Residenztheater Die Schneekönigin nach H. C. Andersen


 

 

Bühnenzauber

Die Welt war stehengeblieben! Die Drehbühne des Residenztheaters folgte ihre Aufgabe nicht und einige Bühnenarbeiter tummelten sich um den Motor. Längst sollte die Vorstellung begonnen haben und das Publikum harrte still und brav des Beginns. Doch die Bretter, die die Welt bedeuten standen still. Im Hintergrund wurde gestikuliert, eifrig in ein Loch gestarrt. Da traten Edi und Josef in Arbeitshosen an die Rampe und erklärten das Dilemma, hielten die Zuschauer mit Anekdoten hin, mit Schnee von gestern.

Ein Märchen? Nein, es war der Beginn des Bühnenstücks „Die Schneekönigin“ in der Fassung des russischen Dramatikers Jewgeni L. Schwarz unter der Regie des Schweizers Samuel Weiss. Wie überhaupt das Zusammenwirken unterschiedlichster Ideen und Talente das Geschehen gestaltete. Oder war es eine Ansicht der Realtität, welche diesem Märchenbild zugrunde gelegt war? Kein Märchen.

Hans Christian Andersens kunstvolles Märchen erzählt die Geschichte der beiden Kinder Gerda und Kai, deren Begegnung mit der Schneekönigin, die mit ihrem Kuss dem jungen Kai das Herz gefrieren lässt. Und schon ist dieser in der eisigen Ewigkeit der bloßen Vernunft gefangen. Mit Innigkeit und Herzensgüte, die verbunden mit feinem Spott erhellend wirken, führt es weiter durch die Abenteuer des Lebens, bis zu der Erfahrung, dass nur die Liebe, die alles umfassende Liebe Zufriedenheit aufkommen lässt und befreit. Damit es bis zum himmlischen Zustand nicht langweilig wird, hält der Teufel den Menschen einen übergroßen Spiegel vor. Dieser wirft das Bild der Launen auf die Betrachter zurück. Eines Tages zerbrach der Spiegel und die Scherben finden sich über die Welt verstreut, reflektieren, bunt und willkürlich.

Ein Märchen? Der Kommerzienrat biss vom Pferdeapfel, er frißt einfach alles auf, was sich vermarkten lässt. Er wollte die Rose kaufen, die Rose die auch im Winter blüht. Die Rose, die die Großmutter und die Kinder pflegten und die deren Zuwendung und Aufmerksamkeit mit Blüten dankte. Die Großmutter verkaufte nicht, der Kommerzienrat holte die Schneekönigin zu Hilfe. Er ist der Überzeugung: „Der einzige Freund ist das Geld.“  Kein Märchen.

Ein Märchen. Die Schneekönigin im glamourösen Glitzerkleid schwebte auf die Bühne. Der Countertenor verzauberte durch seine Stimme und seine Erscheinung funkelte, blendete im Lichte der Scheinwerfer gleich einem Weltstar die Augen der Fans. Auch sein Kuss, der Kuss der Schneekönigin ließ das Herz des Jungen zu Eis gefrieren. Kein Märchen.

Die Figuren agierten in aktuellen Rollenbildern unter dem Motto: Erlaubt ist, was Spaß macht. Man feiert sich selbst und eine Prinzessin darf alles, alles tun wozu die Laune sie anhält. Die Bühnenprinzessin wollte heiraten und sie wählte von allen Freiern den frechsten und redseligsten, um sich gemeinsam in ihren Spieltrieben zu ergötzen. Da wurde durch die Mitte des Palastes eine Gemarkung gezogen, eine Seite für die Prinzessin und ihren Jungen, die andere Seite für den König. Es wurde getrennt in die alte und die neue Welt, die Welt für die Alten und Jungen, die Welt für die ... Eine Alarmanlage wachte über die Einhaltung der Grenzen.

Ein Märchen? „Ein König hat das Recht hinterlistig zu sein.“ (nimmt sich das Recht hinterlistig zu sein. anm. CMM) Der Kommerzienrat lieh dem König Geld, damit dieser seiner Sucht nach Speiseeis nachgeben konnte. Für Speiseeis tut der König alles. Und wohl jeder, der sich König wähnt in seinem Reich, frönt mitunter maßlos seinen Eigenheiten. Kein Märchen.

Im finsteren Märchenwald hauste die Räuberhauptmännin: „Ich liebe Kinder, vor allem wenn sie gut durchgebraten sind.“, sprach‘s und biss von einem Hühnerbein. Ihre Tochter übertraf die Mutter in Eigensinn und Rücksichtslosigkeit und folgte schließlich dem lieben Mädchen. Nur böse zu sein, ist auf die Dauer genauso langweilig, wie nur gut zu sein. Allein diese Haltung trennt die Menschheit in zwei Lager, spaltet das Gewissen des Einzelnen und verfremdet ihn von seiner Vollkommenheit. Kein Märchen.

Zwei Schräge Vögel verfolgten die Geschichte, folgten dem Mädchen mit dem heißen Herzen durch ihre Abenteuer, ihre Erfahrungen. Die Raben, wie Edi und Josef, kommentierten als moderne Entertainer: Unterhaltung über alles. Und, damit dieses Alles auch seine scheinbare Ordnung hat, lag die Moral von der Geschichte im letzten Kuss der Schneekönigin.

Ein Märchen! Deutlich erlebbar war, dass die Schauspieler mit erkennbarem Spaß in ihren Rollen agierten und erheiternde fantastisch ironische Atmosphäre verbreiteten. „Wenn die Kinder singen, blühen die Rosen ...“ Wundersamer Bühnenzauber wurde ausgebreitet, wie im echten Märchen für kleine und große Kinder, Kinder.  

 

C.M.Meier



 


Die Schneekönigin
nach Hans Christian Andersen

Bühnenfassung von Jewgeni L. Schwarz
Deutsch von Gerda Zschiedrich

 

David Cordier, Alfred Kleinheinz, Arthur Klemt, Valerie Pachner, Sierk Radzei, Christiane Rossbach, Arnulf Schumacher, Marie Seiser, Paul Wolff-Plottegg

Regie: Samuel Weiss

Residenz Theater Reise ans Ende der Nacht nach Louis-Ferdinand Céline


Man kann einfach nicht wegschauen

Louis-Ferdinand Céline ist einer der umstrittensten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Sein Romanerstling „Reise ans Ende der Nacht“ schlug in Europa ein wie eine Bombe. Er selbst hielt sich für den bedeutendsten Dichter des Jahrhunderts und hatte keine Scheu, dies der Welt auch kundzutun. Er hielt sich allerdings auch für den fürchterlichsten Mistkerl, eine Koketterie, die er ebenfalls vor sich hertrug wie eine Standarte: „... der bescheidene Erfolg meines Lebens besteht darin, daß ich immerhin das Kunststück fertiggebracht habe, unter allen, der Rechten, der Linken, dem Zentrum, den Sakristeien, Logen, Zellen, Leichenhaufen, dem Grafen von Paris, Joséphine, meiner Tante Odile, Krukrubezeff, dem Pfarrer Groschengrab, für einen Augenblick Einigkeit darüber herzustellen, daß ich das größte lebende Dreckschwein bin!“ (Nord, 1960) Das Urteil der Welt fällt allerdings anders aus. Sie nennt ihn Rassist, Kollaborateur, Faschist und vor allem Antisemit. Interessant ist hingegen, dass Céline tatsächlich radikaler Pazifist und selbsternannter Anarchist mit deutlicher Neigung zum Kommunismus war. Erst ein Besuch der Sowjetunion 1936 brachte ihn von diesem ideologischen Pfad ab.

Wenn er sich einen Superlativ redlich verdient hat, dann wohl den, der größte Wirrkopf mit immensem literarischem Talent gewesen zu sein. Nach dem Krieg, er wartete in Dänemark ab, bis die Verfolgung der Kollaborateure eingestellt wurde, kehrte er nach Frankreich zurück, um sich bis zu seinem Ende als Opfer zu gerieren. Selbstkritik? Fehlanzeige!
„Reise ans Ende der Nacht“ ist ein monströser Roman voller Hass und Verachtung gegen die Welt und voller Verzweiflung und Angst vor Krieg. Céline mischte literarische Hochsprache mit Argot und dem rohen Soziolekt der Pariser Vororte. „Er ist ein primärer Spucker und Kotzer. Er hat ein interessantes elementares Bedürfnis, auf jeder Seite, die er verfaßt, mindestens einmal je Scheiße, Pisse, Hure, Kotzen zu sagen. …“ So Gottfried Benn im Jahr 1938. Auf den Erstling trifft das in gleichem Maße zu. Zu welcher Verwirrung auch großer Geister Célines Text „Bagatelles pour un massacre“ über die Judenverschwörung in Frankreich führten, belegt eine Aussage von André Gides, der meinte, dass Célines schriftstellerisches Wüten eine gewaltige Satire auf das zeitgenössische antisemitische Schrifttum sei. Sollte das Ganze allerdings kein Witz sein, wäre Céline, nach Gides Meinung, vollkommen verrückt. Letzteres kommt der Wahrheit sicherlich näher.

In „Reise ans Ende der Nacht“ erzählt Céline selbstverliebt und auf perfide Weise heroisierend seine eigene Geschichte, die mit dem Ersten Weltkrieg begann. Ferdinand Bardamu, so der Protagonist, wird verwundet und in eine psychiatrische Anstalt gesteckt. Er flüchtet nach Afrika und wird als Gefangener auf einer Galeere nach Amerika transportiert. Dort flieht er wiederum, gelangt nach einem Aufenthalt in New York nach Detroit, wo er bei Ford am Fließband arbeitet. Schließlich kommt er nach Paris zurück, um in der Vorstadt als Armenarzt tätig zu sein. Seit seiner Verletzung im Krieg hat er einen Doppelgänger: Robinson. Dieser Mann ist die Personifizierung seiner Angst, sein Wahn. Ferdinand Bardamu begegnet Menschen, die, wie er selbst, keinen Halt im Leben finden und Ausgestoßene sind. Celines Gestalten sind die ewigen Vorstadtbewohner der Geschichte: Soldaten, Huren und Irre.

 

  ReiseansEndederNacht  
 

Ensemble

© Matthias Horn

 

Castorfs Affinität zu den Außenseitern der Gesellschaft, deren Verkörperungen den Sinn von Zivilisation infrage stellen und den gängigen Wertesystemen den Boden unter den Füßen wegziehen, ist unübersehbar. Die Hinwendung zu diesen Themen, dazu gehören auch „Nord“ von Céline oder „Kokain“ von Pitigrilli, implizieren zugleich immer auch den Skandal. Dass Castorf nicht auf Skandal aus ist, beweist eigentlich sein gesamtes Werk, welches im Pommerschen Städtchen Anklam zu DDR-Zeiten seinen Anfang nahm, wo seine Proben von der Polizei geräumt wurden, weil ihm seine Berliner Fans nachreisten, und wo er mit den Kulturbehörden im Dauerclinch lag, bis zur aktuellen Inszenierung im Residenztheater. Dass sich der Skandal häufig nicht verhindern ließ, war Ausdruck seiner Standhaftigkeit in künstlerischen Dingen.

Die Geschichte hat ihm bisher Recht gegeben, denn Castorf gehört zu den erfolgreichsten seiner Zunft, der sich, im Gegensatz zu einigen anderen Zeitgenossen, nicht in Ästhetik suhlt, sondern „Stolpersteine“ in die Welt stellt. Dabei bedient er sich natürlich einer ausgefeilten Ästhetik, was kein Widerspruch ist. Castorf ist ein erklärter Gegner des bürgerlichen Amüsiertheaters, wenngleich er häufig in hohem Maße amüsiert. Allein, er will Menschen auf der Bühne. Und damit die Darsteller wieder zu Menschen werden, befreit er sie aus den „Zwängen der Schauspielkunst“. Verständlich wird diese These durch eine Aussage von Nicholas Ofczarek im Zusammenhang seiner Darstellung des Kasimir. In dem Horváth-Stück zwang Castorf den Schauspieler zu Bühnenumbauten, die ihm schier übermenschliche Kraftanstrengungen abverlangten. Durch diese physisch schwere Arbeit unterblieb Gestaltung weitestgehend und der Mensch Ofczarek trat an die Oberfläche, was seine Wirkung nicht verfehlte.

Zugegeben, die Schauspieler kommen dabei nicht immer gut weg, denn mit ihren künstlerischen Eigenarten nimmt Castorf ihnen auch häufig ihre darstellerische Individualität. Das ist legitim, wenn das Ergebnis stimmt. Und eben an diesem Punkt gehen die Meinungen der Zuschauer häufig auseinander. Das bedeutet polarisieren, was allerdings die Auseinandersetzung intensiviert. Was sollte grundsätzlich schlecht daran sein, wenn Theater aufregt. Nicht selten, und das trifft in hohem Maße auch für „Reise ans Ende der Nacht“ zu, treibt Castorf seine Schauspieler berserkerhaft durch die Szenen, häufig bis an die Grenzen der Atemlosigkeit und damit auch an die Grenzen der Verständlichkeit. Aber er schafft damit Wahrhaftigkeit, Authentizität.

Die Bühne von Aleksandar Denić war ein gewaltiger Verhau aus Autowrack, ineinander verschachtelte Hütten, Veranden, Kaninchenställe mit Aufbauten, Fernsehantenne, Ventilator, Zigarettenautomat, Teppiche, Kissen, Hausrat, Sonnenschirm, Autoreifen, Stapel von Konservendosen und skurrile Elementen wie Gaslaternen, Plakate faschistischen oder kolonialen Inhalts oder ein kleiner Elefant auf einem Hüttendach. Auch ein Porträtfoto von Céline war zu sehen. Es hing bezeichnenderweise über dem Medikamentenschrank. Céline war Arzt und verstand sich als Hygieniker. Darüber, wie eine riesige Werbefläche, eine Projektionsfläche für Videos. Zwei Kameraleute (Marius Winterstein und Jaromir Zezula) übertrugen viele der Vorgänge, die im Innern der Räume abliefen und für die Zuschauer unsichtbar blieben, auf die Videowand. Es wurden allerdings auch vorgefertigte Filme eingespielt, seltsam verfremdet und existenzialistisch grau (Stefan Muhle). Vier und eine Viertel Stunde (2. Vorstellung) dauerte die Hatz um Sinnsuche, Ausweglosigkeit, Bindungsangst und allerlei andere Verwerfungen der Seelenlandschaften. Dabei fiel eine Szene wegen technischer Probleme aus, doch das irritierte die Schauspieler nicht sonderlich. So wurde in ein, zwei Sätzen nebenbei erzählt, was der Zuschauer nicht gesehen hatte.

Castorf reizte jede Szene bis zum Äußersten aus, ließ die Frage nach Liebe, von emotionalen Ausbrüchen begleitet, endlos wiederholen, um dann die lakonische Antwort in den Raum fallen zu lassen: „Nein.“ Es war ein nihilistisches Stück Theater, das alles ins Bewusstsein rief, außer Optimismus, schon gar keinen Geschichtsoptimismus. Dabei lud der Regisseur beinahe jede Szene mit Anspielungen und Zitaten auf, mit denen der Zuschauer selten etwas anzufangen wusste, weil es eine Geschichte voraussetzt. Beispielweise „Kongo-Müller“, der Titel einer Dokumentation von zwei DDR-Journalisten, die einen Legionär namens Müller bei einer Flasche Whiskey dazu brachten, die perversesten Verbrechen zu beichten. Diese Sendung erschütterte ein Land.

So monströs wie das Buch von Céline ist, so monströs gestaltete Frank Castorf seine Inszenierung. Er verlangte seinen Darsteller sehr viel ab, ließ ihnen aber auch die Freiheit, sich als solche, als Darsteller zu outen, wenn es zu Brüchen im Text kam. Und es kam zu vielen Brüchen. Dann durfte schon mal die Frage gestellt werden: „Wie komme ich jetzt hier raus?“ Gemeint war die Szene. „Kostümwechsel!“ Und weiter ging es. Da wurde gelitten, verzweifelt um Liebe gebuhlt, Genitalien nach Krankheiten untersucht, Eier gebraten, viel geraucht usw. Die wichtigste Anleihe nahm Castorf bei Heiner Müller. „Der Auftrag“ handelt davon, dass drei französische Deputierte in Jamaika einen Sklavenaufstand initiieren sollen, um die Revolution zu exportieren. Noch ehe sie ihren Auftrag erfüllen konnten, übernahm Napoleon die Macht. Die Regierung, die ihnen den Auftrag erteilte, existierte nicht mehr: „Die Welt wird was sie war, eine Heimat für Herren und Sklaven. (…) Ich entlasse uns aus unserm Auftrag.“ Castorf ließ die Auszüge als Blues von Aurel Manthei und Fatima Dramé singen. Das war eine wirklich bewegende Szene.

Ferdinand Bardamu wurde sowohl von Bibiana Beglau als auch von Franz Pätzold gespielt. Franz Pätzold gestaltete ebenso wie Aurel Manthei den Doppelgänger von Ferdinand, den Léon Robinson. Im Gestus unterschieden sich die Darsteller kaum, denn Castorf zwang sie zu einem geradezu hysterischen Abspulen der Texte, die von platt-banal über zotig-derb bis hin zu kunstvoll-poetisch reichten.  Gerade die Rollenwechsel machten es für den Zuschauer nicht einfacher, die Übersicht zu behalten. Doch die Geschichte ist unterm Strich betrachtet ziemlich geradlinig und einen wirklichen Plot hat sie auch nicht. So sollte man sich besser auf die Sprache und auf die daraus resultierenden Assoziationen konzentrieren. Da wird ein ganzes Universum geboten.

Die Rezeption der Inszenierungen Frank Castorfs ist harte Arbeit. Er schenkt dem Zuschauer nichts und er nimmt keine Rücksichten. Man mag darüber streiten, ob vier und eine halbe Stunde angemessen sind. Der Regisseur würde meinen: „Unbedingt!“ Es ist seine Vision, der man folgen mag oder nicht. Castorfs Theater ist jedes Mal eine Schlacht und in einer Schlacht gibt es Opfer. So waren auch an diesem Abend die Reihen nach der Pause gelichtet. Die, die ausharrten, waren der Spannung erlegen und honorierten die Arbeit mit lebhaftem Applaus und Bravos. Ein wenig ist Castorfs Theater auch wie ein Unfall auf der Autobahn. Die Leichen liegen verstreut, Blut allenthalben und viel Entsetzliches, doch man kann einfach nicht wegschauen.

Wolf Banitzki

 


Reise ans Ende der Nacht

nach Louis-Ferdinand Céline

Götz Argus, Bibiana Beglau, Britta Hammelstein, Aurel Manthei, Franz Pätzold, Katharina Pichler, Michaela Steiger, Jürgen Stössinger, Fatima Dramé

Regie: Frank Castorf

Residenztheater Orest von John von Düffel nach Sophokles, Aischylos, Euripides


 

 

Nach der Tat ist vor der Tat

Orest, Sohn des Agamemnon und der Klytaimnestra, erfährt am Ende seines Leidensweges Gnade vor den Menschen und den Göttern. Es steckt immerhin soviel Vernunft in den griechischen Mythen, dass der letzte Atride nicht einer Endlosschleife von Gewalt und Exzess geopfert wird. Die totale Auslöschung machte auch im Verständnis von Schicksalhaftigkeit keinen Sinn. Es war Athene, die letztlich mit ihrem Stimmstein zugunsten von Orest die Spirale der Gewalt aufhält, und somit eine menschliche Rechtsprechung ermöglicht, die sich über das Blutrecht erhebt. Dieses Blutrecht verlangte den Akteuren immer wieder grausame Morde ab. Klytaimnestra tötete ihren Ehemann Agamemnon, weil dieser die gemeinsame Tochter Iphigenie für günstigen Wind auf dem Feldzug gegen Troja geopfert hatte. Elektra forderte, unterstützt von Apollon, dass der Bruder Orest die Bluttat an dem Vater räche. Orest erschlägt die Mutter und deren Geliebten Aigisthos, der sich in das Bett und auf den Thron Agamemnons gemordet hatte. Gattenmord steht gegen Muttermord. Jeder hat seinen „guten“, weil göttlichen Grund und ein Ende ist nicht abzusehen, denn die Erinnyen fordern nun das Blut des jungen Mannes, dessen einzige Bestimmung diese Bluttat selbst zu sein schien. Nach der Tat ist vor der Tat. Was alle Beteiligten jedoch nicht wussten: Iphigenie war nicht tot. Sie lebte in Tauris im hohen Rang einer Priesterin.

John von Düffel hat sich für sein Drama bei den drei großen des 5. Jahrhunderts v.Ch. bedient: Aischylos (Die Orestie, 2. Teil: Das Totenopfer), Sophokles (Elektra) und Euripides (Orestes). Im Grunde wird bei von Düffel die Geschichte in den ersten beiden Teilen ähnlich, also mit demselben Ausgang erzählt, wie sie Stammvater Aischylos niedergelegt hatte und deren Dramaturgie auch der „Staatsdichter“ Sophokles mit archaischer Wucht und ohne kritische Brechung folgte. Das Schicksalhafte agierte dabei wie eine dämonische Urmacht über die Köpfe der Menschen hinweg. Den großen Bruch in diesem Denken vollzog Euripides, der das Theater vom kultischen abkoppelte und zu Göttern und Staat auf Abstand ging. Ein wesentlicher Effekt war die Beförderung der Kunst, weil diese aus den Fesseln des Kultes herausgelöst wurde. Rapsoden wurden somit zu Schauspielern, Heroen zu Menschen und Göttergeschehen zu Handlung.

Dieser qualitative Sprung war in David Böschs Inszenierung am Münchner Residenztheater deutlich spürbar. Während Orest und Elektra in den ersten beiden Teilen (1. Die Psychologie des Entschlusses nach „Elektra“ von Sophokles und 2. Die Archaik der Tat nach „Die Totenweihe“ von Aischylos) geradezu fremdbestimmt, selbstredend nicht ohne Zweifel, durch die Handlung getrieben wurden, erwachte ihr Selbst im 3. Teil (Der Wahnsinn danach nach Euripides „Orestes“). Sechs Tage nach der Bluttat wird Orest heftig von Erinnyen geplagt. Bei Euripides hatte allerdings schon eine psychologische Umdeutung stattgefunden und die Rachegöttinnen existieren nur in Orests Kopf. Als beide, Orest und Elektra, von den Bürgern von Argos zum Tod verurteilt werden, beschließen sie den gemeinsamen Freitod, um der Unausweichlichkeit zuvor zu kommen. In der ursprünglichen Geschichte richtete Pylades, der Gefährte von Orest, seinen Freund auf und riet ihm, Helena, die mitverantwortlich für den Untergang Trojas und den Tod vieler Griechen war, und ihren Ehemann Menelaos, der sich in Argos nicht für die angeklagten Geschwister eingesetzt hatte, um sich in den Besitz der Krone von Argos zu bringen, zu töten. Von jetzt an handelten die Geschwister selbstbestimmt.

  Orest 24  
 

Shenja Lacher

© Andreas Pohlmann

 

Falko Herolds Bühne war ein Ort, der von der Patina des Untergangs geprägt war. Die über die ganze Breite eines Bungalow reichende Fensterfront war von Schmutz überzogen und blind. Zugezogene Vorhänge schotteten zusätzlich vor den Blicken der Außenstehenden ab. Es war der Ort, an dem gemordet worden war und an dem die Königin sich Aigisthos, dem Nebenbuhler ihres Gatten, hingegeben hatte. Hinter diesen Vorhängen starb schließlich auch Klytaimnestra. Sophie von Kessel stattete diese Rolle mit viel Hintergründigkeit aus, so dass es nicht einfach war, sie leichthin zu verdammen. Ihre Argumente für den Gattenmord hielten den Vorwürfen ihrer Kinder durchaus stand. Sie waren allesamt miteinander in derselben Tragik verwoben. In der Rolle der Schwester Helena hingegen gab sie ein oberflächliches Wesen, das auf Vergessen und Verdrängen ihrer eigenen Verantwortung geeicht war. Norman Hackers Aigisthos war ein ebenso perfider Machtmensch wie Menelaos, den er im dritten Teil gab. Hacker unterschied die beiden Figuren dennoch sehr deutlich im Gestus. Diese beiden Rollen und deren Darstellung offenbarten, dass die antiken Helden zumeist alles andere als moralisch fühlende und handelnde Menschen waren. Valerie Pachner spielte die Rollen, die zwischen den Fronten angesiedelt waren, die Schwester Chrysotemis und die Tochter Helenas und Menelaos, Hermione. Ihr Opportunismus als Überlebensstrategie bezeichnete eine der zählebigsten und erfolgreichsten Lebensentwürfe.

Die Protagonisten in dem blutigen Drama waren Shenja Lacher (Orest) und Andrea Wenzl (Elektra). Unter der ausgefeilten und klugen Spielleitung von David Bösch entwickelten beide kraftvolle Figuren, die ihren Rollen mehr als gerecht wurden. Lachers Orest erfüllte sowohl physisch als auch gestisch die Anforderungen an einen antiken Helden. Dabei gelangen immer wieder auch Szenen, die die innere Verletzbarkeit und die Skrupelhaftigkeit der Figur offenbarten. Shenja Lacher ist zudem ein Darsteller, der einfallsreich Situationskomik herbeiführen kann, die gerade einem so hehren Thema die nötige menschliche Färbung verleiht und somit den antiken Heros vor Lächerlichkeit schützt. Andrea Wenzl gab eine liebende, anschmiegsame Schwester, die im nächsten Augenblick physisch unbändig, kompromisslos und aggressiv Attacken gegen ihre Feinde ritt. Menschlich wurde ihre Rolle auch, weil sie die archaische Figur des Racheengels bis hin zur punkigen Nervensäge steigerte. Allen Darstellern gebührt höchstes Lob.

Fragt man sich, warum dieses Drama in dieser Form hier und heute seinen Platz findet, ist die Antwort nicht ganz so leicht. Einen direkten Zeitbezug suchte man vergeblich. Dennoch machte der Abend Sinn, da die Welt noch immer angefüllt ist mit Katastrophen, die nur dadurch verursacht wurden und werden, weil die Akteure nicht auf der Basis von menschlicher Vernunft handeln, sondern auf der Basis archaischer oder zumindest traditioneller Gesetze. Insofern leistete das Angebot von John von Düffel in der gelungenen künstlerischen Umsetzung durch David Bösch ein Stück notwendige Aufklärung. Zu selbstverständlich wird heutigentags manche individuelle, aber auch gesellschaftliche Handlungsweise als alternativlos hingenommen.

 

Wolf Banitzki



 


Orest
von John von Düffel nach Sophokles, Aischylos, Euripides

Shenja Lacher, Andrea Wenzl, Sophie von Kessel, Norman Hacker, Valerie Pachner

Regie: David Bösch

Residenztheater Die Ratten von Gerhart Hauptmann


 

 

Elend, Tod und die Ästhetik

Zwei Geschichten werden in Hauptmanns „Die Ratten“ erzählt, die immer wieder miteinander kollidieren und deren Protagonisten sich auf moralischer Ebene aneinander reiben. Ort der Handlung ist ein Berliner Mietshaus. Die erste Geschichte handelt von Frau John, deren Mann als Maurerpolier in Hamburg Altona arbeitet. Frau John, die erst kürzlich ihr Kind „Adalbertchen“ verloren hatte, überzeugt das schwangere und sitzen gelassene polnische Dienstmädchen Pauline Piperkarcka, die sich im Landwehrkanal ertränken will, davon, dass sie das Kind zur Welt bringt und in ihre Obhut gib. Das Kind erblickt auf dem Dachboden des Mietshauses die Düsternis der Welt, auf dem der ehemalige Theaterdirektor Harro Hassenreuter seinen Theaterfundus lagert. Das Kind ist ein Junge und erhält von Frau John wiederum den Namen „Adalbertchen“. Herr John, ihr Ehemann, der in dem festen Glauben ist, es sei sein Kind, kündigt seinen Job in Hamburg und kehrt endgültig nach Berlin zurück. Als Pauline Piperkarcka, von ihrem Gewissen geplagt, ihr Kind mit Nachdruck zurückfordert, schiebt Frau John ihr erst das Kind der heruntergekommenen Nachbarin Knobbe unter und als das nicht funktioniert, beauftragt sie ihren verwahrlosten Bruder Bruno Mechelke, sich der Sache anzunehmen. Der tötet das Mädchen und macht sich aus dem Staub. Als Frau John die Konsequenz ihres Handelns begreift, stürzt sie sich aus dem Fenster.

Verwoben ist diese tragödische Geschichte mit der des Theaterdirektors Harro Hassenreuter, einem deutschnationalen Mittelstandsbürger, und seiner Familie. Seine Ehefrau muss in der Gewissheit überleben, dass ihr Mann ein notorischer Fremdgänger ist, dessen Mätresse Alice Rütterbusch, Schauspielerin, schon beinahe fester Bestandteil der Familie ist. Seine Tochter Walburga erntet beim Vater nur Zorn, angesichts ihrer Versuche, selbstbestimmt und mit ihrem Geliebten, dem Theologiestundenten Erich Spitta, zu leben. Der wiederum hat sich entschlossen, Schauspieler zu werden. Zwischen Theaterdirektor Hassenreuter und Spitta entbrennt ein Streit über Fragen der Ästhetik auf dem Theater. Spitta entpuppt sich als ein Vertreter des Naturalismus und prangert die „idealistische“ Kunstauffassung Hassenreuters an, die er die „Schillerisch-Goethisch-Weimarische Schule der Unnatur“ nennt. Am Ende wird Hassenreuter erneut zum Theaterdirektor berufen und die Familie verlässt, inklusive der Geliebten, frohen Mutes Berlin.

Wann immer eine Inszenierung dieses Dramas ansteht, entbrennt zugleich auch eine fieberhafte Positionsbestimmung zum Naturalismus. Hauptmann war kein konsequenter Naturalist; davor war die kunstvolle Gestaltung der Sprache, seiner Figuren und auch seiner Dramaturgien. Otto Brahm meinte nach der Uraufführung von „Vor Sonnenaufgang“, dass Hauptmann viel zu poetisch daherkäme, um naturalistisch zu sein. Zum besseren Verständnis sei angemerkt, dass konsequente Naturalisten wie Arno Holz und Johannes Schlaf forderten, die Kunst radikal auf die Natur (vor allem der gesellschaftlichen Vorgänge) zurückzuführen. Der Anteil von Kunst im Werk solle gegen Null gehen, was bedeutete: Kunst ist gleich Natur. Ihren Ursprung hatte diese Auffassung in dem unbeschreiblichen sozialen Elend um die Wende zum 20. Jahrhundert und die daraus resultierenden sozialen und psychischen Deformationen. Hauptmann entschuldigte sein Abweichen vom Naturalismus beinahe schamhaft mit dem Satz: „Kann ich dafür, dass die Natur auch schön ist?“


  RattenResidenztheater  
 

Michele Cuciuffo, Valery Tscheplanowa

© Andreas Pohlmann

 

Mit Yannis Houvardas nahm sich ein griechischer Künstler des Stoffes an. Das ist keineswegs weit hergeholt, denn Hauptmann bereiste 1907 Griechenland und verfasste von 1940 bis 1944 eine Atriden-Tetralogie, wie sie erstmals von Aischylos (Orestie, 458 v.Chr.) geschrieben worden war. Hauptmann war lebenslang ein Sinn-Suchender, um seine eigenen Tragödien zu verstehen. Dabei war es unausweichlich, dass er schließlich die Archaik mit ihren menschlichen Grundschemen streifte, mit der sich viel, nicht alles wohlgemerkt, erklären lässt. Als Erwin Piscator die Hauptmannsche „Orestie“ 1962 an der Berliner „Freien Volksbühne“ an einem Abend spielte, meinte er, im Werk Hauptmanns eine antifaschistische Haltung gefunden zu haben. Friedrich Luft bemerkte dazu: „Der gute, alte Erwin Piscator kann’s nicht lassen. Er möchte immer noch das Theater zu einem Platz politischer Schulung verengen.“ Und genau hier liegt die größte Gefahr im Umgang mit Hauptmanns Werk. Jeder Versuch, das Drama zu einem politischen Lehrstück zu machen, wäre einr Geringschätzung.

Yannis Houvardas meisterte diese Hürde und inszenierte ein Drama, das neben dem sich unweigerlich auftuenden Zeitbezug vor allem den Focus auf die Archaik menschlichen Handelns lenkte. Es liegt in der Natur der Dinge, dass sich verschärfende Widersprüche zu radikaleren Handlungsweisen führen. Gerade diese auseinander driftenden sozialen Positionen konterkarieren diesen Vorgang und es entsteht eine sonderbare Zusammenhanglosigkeit zwischen dem Milieu der „Kleinen Leute“, wie Zille sie nannte, und einer Kunst, repräsentiert von Hassenreuter, die sich bewusst und auf hypertrophe Weise darüber stellt. Es ist ein düsteres Stück und wenn die Szenen am beklemmendsten sind, entsteht eine Komik, die an Beckett erinnert. Houvardas rückt diese Komik nie in den Vordergrund, sondern verabreichte sie homöopathisch, damit die Geschichte den Zuschauer nicht überwältigte und erträglich blieb.

Valery Tscheplanowas Frau John war eine grazile, aber mental starke Frau, deren ursprüngliches Naturell verborgen blieb. Einzig die Verteidigung ihres verwahrlosten Bruders Bruno, animalisch, egoistisch und trotzdem zweifelnd von Tom Radisch gespielt, ließen frühe und verschütt gegangene menschliche Bindungen erahnen. Das Leben und die Verzweifelung an selbigem hatte sie hart gemacht und unerbittlich. Dabei war die Liebe zu dem Kind ihr wichtigster Handlungsantrieb, der sie schließlich in die Katastrophe schlittern ließ. So deutlich, wie sie sich für den Bruder einsetzte, so diffus blieben über weite Strecken die wahren Gefühle für ihren Ehemann. Michele Cuciuffo spielte diesen so gradlinig, wie Menschen nun eben sind, die einem harten und prägenden Handwerk nachgehen. In seinen Reflektionen, einem traditionellen und am Leben geschulten Wertesystem entspringend, bekamen die Vorgänge ihr grauenhaftes Antlitz. Das war Archaik pur.

Das Paralleluniversum, der bürgerliche Mittelstand, die Kunst und die Religion/Philosophie, speiste seine Gravitationskräfte aus dem Spannungsfeld zwischen dem selbstgefälligen, menschlich schwachen, aber beruflich gerissenen Harro Hassenreuter, wie Oliver Nägele ihn gab, und dem auf einem Selbstfindungstrip befindlichen, streitbaren und verzweifelten Erich Spitta, kongenial von Thomas Gräßle gestaltet. Angefeuert von seiner Liebe zu Marie Seiser als Walburga, Hassenreuters Tochter, tappt der idealistische Träumer in eben jene Realität, die seine Kunstauffassung geprägt hatte. Hinter dieser Rolle verbirgt sich übrigens der junge Gerhart Hauptmann höchstselbst.

Yannis Houvardas inszenierte mit disziplinierter Nüchternheit, was zu explosionsartigen Entladungen der Wahrheiten und der dadurch entfesselten Emotionen führte, die sehr viele Energien freisetzten. Bühnenbildnerin Katrin Nottrodt hatte die Hebebühne innerhalb der Drehbühne zu einem Wohngeschoss aus drei durchsichtigen Räumen gemacht. Von Anfang an wurden fahrbare Gitterkäfige vorgehalten, in welche die vom Schicksal und ihren eigenen Handlungen niedergestreckten Personen verschlossen wurden. So fanden alle Gescheiterten ihr letztes Zuhause im Gefängnis ihrer eigenen Taten. Ein gelungenes und sinnfälliges Bild mit großer Wirkung. Einziger, gezielt herbeigeführter ästhetischer Bruch war die Anwesenheit des Musikers Michael Gumpinger, der in der Maske und im Kostüm eines kurzbehosten, niedlichen (Schaufenster-) Knaben, vermutlich „das Gott-hab-ihn-selig-Albertchen“, das Geschehen von außen beobachtete und am Flügel musikalisch kommentierte.

Regisseur Houvardas enthielt sich jeglichen politischen Kommentars. Er beschränkte sich auf die künstlerische Umsetzung einer großen Tragödie, die so ihr Interpretationsspektrum nicht einbüßte und zum Philosophieren verführte. Das wäre sicher im Sinne Hauptmanns gewesen. Der aktuelle Text „Sozialdämmerung“ von Jürgen Borchert im Programmheft beschrieb, was sich längst als immer deutlicher werdendes Gefühl eingeschlichen hat. Man muss kein Apokalyptiker sein, um die darin angeführten Fakten über die Gesellschaft pessimistisch zu bewerten. Das Drama auf der Bühne des Residenztheaters machte in diesem Zusammenhang klar, dass die Politik, die im Stück nicht vorkam, nicht die Lösung, sondern das Problem darstellt, und dass die Fragestellungen über die Zukunft einfach eine Nummer größer sein müssen als die der heutigen Reformatoren, deren Streben einzig dem Bestandserhalt gilt. Ein starkes Stück Theater, das zu solchen Überlegungen verleitet!

 

Wolf Banitzki



 


Die Ratten
von Gerhart Hauptmann

Oliver Nägele, Ulrike Willenbacher, Marie Seiser, Thomas Gräßle, Sophie Melbinger, Michele Cuciuffo, Valery Tscheplanowa, Tom Radisch, Katharina Schmidt, Sierk Radzei, Hanna Scheibe, Sara Tamburini, Michael Gumpinger

Regie: Yannis Houvardas

Residenztheater Leonce und Lena. Dunkle Nacht der Seele


 

 

Theater ist Theater

„Melancholie. Langeweile. Depression. Selbstmord. Das sind die Themen ... Laut (Regisseur Calixto) Bieito sollen diese Projekte als zeitgemäße symphonische Gedichte betrachtet werden, als theatralische Praxis, die auf der gewaltsamen Verbindung von Texten und Musik beruht, und deren eigentliches verbindendes Element nicht die offensichtliche, stringente Handlung, sondern die bloße visuelle und traumartige Macht ...“ , so Marc Rosich (Programmheft). Die Dramaturgie erhebt die Befindlichkeiten von Büchners Figuren in den von ihm beschriebenen Zustand der "Automaten ohne Seele." Perfekte Charakteristik.

Versprechen um Versprechen treiben die Menschen ... ins Theater. Die Versprechung der Ankündigung „nach Georg Büchner“ erfüllte die Erwartungen im Bereich Text immer wieder und auch gar nicht. Denn dieser entwickelte in der Zerstückelung, in Fetzen von Gedanken verschiedener Ursprünge - Leonce und Lena, Dantons Tod, Briefe, Lenz - nur ansatzweise seine Kraft. An wenigen Stellen erfüllte der Klang dieser Worte, seiner Sprache den Raum unmittelbar mit Lebendigkeit. Er erreichte spontan das Innerste, bewegte es, und wer im Publikum noch Mensch war, fühlte sich erkannt. „Die Nacht schnarcht über der Erde und wälzt sich im wüsten Traum. Gedanken, Wünsche, kaum geahnt, wirr und gestaltlos ...“ Georg Büchner. Für die bereits vor ihrem Ende Toten haftete dem wohl nur der Laut der Vergangenheit an. Der Kontrast, Programm der Inszenierung, zu den englischsprachigen einfachen Songtexten und anderen Einfügungen stach überdeutlich ins Ohr. „Happy is not enough ... Happy is not enough ... Dying is not enough ...“, die Wiederholungsmaschinerie lief auf Hochtouren. Mit der Leere der Worthüllen füllten die farbig gekleideten Damen die Mikrophone, denn die Gefühle wurden verpackt zu Last „die Koffer voll von Sehnsucht“ (Maika Makovski). Kein Nachhall im Lebendigen.

Schwarze Folie verdunkelte die Bühne, endlose Weite wich Bergen, gleich einer unwegsamen Moorlandschaft sog sie die Blicke des Zuschauers in sich auf, sog sie scheinbar die Seelen an. Technik und visuelle Gestaltung reichten hier einander erfolgreich die Hände (Bühne: Rebecca Ringst). Zu Beginn erstrahlte ein Bündel von Sternen, gleich einem Blumenstrauß, gleich der vielfältigen Hoffnung. Dann verschlang der Sumpf der Verwandlung, die Dunkelheit die Figuren, erst partiell, dann zunehmend. (Licht: Tobias Löffler!) Was blieb waren die Schatten ihrer Schatten, winzige Flecken heller Haut, hellen Haars.

Genija Rykova und Lukas Turtur setzten Abziehbilder von Frau und Mann in Szene, mechanisch verbunden miteinander und nach wenigen Augenblicken doch vereinsamt, unheilbar unglücklich. Des Jackets, des Schleiers entledigt, strichen sie nachtwandlerisch ziellos über die Fläche. Ein Entertainer, Guntram Brattia, hatte die Beiden verbunden. Danach entledigte er sich seiner Bekleidungshüllen, Blöße vorstellend als Prinzip, der man nur zu gerne auch noch die Haut abgezogen hätte, den Schmerz zu figurieren. In rot und türkis gekleidet Katharina Pichler und Friederike Ott – äußerliche Farbakzente waren gesetzt. Sie verbreiteten den Zeitgeist, vertreiben die Langeweile. Das türkise Kleid konnte für einige banale Übungen den Pappmann aktivieren. Nein. Nein. Nichts Neues in der Welt. Die Mechanismen haben die Figuren fest im Griff. Gewohnheit herrscht schon, bevor Gewohnheit einsetzen kann.

  LeonceLena  
 

Friederike Ott, Guntram Brattia, Genija Rykova, Katharina Pichler

© Matthias Horn

 

 Kann eine Inszenierung als gelungen angesehen werden, wenn diese ihre eigenen Vorgaben und die Vorgaben des Dichters erfüllt? In gewisser Weise ja, unbedingt, und wer die dunkle Bildfolge mit Zitaten als Einzelbilder zu sehen verstand, zu erschauen vermochte, fand Bestätigung. Eines ist gewiß: Anerkennenswert bedrückend elementare Bilder beherrschten die Szene, verstärkt wurde ihre Wirkung durch die, die Spannung haltenden Musiker. Die bleibende Impression – erschöpfend theatralische Selbstverliebtheit auf einem dunklen Stern im Kosmos.

Parallel zu den wenigen Szenen aus Büchners ironischem Lustspiel „Leonce und Lena“, welche als marginale Vorlage gedient hatten, hing ein passender Rahmen. "Während das zu Vivat-Rufen angehaltene Volk hungert, übt sich der Hof in Nabelschau." G.B. Heute: In Psychoschau vernarrt, vegetiert eine wissenschaftswahnende Gesellschaft in der für Poesie, Erotik und Kultur kein Platz mehr ist. Es herrschen Funktionalität und Mechanisierung - die programmierte Freudlosigkeit des menschlichen Gemütes - welche sich zu einer überdimensionalen Wolke in den Menschen und über dem Land, den Kontinenten zusammengeballt hat. Schwarz auf Weiß wird Soll-Befindlichkeit diktiert, die Bitrate gesteigert ins jenseits des Erfüll-, Erfahrbaren. Euphorie um Depression. Auf einem Moorberg lag eine junge Braut, nach dem hoffnungsvollsten Tag noch in weiß gekleidet, wie ein grauer Schatten Material.

Die Übermacht des Vergänglichen, der Verlust von Lebendigkeit, von Gemeinschaft und Kultur wurde in dieser Aufführung offensichtlich. Doch was bringt es, wenn die Kunst, der höchste Ausdruck für Kultur, lediglich den schwarzen Schatten des Volksgemüts spiegelt – Gedrücktheit. Verstärkung. Diese wurde festgesetzt im Zuschauerraum? Ich wage zu bezweifeln, dass das Publikum des Residenztheaters in München wirklich mit der dunklen Nacht der Seelen so vehement konfrontiert werden möchte, kehrt, stellt es doch zumeist selbst die hellen Momente hervor. Die Nächte sind delegiert, an jene, die in steigender Zahl gescheitert, verschwiegen und in keiner Statistik mehr genannt werden. Eitel Ordnung herrscht.

 

C.M.Meier



 


Leonce und Lena. Dunkle Nacht der Seele
Nach Texten und Motiven von Georg Büchner in einer Fassung von Calixto Bieito und Marc Rosisch

Guntram Brattia, Friederike Ott, Katharina Pichler, Genija Rykova, Lukas Turtur
Musik: Blerim Hoxa, Chris Lachotta, Manfred Manhart
Songtexte: Maika Makovski /„Oh meine müden Füße“  Georg Büchner / „Kein Kinderlied“ Mascha Kaléko

 

Regie: Calixto Bieitoj