlieren, in denen eine ganze Klasse dem Untergang geweiht ist, haben keine komischen Geschichten zum Inhalt, sondern komische Menschen. Und eben darin bestand die besondere Leistung des Dramatikers von Weltgeltung: Er schuf Personen, deren Untergang wir belächeln konnten, ohne sie zu verlachen. Und genau das fand in der Inszenierung von Tina Lanik nur sehr begrenzt statt. Es gab komische Momente, in denen gelacht wurde. Beispielsweise provozierte  Alfred Kleinheinz als schwachsinnig grinsender Ferapont Lachen: „1812 hat Moskau auch gebrannt. Lieber Gott! Da haben die Frazosen gestaunt.“

Die drei Schwestern Juliane Köhler (Olga), Hanna Scheibe (Mascha), Valerie Pachner (Irina) lieferten ihren Part ordentlich ab, ebenso wie Markus Hering als Oberst Werschinin. Dabei legte sich Hering auch körperlich ins Zeug, wohl spürend, dass da mehr zu machen wäre. Götz Schulte hatte es als Militärarzt Chebutykin, denn sein unbekümmerter Nihilismus in Bezug auf seine eigene Person war ebenso deutlich, wie die verklemmte Neigung zum Gutmenschen bei Thomas Lettows Tusenbach. Katrin Rövers Natascha hatte in ihrer Grobheit vornehmlich desillusionierende und kaum komische Züge.

Zwei Darstellern war es jedoch anzukreiden, dass ein Riss durch die ordentliche und artige Inszenierung ging, die sich keine Sekunde kürzer anfühlte als sie war, 2 Stunden und 45 Minuten. In diesem Riss wurde sichtbar, was verschenkt wurde und was eigentlich hätte stattfinden können – und sollen. Johannes Zirner gelang mit seinem Gymnasiallehrer Kulygin ein notwendiger Grad an Überzeichnung, der die Tschechowsche Komik nicht nur erahnen ließ, sondern sie auch freisetzte. Und was Zirner ein Gutteil gelang, führte Shenja Lacher als Andrej Prosorow exemplarisch vor. Lachers Habitus war so zwingend, dass er beinahe als Fremdkörper im pseudorealistischen Kosmos der sich emanzipierenden Schwestern wahrgenommen wurde.

Eine komische Elegie war es nicht und das wäre auch akzeptabel, wenn es denn überhaupt etwas Eindeutiges gewesen wäre. So spurlos, so unentschieden wie diese Inszenierung über die Bühne ging, hinterließ sie eine große Nüchternheit. Diese Nüchternheit ging denn auch über das Stück hinaus, wie Darstellerinn Hanna Scheibe in einem Interview mit der SZ bezüglich des Stückendes bekannte: „Es geht halt weiter. Ohne großen Ausschlag nach links oder rechts.“ Und Juliane Köhler ergänzte: „(…) Wir wollen keinen typischen Tschechow-Schluss à la: Oh Gott, wie geht's nur weiter? Alles ist ganz schrecklich! Wir sehen das Ende eher positiv.“ (SZ.de 24. Marz 2015) So optimistisch geriet es denn doch nicht, konnte es nicht geraten, denn der „Tschechow-Schluss“ steht geschrieben und ergibt sich einigermaßen logische aus der Geschichte.

 

Wolf Banitzki

 


Drei Schwestern

von Anton Tschechow

Shenja Lacher, Katrin Röver, Juliane Köhler, Hanna Scheibe, Valerie Pachner, Johannes Zirner, Markus Hering, Thomas Lettow, Bijan Zamani, Götz Schulte, Barbara Melzl, Alfred Kleinheinz

Regie Tina Lanik

Residenz Theater Ich Ich Ich  von Eugène Labiche


 

 

Unterhaltsam aber harmlos

Dutrécy hat es geschafft. Mit Mitte Fünfzig lebt er auf der Sonnenseite des Lebens, hegt mittels Hydrotherapie seine Gesundheit und pflegt die Inhaltslosigkeit seines egomanischen Lebens. Nur die Aussicht auf noch mehr Reichtum, für den man lediglich sein Geld arbeiten zu lassen braucht, kann ihn in Erregung versetzen. Als sich sein Geschäftsfreund De la Porcheraie auffällig nach einer Immobilie des  Dutrécy behandelnden Arztes Doktor Fourcinier erkundigt, wittert er Konkurrenz. Doch zwei so schamlose Spekulanten wie Dutrécy und Porcheraie finden schnell zueinander, bevor sie ein lukratives Geschäft durch übertriebenes Konkurrenzgebaren aufs Spiel setzen. Nebenher gibt es unliebsame Familienangelegenheiten zu überstehen: Der Bankier Fromental, ein ehemaliger Schulfreund Dutrécys, nebst verwitweter Tochter, Madame de Verrières, erbitten eine eheliche Verbindung zwischen  Fromentals Sohn Georges und Dutrécys Nichte Thérèse. Da die Mitgift einigermaßen annehmbar ist, sagt Dutrécy zu, hoffend, dass die unleidliche Geschichte so schnell wie möglich abgewickelt wird. In diesem Moment trifft  Dutrécys Neffe Armand ein. Auf einer Weltreise hatte Armand, wie das Leben so spielt, Georges Fromental das Leben gerettet. Nun tut sich ein (gar nicht so) überraschender Konflikt auf, denn beide, Georges und Armand, sind in Thérèse verliebt. Nach deren Eintreffen aus dem Internat und dem Ausbruch des Konflikts sieht Dutrécy, der dem Mädchen bislang eher gleichgültig gegenüberstand, die Möglichkeit, mit diesem fügsamen, weiblichen Wesen seinem Leben eine weitere angenehme Komponente hinzu zu fügen. Natürlich geht dieser Wunsch nicht auf, denn ein bisschen (bürgerliche) Moral muss schon sein.

Bei näherer Betrachtung des Stückes stellt man schnell fest, dass die von Eugène Labiche beschriebene Welt sich bis auf den heutigen Tag nur um sich selbst gedreht hat und ein Fortschritt nicht auszumachen ist. Geld regiert diese Welt noch immer und unterwirft sich die Gefühle. Geld gebiert Geld, eine gewaltige, inzwischen weltweite Ausbeutung schamlos verschleiernd. Kapitalismus bedeutet, und das kann man schon bei den frühen Apologeten des Liberalismus nachlesen: Es gibt keinen Reichtum ohne Armut! Jeder Reichtum schafft ein erkleckliches Maß Armut. Dabei ist Reichtum auch und vor allem eine Ausdrucksform von Egoismus, im fortgeschrittenen Stadium sogar von Egomanie. „Ich, ich, ich!“ – Willkommen in der Realität.

Zu Labiches Zeiten, das Stück stammt aus dem Jahr 1864, explodierte in der bürgerlichen Welt die Gier nach großen Vermögen. Das alte Paris fiel den ehrgeizigen Plänen des Präfekten des französischen Départements Seine und Stadtplaner Georges-Eugène Baron Haussmann zum Opfer. Unter seiner Ägide entstanden ca. 150 Kilometer neue Straßen, die das heutige großbürgerliche Stadtbild von Paris noch heute prägen. Das neue bürgerliche Selbstbewusstsein spiegelte sich auch in repräsentativen Theaterbauten, die bis heute als Flaggschiffe der Kultur in den europäischen Hauptstädten existieren. Nebenher wurden bei diesem Umbau gewaltige Vermögen gemacht. Bis 1871 schien diese Welt des Barons Haussmann unerschütterlich. Dann war die permanent vom Reichtum produzierte Armut unerträglich und die Pariser Kommune erhob sich. Doch bis dahin blieben die brisanten Themen nur wohlfeile Sujets für Unterhaltungstheater, die elementare Sprengkraft der innewohnenden Konflikte banalisierend.

  ICH-ICH-ICH  
 

Oliver Nägele, Markus Hering, Johannes Zirner, Thomas Gräßle

© Andreas Pohlmann

 

Martin Kušej brachte diese Salonkomödie in Zusammenarbeit mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen auf die Bühne des Residenztheaters. Annette Murschetz entwarf ihm dafür ein Bühnenbild, das sich von der Ästhetik des bürgerlichen Wohnzimmer-Theaters, wie sie zu Labiches Zeiten allgegenwärtig war, deutlich unterschied. Zwei weiträumige, helle Halbrondelle, eins mit einem umlaufenden weißen Vorhang, das andere mit einer totalen Verspiegelung ausgestattet, verzichteten beinahe gänzlich auf Mobiliar oder Kulissen. Da das Stück auch keine Sprechkulissen enthält, verblieb das Spiel im undefinierten und verallgemeinerbaren Raum. Kušejs Inszenierung zeichnete sich durch ästhetische Eleganz, nicht nur dank der Kostüme von  Heide Kastler, sondern auch wegen der geradezu aristokratischen Spielweise einiger Darsteller, aus, was durchaus wohltuend war. In Zeiten von Formlosigkeit kommen Erinnerungen auf an Zeiten, die perdu sind und die ihre Qualitäten hatten.

Die Rolle des Dutrécy war für Markus Hering maßgeschneidert. Er überzeugte mit vitaler Komödiantik und entblätterte die Figur bis auf die letzte egomanische Verschrobenheit. Ähnlich komödiantisch agierte Oliver Nägele als Geschäftsfreund De la Porcheraie. Der füllige Darsteller war anfangs ein monetärer Fels im trüben Gewässer der Spekulation, stimmgewaltig und verbissen, am Ende jedoch ein bedauernswertes, heulendes Häufchen Elend, nachdem ihm seine Ehefrau mit Hilfe des Bürgerlichen Gesetzbuches eine schmerzhafte Kandare angelegt hatte. Zwischen den beiden Intriganten posierte Götz Schulte eloquent als Doktor Fourcinier, der recht naiv in die Falle tappte, sich letztlich aber nicht balbieren ließ. Johannes Zirners Armand und Thomas Lettows Georges waren aus ein und demselben Holz geschnitzt. Labiches Theater jonglierte mit Prototypen und formaler Symmetrie, so dass die jungen Liebenden mit wenig unterschiedlichen Charaktereigenschaften ausgestattet waren. Das traf bis zu einem gewissen Grad auch auf Madame de Verrières, durchaus erotisch anziehend von Katharina Pichler gegeben, und auf Nora Buzalkas Thérèse zu. Letztere warf ihre weiblichen Reize eher zurückhaltend in die Waagschale. Das war vermutlich ihrem jahrelangen Internatsaufenthalt und einer daraus resultieren mädchenhaften Unbedarftheit geschuldet.

Es war ein unterhaltsamer Abend (2. Vorstellung) für ein Publikum, das sich als dankbar erwies. Allerdings war die Inszenierung deutlich zu artig, so dass das Publikum nicht einmal ansatzweise über die sozialen Verwerfungen stolperte, die durchaus hinter dem Salonstück stehen oder gesehen werden können. Die menschlichen Charaktere der Individuen verdeckten den Charakter der Gesellschaft und die brillante Komödiantik der Darsteller verstellte den Blick auf die Dimensionalität der Realität. Personifiziert wurden die sozialen Widersprüche immerhin durch die Figur des Dieners Aubin. Thomas Gräßle brachte eine verzweifelte und gepeinigte Figur auf die Bühne, der von der „Herrschaft“ nie Gehör und keine Beachtung geschenkt wurde und der, als er schließlich verbittert seinen Abschied nahm, auch nur eine Lachnummer war, wenngleich eine gute.

Es stellt sich die Frage, warum dieses Stück, das wie kaum ein anderes Stück im Repertoire der Münchener Theater, bürgerliches Amüsiertheater vorstellt, hier und heute gemacht wird. Das Programmheft war da deutlich ambitionierter verfasst, verwies auf die Hintergründe und auch auf die Aktualität. In Martin Kušej Inszenierung war wenig davon umgesetzt oder zu spüren. Hier wäre die Radikalität angebracht gewesen, die er dem „Faust“ angedeihen ließ. Immerhin geht es um eine (a-)soziale Bevölkerungsschicht, die unmenschliches Elend erzeugt und sich in ihrer psycho-pathologischen und dekadenten Veranlagung permanent selbst demontiert. Hier hätte man durchaus ein wenig nachhelfen können. So blieb es weitestgehend die von Eugène Labiche geschriebene Salon-Komödie, unterhaltsam aber harmlos.

 

Wolf Banitzki

 


Ich Ich Ich

von Eugène Labiche

Markus Hering, Johannes Zirner, Nora Buzalka, Thomas Gräßle, Oliver Nägele, Götz Schulte, Wolfram Rupperti, Thomas Lettow, Katharina Pichler

Regie: Martin Kušej

Residenz Theater Torquato Tasso von Johann Wolfgang Goethe


 

 

Tasso - Scheitern auf hohem Niveau

„Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.“ Mit diesen Worten qualifizierte Johann Wolfgang von Goethe „Torquato Tasso“ als sein vielleicht persönlichstes Theaterstück. Tatsächlich befand sich der Dichter in einem weltanschaulichen Dilemma. Obgleich er doch aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung viele Privilegien und Freiheiten genoss, sah er seine Ansprüche an eine freie menschliche und bürgerliche Existenz unerfüllt. Als Verleger Göschen ihm 1786 eine Gesamtausgabe vorschlug, erkannte der Dichter, dass er in den vorangegangenen zehn Jahren kein nennenswertes Werk fertiggestellt hatte. Zu viele Kompromisse war er in dem Dezennium als Weimarer Minister (1775 – 1786) eingegangen. Als er sich dessen schmerzhaft bewusst wurde, reichte er, im Zenit seiner Amtskarriere stehend, unbefristeten Urlaub ein, um sich nach Karlsbad zur Kur zu begeben. Doch sein eigentliches Reiseziel, das er streng geheim hielt, war Rom. Knapp zwei Jahre dauerte die Reise, die er gelegentlich als „Wiedergeburt“ bezeichnete. In dieser Zeit vollendete er auch sein Schauspiel „Torquato Tasso“, das er bereits um 1780/81 begonnen hatte.

Um seinen Konflikt literarisch austragen zu können, bediente sich Goethe der Figur des Renaissancedichters Torquato Tasso, der mit seinem Epos “Das befreite Jerusalem“ seinerzeit großes Ansehen erlangt. Die moderne Wissenschaft ist sich übrigens weitestgehend darin einig, dass der historische Tasso unter einer Schizophrenie litt, die ihn zu einem sehr schwierigen Zeitgenossen machte. Als Gegenspieler schuf Goethe die Figur des Staatssekretärs Antonio Montecatino. Im Gegensatz dieser beiden Figuren spiegelt Goethe seine eigene Zerrissenheit: einerseits der pragmatisch dienende Staatsmann, andererseits der genialische, nach Entgrenzung strebenden Künstler.

Goethes Schauspiel beginnt mit der Überreichung des langersehnten Werkes “Das befreite Jerusalem“ in die Hände Alfons II., Herzog von Ferrara. Leonore von Este, die Schwester des Herzogs, krönt Tasso mit dem Lorbeer. Doch dann kehrt Antonio, Staatssekretär des Herzogs, von seiner Mission aus Rom zurück. Über Tassos Lorbeer, Ausdruck seiner überragenden Person, geraten beide in Streit und Tasso zieht gegen den Staatsmann seinen Degen. Der Herzog lässt den Dichter unter Arrest stellen, tadelt aber gleichsam den welterfahrenen Antonio, der sich zu seiner Schuld, Tasso über Gebühr gereizt zu haben, bekennt. Tasso hegt Groll und Misstrauen gegen jedermann. Leonore Sanvitale, die Gräfin von Scandiano, eine Freundin des Hauses, möchte Tasso gern mit sich an den Hof von Florenz nehmen und vermittelt. Der Herzog verzeiht und es kommt zum Friedenschluss. Doch als Tasso den Ort verlassen will, überkommt ihn heftig das Gefühl der Zuneigung zu Leonore von Este und er umarmt sie. Dieser Etikettenbruch besiegelt das Schicksal des Dichters. Er ist jetzt ein Ausgestoßener. Selbst sein Werk wird ihm noch genommen, denn es gehört dem, der dafür gezahlt hat. Zuletzt bleibt ihm nur noch sein Wort: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.“

  Tasso  
 

Sibylle Canonica, (Projektion) Valery Tscheplanowa

© Matthias Horn

 

Es ist ein antagonistischer, einunlösbarer Konflikt, denn beider Männer Anspruch war durchaus rechtens. Doch einer musste auf der Strecke bleiben: Tasso. Die Gräfin Sanvitale bringt es auf den Punkt: „Zwei Männer sind's, ich hab' es lang' gefühlt, / Die darum Feinde sind, weil die Natur / Nicht einen Mann aus ihnen beiden formte.“ Goethes Pessimismus ist und bleibt von Dauer. Zehn Jahre nach der Weimarer Uraufführung im Jahr 1807 schrieb er an Sulpiz Boizzereé den Satz: „(…), denn leben heißt doch eigentlich nicht viel mehr als viele überleben.“ Tasso lässt Goethe zuletzt die Worte sagen: „So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.“ Dieser Felsen ist Antonio.

Philipp Preuss, er besorgte die Einrichtung am Münchner Residenztheater, ist gleichsam Autor und bildender Künstler. Da lag der Schluss nahe, dass der Besucher mit Überraschungen zu rechnen hatte. Eine war das Bühnenbild von Ramallah Aubrecht, das die Fortsetzung des Zuschauerraums, inklusive Balkon, bedeutete. Es handelte sich also, zumindest bis kurz vor dem Ende, um Theater im wörtlichen Sinn. Auf dem Balkon über der Bühne hatte Alfons II. Platz genommen. Er wurde dargestellt von einem 15köpfigen Chor. Ein Stuhl wurde ins Zentrum der Bühne gestellt und Leonore von Este, kraftvoll und majestätisch zugleich von Sibylle Canonica gestaltet, dialogisierte gemeinsam mit Nora Buzalka, die eine selbstbewusste und sehr anziehend-frauliche Leonore Sanvitale gestaltete, über Tasso, seine Verdienste und auch über seine männliche Erscheinung. Die Szene wurde wiederholt und als es schließlich zur Bekränzung Tassos kam, verstand der Zuschauer, dass es sich um Proben zu einer Award-Verleihung handelte. Dann regnete es Flitter aus dem Bühnenboden und Valery Tscheplanowas sensibel-fragiler Torquato Tasso, höchst irritiert von dieser Ehrung, bat: „O nehmt ihn weg von meinem Haupte wieder, / Nehmt ihn hinweg! Er sengt mir meine Locken!“

Mit dem Auftritt Norman Hackers als Antonio Montecatino wandelten sich Tassos Ansichten über die äußeren Insignien des Ruhms schnell, die er nun verteidigte. Der Streit eskalierte und ehe Antonio sich recht besinnen konnte, war er blutüberströmt. Unterschiedlicher konnten die Gegner kaum angelegt sein. Valery Tscheplanowas Tasso focht hysterisch mit starken und vor allem großen Worten. Sie zeigte dabei durchaus außer Kontrolle geratene pathologische Züge, wie sie dem historische Tasso im Gegensatz zu Goethes Figur wohl eigen waren. Norman Hacker hingegen reagiert kühl, überlegt und pointiert. Dabei ließ er es an einer beträchtlichen Portion Zynismus und auch Verachtung nicht fehlen. Die Erregungskurve der Inszenierung stieg stetig an und die Texte Tassos wurden zunehmend Opfer der Raserei, die immer wieder aufflackerte, weil Tasso jedem und allem misstraute. Der Kampf fand immer weniger auf der Szene und zunehmend im Geist Tassos statt. Irgendwann wurde deutlich, dass Tasso keinen Ausweg finden würde und scheitern musste. In diesem Augenblick wurde das Bühnenbild demontiert und abtransportiert. Das Lustschloss Belriguarda, Ort der Handlung, löste sich auf und die Realität wurde kalt und technisch sichtbar.

Philipp Preuss´ Konzept war wohldurchdacht, intelligent und schlüssig. Die Bilder waren klar, schön und groß. Die Inszenierung hatte unbedingt alle Voraussetzungen, ein großer Erfolg zu werden. Doch als das Licht verlosch, war der Applaus (3. Vorstellung) artig und mäßig. Das Publikum war schlichtweg überfordert. Die komplizierte, metaphorisch aufgeladene und durchaus gestelzte Sprache Goethes entzog sich allzu oft dem Verständnis durch mangelnde Akustik und extremen Tempo. Es war zu schwierig, einen Einstieg in die sehr emotionale Handlung zu finden und so stellte sich kaum ein eindeutiger Kontext her. Nur bei bester Kenntnis des Werks war es möglich, Bilder sofort zu entschlüsseln und Ideen zuzuordnen. In solchen Situationen steigt der Betrachter schließlich aus und wartet auf das Stichwort, das ihm den Wiedereinstieg ermöglicht.

Momentan wird der Münchner Theatergänger nicht selten mit Inszenierungen konfrontiert, die zwischen drei und viereinhalb Stunden dauern. Das artet auch schon mal in harte Arbeit aus. Für die Inszenierung von „Torquato Tasso“ hätte sich Philipp Preuss mehr Zeit genehmigen sollen. Hier wäre mehr auch mehr gewesen, denn bei einer Theaterarbeit, die nicht zu fesseln vermag, weil der Zuschauer immer wieder hinauskatapultiert wird, können zwei Stunden länger sein als drei.

 

Wolf Banitzki

 


Torquato Tasso

von Johann Wolfgang Goethe

Sibylle Canonica, Nora Buzalka, Valery Tscheplanowa, Norman Hacker, Chor

Regie: Philipp Preuss

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