Volkstheater Bluthochzeit von Federico García Lorca



 

Der Tod tanzt

Spätestens seit der Filmtrilogie, die Regisseur Carlos Saura dem Flamenco widmete und zu der neben Carmen (1983) und Liebeszauber (1986) auch die Bluthochzeit (1981) gehört, weiß man um die Magie von Musik und Machismo, dem männlichen Verständnis einer archaischen Geschlechterrolle. Es ist die erschütternde Konsequenz der Lösung von Liebeskonflikten, die zumeist im Blutvergießen endet und dem Betrachter immer wieder einen heiligen Schauer über den Rücken jagt. Über Jahrhunderte war das andalusische Lebensgefühl von diesem Rollenverhalten geprägt. Auch Federico García Lorca widmete sich dem unausweichlichen Thema. Allerdings stellte er den Sinn dieser Rituale in Frage und artikulierte darüber eine alles umfassende Trauer. Einen Ausweg vermochte er nicht anzubieten. Allzu übermächtig waren die gesellschaftlichen Meme, wie selbst sein eigener Tod und die Jahrzehnte andauernde Verleugnung seiner Person und seiner Kunst bewiesen. „Bluthochzeit“ spielt im Herzen Iberiens. Unter einer unbarmherzigen Sonne lösen Gefühle die Vernunft auf und die Katastrophe nimmt ihren Lauf.

In der „lyrischen Tragödie“, wie Lorca die das Drama nennt, heiratet ein junger Mann eine Frau, die er liebt und die ihn liebt. Vergessen soll sein, dass die junge Frau schon einmal verlobt war mit Leonardo, der schließlich die Cousine der Braut geheiratet hat. Vergessen soll auch sein, dass Leonardos Familie schon den Vater und den Bruder des Bräutigams getötet haben. Es ist eine gute Konstellation in Fragen der Liebe und auch des Besitzes. Also, wozudie Vergangenheit beschwören. Doch Leonardo Herz schlägt noch immer für die junge Braut. Gemeinsam fliehen sie in der Hochzeitsnacht. Der Bräutigam setzt ihnen nach und bringt sie auf blutige Weise zur Strecke. Leonardo und auch der Bräutigam sterben. Die Braut kehrt blutbesudelt heim in das Haus der Schwiegermutter, unberührt noch immer, und nur noch von dem Wunsch beseelt zu sterben.

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Max Wagner, Ilona Grandke, Michael Kitzeder, Ursula Maria Burkhart, Robin Sondermann, Kristina Pauls, Oliver Möller, Mara Widmann, Jean-Luc Bubert, Xenia Tiling

© Arno Declair

Der serbische Regisseur Miloš Lolić hatte diese Geschichte auf unerhört eindringliche Weise in Szene gesetzt. Gespielt wurde kaum. Gruppenbilder dominierten die Szene, wobei die Darsteller das Wort und die lyrische Botschaft Lorcas zelebrierten. Lolić setzte nicht auf körperliche Aktion, sondern ersetzte Spiel durch permanenten Rhythmus. Das unentwegte Stampfen der hochhackigen Schuhe oder das Klatschen in die Hände versetzen die Szene von Anbeginn in unheilschwangere Schwingungen. Der Tod tanzte vom ersten Augenblick an unsichtbar, aber hörbar mit. In dieser statuarischen Darstellung wurde die Qualität der Übersetzung von Rudolf Wittkopf deutlich, deren Rhythmus organisch mit Flamenco und Bodyperkussion verschmolz. Die Figuren blieben in der gerade einmal eine Stunde dauernden Aufführung zwar holzschnittartig, erfüllten aber allemal ihren Zweck, der in erster Linie darin bestand, einen Gesellschaftskörper röntgenartig zu durchleuchten.

Ursula Maria Burkhart fiel die Rolle der besorgten Mutter zu, die bei dem Wort „Messer“ innerlich zusammenzuckte und hörbar oder auch nur durch ihre Haltung das Ende der Geschichte voraussagte. Robin Sondermanns Bräutigam hielt bis zur Offenbarung des Verrats an seinem Glück lächelnd fest. Er war gewillt, der Vergangenheit nicht das Wort zu reden. Kristina Pauls als Braut unterdrückte alle Impulse, festen Willens, aus ihrer Situation ein Glück zu zimmern, so bescheiden es auch ausfallen möge. Ebenso Jean-Luc Bubert als zufriedener Vater der Braut. Auch er ignorierte mit viel Mühe die Zeichen, die für alle sichtbar die kommende Hochzeit überschatteten. Oliver Möller, schwarz gewandet, die Farbsymbolik war unübersehbar, hatte als Leonardo den Dorn der unerfüllten Liebe im Fleisch und lud die Vorgänge mit anschwellender Unberechenbarkeit auf. Die Katastrophe wurde schließlich Klang, Gesang, Schrei und dumpfes Pochen des vermeintlichen Schicksals. Blut sah man nicht, aber man hörte es Dank des Sounds von Luca Ivanović.

Miloš Lolić Inszenierung war eine gelungene Eröffnung der Spielzeit am Münchner Volkstheater. Seine Bühnenästhetik war überraschend und verblüffend im positivsten Sinn. Er schuf eine Interpretation, die unprätentiös und doch reich war, die in intelligenter Schlichtheit daher kam und gleichsam eine unmissverständliche, hochlyrische Sprache sprach. Es war Theater vom Feinsten, das wohl jeden Betrachter anrührte, ohne dabei beliebig zu werden.

Als sich im letzten Bild die Darsteller zu einer Gruppe formierten, wurde der Zuschauer aus der der Zeit gerückt. Sepiafarbenes Licht schuf ein belebtes Foto aus einer vergangenen Epoche, wie man es bei Hochzeiten, Geburten, Taufen etc. zur Erinnerung arrangierte, vor dem Hintergrund der blutigen Geschichte allerdings den Wunsch erzeugend, dass diese Zeit tatsächlich perdu sei. Abgerundet wurde die ausgefeilte Ästhetik durch die fantasievoll stilisierten Kostüme von Maria Jelesijević. Insbesondere im letzten Bild entstand eine fast vollkommene Schönheit, wie man sie, aus welchen Gründen auch immer, auf der Theaterbühne selten zu sehen bekommt. „Bluthochzeit“ ist besonderes Theater, zudem besonders gut!

 

Wolf Banitzki


 


Bluthochzeit

von Federico García Lorca

Jean-Luc Bubert, Ursula Maria Burkhart, Ilona Grandke, Oliver Möller, Kristina Pauls, Pascal Riedel, Robin Sondermann, Xenia Tiling, Max Wagner, Mara Widmann, Michael Kitzeder, Toralf Vetterick

Regie: Miloš Lolić

Volkstheater Prinz Friedrich von Homburg von Heinrich v. Kleist



 

Salutiert d.. ...

Prinz Friedrich von Homburg sitzt im Park unter einer Eiche. Er träumt, träumt von einem Lorbeerkranz und dem damit verbundenen Sieg. Auch träumt er von der schönen Prinzessin Natalie von Oranien und als der Traum zu Ende  geht und der Kranz geflochten ist, liegt da ein Handschuh der Prinzessin neben ihm. Traum, Realität, oder ein schlechter Scherz der Obrigkeit? Doch schon stehen die Kameraden um ihn und es gilt die Order für den Angriff auf die Schweden entgegenzunehmen. In Mareike Mikats Inszenierung geschah dies auf lockere Art, es wurde gescherzt, parodiert und auf höchst ungewohnte Weise salutiert. Die Reuterei steppte auf der Bühne und die Schauspieler in den blauen Uniformen hinterließen einprägsame Bilder. Prinz Friedrich von Homburg ist ein Zerrissener zwischen Idealen, Träumen und einer militanten Realität. Robin Sondermann gab einen umgänglichen schlafwandlerisch wirkenden Prinzen, dem der Traum näher als die Realität schien. Allein die Kleist’sche Sprache wurde auf das Faktische reduziert und verstärkte so den Kontrast zwischen Spielhaltung und Text (Dramturgie Katja Friedrich). Auch Kurfürst Friedrich Wilhelm (Jean-Luc Bubert) war ein freundlich umgänglicher Mann, stand stets kerzengerade. Die Schlacht wurde durch Männchenrituale, Kräftemessen in Körperausdruck und eine Balgerei veranschaulicht. Schwarze Bälle, die Kanonenkugeln glichen, regneten auf die Bühne (Marie Roth). Sie waren Projektile und später trugen sie Botschaften ebenso wie Bittgesuche. Papiere und Kugeln folgen einem Ziel und es ist unerheblich wodurch der Tod kommt, verfügt wird. Zwischen den Männern agierte Prinzessin Natalie, Chefin eines Dragonerregimentes (wie das Programmheft die Figur bezeichnet). Die Rolle war vielseitig angelegt und Mara Widmann stand ebenso überzeugend stramm, wie sie andererseits zart gefühlvoll Prinz Friedrich über das Haar strich, oder beim Kurfürsten um Gnade bat. Xenia Tilling als Graf Hohenzollern stand für Freundschaft und Aufrichtigkeit, spielte beides in Idealform. Max Wagner, Pascal Riedel, Stefan Ruppe  und Lenja Schultze verkörperten jugendlich enthusiastisch die Obersten.

Der soldatische „Heil! Heil! Heil!“  Ruf, den schon Kleist kannte, blieb in der Inszenierung aus. Der Gruß allerdings wurde mit der eindeutigen Armbewegung begleitet, doch die Hände fuhren weiter hoch. Salutiert wurde mit dem Finger. Sie hoben ihn gegen die Decke, stimmten zu in der Abstimmung. Es lebe der Militarismus, wir geben uns demokratisch ...  

In der Gegenwart werden nicht nur Söldner für ein Berufsheer, sondern auch Mitarbeiter rekrutiert, wie aus den Abteilungs- und Firmenbezeichnungen nur allzu deutlich erkennbar ist. Man erwartet von ihnen Hacken zusammenschlagen und blinden Gehorsam. Die Firmenphilosophie steht für  Ideologie, ersetzt Vaterlandsliebe und bedingungslose Aufopferung. Die Zusammenarbeit ist strengen Ritualen unterworfen und die hierarchische Ordnung unumstößlich. Die Bekleidungsordnung schreibt einheitliches Grau vor. Wer sich zu widersetzen wagt, wird gleich einem Deserteur gebrandmarkt und gesellschaftlich ausgelagert. Die Hinrichtungen finden still und durch Sanktionen der selbstherrlichen Führungsobrigkeit statt. Verhungert Deserteure. An seinem Militärwesen ist noch nie ein Land genesen. Fliegt man über die Erde sieht man: Es ist bereits die ganze Welt krank und an der Natur kann jeder Mensch die Zerstörung durch die gewalttätige Ausbeutung erkennen. Naturgemäß nur, wenn er nicht völlig ideologisiert und damit geistig verblendet, erblindet ist.

Prinz Friedrich von Homburg erkannte, Heinrich von Kleist wusste, dass die Freiheit in der Anerkennung und Befolgung von Recht liegt. Auch wenn er sich für seine Person diesem herrschenden militärischen Recht, als Humanist konsequenter Weise entzog. Das Recht kennt keine Gnade, Gnade kennt nur der Mensch. Krieg als Recht, Kriegsrecht, widerspricht den Menschenrechten und dürfte als solches keine Anwendung mehr finden. Der Ausgang der beispielhaften Schlacht gegen die Schweden verdeutlicht, dass blinder Gehorsam zu Niederlage führt, und nur durch intuitives Eingreifen und realistisches Erkennen der aktuellen Lage ein Sieg, Durchbruch errungen werden kann. Das strategische Denken und Handeln allein führt in die Irre, es erkennt nur kausale Zusammenhänge und agiert in diesen. In der Inszenierung trugen die Darsteller Federn im Haar, gleich den Indianern, die durch Federn ihren Gedanken Flügeln geben und gleich Vögeln in der Luft, der verbindenden Traumwelt, oder dem kollektiven Unbewussten mit sich und den anderen kommunizierten. Dieses dialektische Denken und Handeln grenzt Mensch dann aus, wenn er Erkenntnis verweigert oder sich wie in einem Schockzustand befindet. Krieg und Überforderung in jeder Form rufen einen solchen Lähmungszustand hervor. Männchenspiele, Kräftemessen, Macht und Konkurrenzwahn haben längst die Übermacht im Wirtschafts- und Ausbeutungskrieg. Diesen Krieg gegen die Erde wird die Menschheit verlieren. Daran besteht kein Zweifel.

Das Problem liegt in den Inhalten der herrschenden Ordnung, nicht in Ordnung per se. Militarismus als Staatsform, Produktionszwang zur Ausbeutung der Erde und Waffenverkauf für Blutgeld sollten in einer entwickelten zivilisierten Gesellschaft keinen Stellenwert mehr haben. Dennoch laufen viele diesen Weg mit, salutieren täglich an und vor den Schreibtischen und Drehbänken, einfach weil es schon immer so war und ... Es gibt sie, die aufgeschlossenen Homburgs, die andere Werte anführen, neue Inhalte für eine menschliche Gesellschaftsordnung. Darin liegt ein Wert der Inszenierung. Hören, schauen, lesen ... aufwachen ... Die Träume von Liebe und Gemeinsamkeit, in der Inszenierung auch die Federn in den Haaren und die farbenfrohe hübsche Maske der Prinzessin Natalie, brauchen Freiheit zur Entfaltung.

Es war eine zeitgemäß unterhaltende, nach Hoffnung suchende und einen Weg aufzeigende Inszenierung – gegen Ende ein wenig aufgelockert, heutig in Sprache und Habitus, in den Szenen der Versöhnung. Moritz Krämer, der in einem Turmzimmer mit biederen Vorhängen am Rande der Bühne die Vorgänge beobachte und musikalisch kommentierte, sang von Freundschaft als die Träume in Form von schillernden Luftballons an den Theaterhimmel stiegen. Oder waren es am Ende die begrabenen Träume die hier im Licht verblassten?


C.M.Meier

 

 

 


Prinz Friedrich von Homburg

von Heinrich v. Kleist

Jean-Luc Bubert, Mara Wiedmann, Robin Sondermann, Max Wagner, Lenja Schultze, Pascal Riedel, Xenia Tiling, Stefan Ruppe
Musik: Moritz Krämer

Regie: Mareike Mikat

Volkstheater Das Maß der Dinge von Neil LaBute



 

Wenn Liebe zur Selbstaufgabe führt

Adam, ein Anglistikstudent, jobbt als Aufseher im Museum. Er nimmt diese Arbeit sehr ernst, nicht weil sie ihn besonders begeistert, sondern weil er unliebsame Zwischenfälle fürchtet. Er ist ein stiller junger Mann, der sich nur in seiner Anonymität sicher fühlt. Auftritt Evelyn. Sie ist Kunststudentin und plant, einen Penis auf eine antike Plastik zu sprühen, denn dieser ist nachträglich verhüllt worden, was sie als Zensur empfindet. Eine Liebesgeschichte entspinnt sich. Evelyn beginnt, den unscheinbaren, geradezu unattraktiven Mann in einen begehrenswerten, ausstrahlungsstarken Loverboy zu verwandeln. Nebenher arbeitet sie an ihrem Abschlussprojekt, und so erfährt der Zuschauer einiges über Kunsttheorie. Erste Misstöne kommen auf, als Adam Evelyn mit dem Freund Philipp und dessen zukünftige Ehefrau Jenny zusammenbringt. Gegenstand der Auseinandersetzung ist die Kunst. Jenny war einstmals der Schwarm von Adam, doch er hatte nie den Mut, sich ihr zu offenbaren. Zwischen Jenny und Philipp kriselt es. Jetzt macht Jenny den ersten Schritt auf Adam zu und es kommt zum scheinbar Unvermeidlichen. Ein Strudel aus Leidenschaft, Berechnung und Intrige scheint alle Liebe zur verschlingen. Es wird gelogen, geblufft, misstraut und betrogen, doch am Ende nimmt die Geschichte eine verblüffende und erschreckende Wendung.

Alu Walters Bühnenraum war minimalistisch. Eine kleine Drehbühne lieferte das Podium für exponierte Szenen, Momente der Besinnung, der Erotik oder auch der Erschütterung. Ansonsten wurde der Raum der „Kleinen Bühne“ des Volkstheater über die gesamte Länge hinweg bespielt. Dabei kamen die Schauspielern den Zuschauern sehr nah, was eine besondere Intensität erzeugte. Die vierte Wand war von Beginn an nicht existent.

Regisseur Florian Helmbold inszenierte das psychologische Kammerspiel unter Berücksichtigung dieser Tatsache. Er organisierte das Spiel unprätentiös und schuf dadurch die notwendigen Räume, um die inneren Vorgänge der Figuren sicht- und fühlbar zu machen. Er setzte dabei auf den Witz LaButes und dessen anspruchsvolle Gedankengänge. So blieb das Spiel vom ersten bis zum letzten Augenblick spannend und fesselnd. Neil LaButes Texte mögen zwar Kunstkonstrukte sein, doch sie bewegen sich messerscharf durch die Realität. Da war kaum ein Zuschauer, der sich in diesem Stück nicht in irgendeiner Weise wiederfand. Das ist eine Voraussetzung für gutes Theater, wenn zudem die szenische Umsetzung gelingt.

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Pascal Fligg

© Gabriela Neeb

Bei Helmbold stimmte sie, denn es gelangt ihm, die Darsteller zu präzisem und engagierten Spiel zu verleiten. Pascal Fliggs erspielte die Metamorphose des „Losers“ Adam nicht nur physisch. Immer wieder gelangte er an die Grenzen der Selbstverleugnung, was ihn in tiefe seelische Qualen stürzte, ohne dass er dabei „brunnenvergiftend“ (So bezeichnete Marlene Dietrich das Spiel Emil Jannings in „Der blaue Engel“.) wurde. Xenia Tilings Evelyn war in ihrer Eloquenz rasierklingenscharf und unterkühlt. Wenn beide dann erotische Momente spielten, übrigens sehr schön unaufdringlich gestaltet, deutete sich der zwiespältige Charakter ihrer Figur immer wieder neu an, die in der letzten Szene eine brachiale Aufklärung erfuhr. Zu keiner Zeit verlor diese Evelyn die Kontrolle über die Vorgänge, die sie virulent vorantrieb. So erfasste der Strudel der Manipulation jede in den Bannkreis geratenen Figur. Erstes Opfer war Phillip, der narzisstische Freund und einstiger Mitbewohner Adams. Robin Songermann gab eine Figur, die sich sehr schnell aus der Reserve locken ließ und die (Selbst-) Kontrolle verlor. Sondermann erzeugte ein Explosivität, die die Szenen, in denen er auftrat, beinahe zum Kippen brachte. Doch sie kippten nicht. Davor war die Unbedarftheit der Jenny. Christine Pauls spielte eine so verstörte, defensive und nicht selten auch überforderte Jenny, dass sich natürliches Mitgefühl, wenn auch nur rudimentär, bei den anderen, sehr eigensinnigen Protagonisten einstellte, was den emotionalen Druck maßvoll hielt.

Immerhin ist der Titel des Stücks „Das Maß der Dinge“. Schnell wurde erklärt und deutlich, dass das Maß sehr subjektiv ist. Doch wenn die Subjektivität und der eigensinnige Anspruch darauf dazu führt, dass man sich auf nichts mehr einigen kann, stimmt etwas nicht. Und genau darum ging es. Wenn Individualismus in Asozialität mündet, beweist das nur, dass selbst (vorgeblich) liebende Menschen, sehr weit auseinander gerückt sind, dass Liebe zum Instrument geworden ist. Wie weit das führen kann, erfuhr der Zuschauer dann in der Schlussszene.

Es war ein gelungene Inszenierung, die nur empfohlen werden kann. Gutes Handwerk des Regisseurs, eine intelligente Umsetzung des Textes und engagiertes und diszipliniertes Spiel der Darsteller schufen ein Diskussionsangebot zu Fragen, die wohl jeden bewegen. Neil LaBute ist ein kluger Autor, der einige schlüssige Antworten zu geben vermag.


Wolf Banitzki

 

 


Das Maß der Dinge

von Neil LaBute

Pascal Fligg, Kristina Pauls, Robin Sondermann, Xenia Tiling

Regie : Florian Helmbold

Volkstheater Felix Krull nach Thomas Mann


 

 

 
… wäre … wenn

Was wäre, wenn Mensch sich auf die bloße Natur seines Seins beschränkte? Was wäre, wenn der „schöne Schein“ fehlte? Was wäre, wenn Mensch seine Eigenschaften unkultiviert vegetieren, wuchern ließe?

Nun, darüber wollen wir nicht weiter nachdenken. Geht es doch in dem Schelmenroman „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ von Thomas Mann um die Kultivierung spezieller menschlicher Eigenschaften und die damit im Dasein verbundenen Erlebnisse. Felix Krull, Sohn eines Sektfabrikanten, erfasst sehr früh seine schauspielerischen Fähigkeiten und beginnt diese gezielt einzusetzen. So gelingt es ihm beim Wehrdienst, ausgemustert zu werden. Danach sucht er sein Glück in Paris, steigt, wenn auch vorerst als Liftboy, in die Hotelbranche ein. Er kauft den ersten feinen Anzug und begibt sich auf die „andere“ Seite. Ein vorübergehender Rollentausch mit dem Marquis de Venosta  eröffnet ihm den Einstieg in die Gesellschaft und als er am Ende die Rolle nicht mehr spielt, sondern lebt, steht er persönlich an seinem eigenen Ende.

Drei Kindheitserlebnisse prägen den Protagonisten. Bastian Kraft begann mit diesen seine Inszenierung. Es sind wesentliche Grundmerkmale, die der Erfahrung von Aufmerksamkeit folgen und deren Wirkung rezipieren. Die Nachahmung, die Vorspiegelung und die umfassende Erkenntnis. Drei beleuchtete Rahmen füllten die schwarze Bühne, als wären sie Ebenen einer Persönlichkeit, die hier erkennbar werden. Am Protagonisten Felix Krull machte Bastian Kraft auch eine Sicht auf ein gesellschaftliches Phänomen fest, denn die Hochstapelei ist auf dem Vormarsch, und das in mehr Bereichen, als man auf den ersten Blick hin annehmen möchte. (Siehe dazu auch das Programmheft.)

Es sind oftmals Verrenkungen, die Mensch ausführt um ein Lebensprogramm zu erfüllen, einen Platz in der Gesellschaft zu finden und einzunehmen, indem er ein „Bedürfnis“ ebendieser bedient. Nach dem Bibelwort „… im Schweiße deines Angesichts …“ bringen sich die Krull’s  über die Runden des Lebens. Denn auch Hochstapler, Betrüger und Diebe schwitzen. Natürlich nicht so offensichtlich wie ein Schmied,  oder die drei brillanten Schauspieler angesichts der körperlichen Leistungen in der Inszenierung, sondern eher subtil.

Was wäre, wenn wir nicht mehr sehen wollten, wie Menschen sich krümmen? Wenn diese aufhörten sich zu verbiegen, zu spreizen, zu jonglieren, zu schwitzen, zu buckeln in dem Bemühen, anderen zu gefallen. Wenn sie aufhören könnten, über die Maßen einen „schönen Schein“ zu bedienen, diesem ja geradezu zu huldigen, um Applaus in Form von Geld, Anerkennung und falschem Beifall zu ernten und damit zu überleben, in diesen Zeiten des Geldkrieges. Doch noch ist Schadenfreude eine Triebfeder der Unterhaltung, und erst wenn das Gebäude des Selbstbetrugs …  Dann würde es wieder zum Selbstverständnis gehören, wie Ford Madox Ford es in dem Buch über den 1. Weltkrieg schrieb, und: „…ein Mann wieder einmal aufrecht auf einem gottverdammten Hügel stehen können. …“  Und die Kunst sich zu verbiegen, würde wieder zu Kunst.
 

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Justin Mühlenhardt, Nicola Fritzen, Pascal Fligg

© Yvonne Kall

 

Pascal Fligg, Nicola Fritzen, Justin Mühlenhardt, sind drei grandiose Darsteller, die mimisch, sprachlich und körperlich zu Höchstform fanden und in der konsequenten Umsetzung keine Geste, keine Sekunde verschenkten. Hochartifiziell, unterhaltsam und ebenso veranschaulichend aufklärend war die Aufführung unter der Regie von Bastian Kraft. Mehr zu verraten, würde die Spannung vor dem Theaterbesuch mindern. Denn, um es mit Trendworten auszudrücken: Man muss es gesehen haben. Fünf Sterne Applaus aus dem Publikum für Darsteller und Regie.



C.M.Meier

 

 


Felix Krull

nach Thomas Mann

nach Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull von Thomas Mann
Fassung Bastian Kraft

Pascal Fligg, Nicola Fritzen,Justin Mühlenhardt

Regie: Bastian Kraft

Volkstheater Einer flog über das Kuckucksnest von Dale Wasserman nach dem Roman von Ken Kesey




Im Volkstheater „geht der Punk ab“

Der Roman von Ken Kesey erzählt die Geschichte des Strafgefangenen Randle P. McMurphy, ein Mann, dem seine individuelle Freiheit wichtiger ist als die repressiven empfundenen Regeln der Gesellschaft. Er wurde zum Outlaw, weil ihn sein eigenes Gerechtigkeitsempfinden überschäumen ließ. Körperverletzung, Ruhestörung und Erregung öffentlichen Ärgernisses brachte ihm ein Haftstrafe ein. Um diese erträglicher zu gestalten, ließ er sich in eine psychiatrische Klinik einweisen. Ein fataler Fehler, wie er letztlich erkennen musste. Während er im Gefängnis lediglich seiner physischen Freiheit beraubt wurde, versuchte man in der Psychiatrie seine Persönlichkeit zu brechen und in Fesseln zu legen. Die Einrichtung, ganz dem Wohlwollen der Gesellschaft verschrieben, entpuppte sich als faschistoid.

Mann kann über diese Geschichte nicht reden, ohne den Film von Milos Forman hinzu zu ziehen. Es ist einer der besten Filme, die je gedreht wurden. Und das kommt nicht von ungefähr, denn die eigene Geschichte des Regisseurs spielt in dieses Meisterwerk hinein. Forman kommt aus der ehemaligen Tschechoslowakei, wo er als Filmemacher (Der Feuerwehrball) schnell aufsehen erregte. Hollywood wurde bald auf Forman, den Nonkonformist im Realsozialismus, aufmerksam und lud ihn ein. Kirk Douglas hatte gerade die Filmrechte des Kesey-Buches erworben. Sein Sohn Michael sollte die Rolle des McMurphy übernehmen. Sie sprachen darüber. Forman zeigte sich interessiert und Douglas versprach, ihm das Buch zukommen zu lassen. Gesagt, getan, doch nichts geschah. Viele Jahre später, Forman war inzwischen nach Amerika ausgewandert, trafen Douglas und der Regisseur wieder aufeinander. Douglas wollte wissen, warum Forman sich nie gemeldet habe? Er hatte ihm das Buch, wie versprochen, geschickt. Was Douglas offensichtlich nicht wusste, es war nicht erlaubt, Druckerzeugnisse aus einem „nichtsozialistischen“ Land in den meisten Staaten des Ostblocks einzuführen. Der tschechoslowakische Zoll, oder besser der Geheimdienst, hatte das Buch konfisziert. Welche Ironie steckt doch in dieser Geschichte, angesichts des Inhalts diese Buches.

Es geht in diesem Buch, wie auch im Film von Forman um mehr, als um eine Klinik, die sich faschistoid geriert. Zudem ist das Problem der Gleichschaltung, der Gefügigmachung ein systemübergreifendes. Hat die Inszenierung von Simon Solberg diese Dimension deutlich machen könne und hat sie sie transportiert? Das muss in tiefster Überzeugung mit Nein! beantwortet werden. Der selbstbewusste Regisseur Solberg, der sich vermutlich selbst als ein exorbitantes Enfant terrible des Theaters versteht, hat aus der großartigen dramatischen Bearbeitung von Dale Wasserman eine postpubertäre Freakshow gemacht, in der „heftig Punk abging“.

kuckucksnest

Johannes Schäfer, Özgür Karadeniz, Justin Mühlenhardt, Jan Viethen

© Arno Declair

Im Programmheft zur Inszenierung kann der Theaterbesucher Auszüge aus dem Buch „Irre! Wir behandeln die Falschen – unser Problem sind die Normalen“ von Manfred Lütz lesen. Die Passagen sind ohne Frage sehr aufschlussreich zum Problem Wahnsinn. Doch diese Zitate haben einen Mangel. Sie benennen die Hauptprobleme nicht wirklich, die gesellschaftliche Relevanz. Die spätbürgerliche Gesellschaft höchstselbst gebiert den Wahnsinn, fördert Selbstentfremdung, Sucht, Narzissmus und Gleichschaltung. In einer Gesellschaft, die sich ausschließlich durch ökonomisches Wachstum stabil erhält, ist nur der Konsument ein guter Bürger. Inwieweit ist der Konsument noch Mensch? Inwieweit hat hier die Gleichschaltung schon ihr zerstörerisches Werk geleistet? Nein, nicht der einzelne Nonkonformist ist das Problem für das System, sondern das bewusste Individuum, der Minderleister, der Aussteiger. Und diese sind nicht zwangsläufig auffällig. In Keseys Roman werden Menschen behandelt, die infolge ihrer von der Gesellschaft verursachten Selbstentfremdung sekundär Psychosen und Macken entwickeln.

Regisseur Solberg geht gegen die „Tyrannei der Normalität“ an. Das System an sich wird akzeptiert; er plädiert für Toleranz für des „Extraordinäre“. Das ist ein alter Hut, spätestens seit Konstantin Wecker sang: „Es müssen mehr Chaoten her! Dann wird es wieder menschlicher und nicht mehr so despotisch“: (Aus dem Gedächtnis zitiert.)

Chaos fand statt, und zwar geistiges. Ein ganzer Zitatenkatalog wurde aufgelistet, von Soaps über Action bis hin zu Insidermusic. Eine Plattitüde jagte lautstark und actionreich die nächste und auch die deutsche Bundesregierung wurde nicht verschont. Raps bürsteten Botschaften aus dem Bewusstsein und erhielten Szenenapplaus. Comedy allenthalben und die Schauspieler „ließen die Sau raus“. Das von Solberg sinnfällig gestaltete Bühnenbild, eine überdimensionale Gummizelle, wurde zum Schlachtfeld. Doch in dieser Schlacht gab es keine Gewinner, selbst wenn die Darsteller am Ende mit Tüten auf dem Kopf, auf denen das Konterfei McMurphys zu sehen war, in die Freiheit gelangten. Auch nur wieder ein neuer Fetischismus und in welche Freiheit? Doch nur in die altbekannte. Der Antispießer war auch nur ein Spießer. Das fühlt sich im Film, wenn Häuptling Bromden in den freiheitlichen Morgen geht, ganz anders an, in jedem Fall größer.

Über Geschmack kann man ja bekanntlich nicht streiten, und so soll auch kein Anlass zum Streit gegeben werden. Das Publikum war gespalten, sichtbar in jung und alt. Frenetischer Applaus stand Ratlosigkeit gegenüber. Das wird sich in den nächsten Vorstellungen sicherlich ändern, denn es wird sich schnell herumsprechen, dass im Volkstheater „der Punk abgeht“. Und die Nintendo-Generation wird sich das nicht entgehen lassen. Spaß werden sie ohne Zweifel haben.
Übrigens, am Vorabend „Die Perser“ in der Bayern-Kaserne – was für ein künstlerischer Gegensatz!

 

Wolf Banitzki

 

 


Einer flog über das Kuckucksnest

von Dale Wasserman nach dem Roman von Ken Kesey

Jean-Luc Bubert, Justin Mühlenhardt, Johannes Schäfer, Jan Viethen, Max Wagner

Regie: Simon Solberg