Volkstheater Ghetto von Joshua Sobol


Spielen und Singen gegen den Tod

Joshua Sobol wurde 1939 als Sohn osteuropäischer Einwanderer geboren. Er studierte an der Pariser Sorbonne Philosophie und arbeitete als Lehrer in einem Kibbuz. Mit Stücken wie „Weiningers Nacht“ (1982) und „Ghetto“ (1984) errang er Weltruhm. Als er 1988 sein Stück „Das Jerusalem Syndrom“ zur Uraufführung brachte, kam es in Haifa, wo er vier Jahre lang das Theater leitete, und in ganz Israel zu Protesten und heftigen Auseinandersetzungen. Eine Aufführung in Tel Aviv wurde während der Vorstellung von den Rechten gestürmt und die Aufführung mit einer Lärmgranate attackiert. Sobol, der in dieser Zeit um sein Leben fürchtete, trat von seinem Amt als künstlerischer Leiter zurück und ging nach London, wo er sich ausschließlich dem Schreiben widmete. Er ist einer der heftigsten Kritiker der israelischen Politik. Und er ist ein permanenter Agitator für Gerechtigkeit, Vernunft und Frieden, was insbesondere bei der herrschenden Politik Missfallen erzeugt.

Das Drama „Ghetto“  erzählt vom Ghetto Wilna, dem heutigen Vilnius. Der von den Deutschen eingesetzte Ghetto-Polizeichef Gens kämpft mit allen Mittel darum, die jüdische Bevölkerung vor dem Zugriff der Faschisten zu schützen. Die Handlung beginnt in einer Zeit, in der von der jüdischen Bevölkerung, 1940 belief sich ihre Zahl noch auf 80.000, nur noch 16.000 übrig geblieben waren. Gens Widersacher ist der verantwortliche Offizier für jüdische Angelegenheiten in Wilna Hans Kittel. Doch Gens hat auch Widersacher in den eigenen Reihen. Kruk, der einstige Kommunist fordert von Gens den Aufstand gegen die Peiniger. Er prangert ebenso den Plan Gens an, im Ghetto ein Theater zu etablieren, dem der Schauspieler Srulik vorsteht. Durch diese Einrichtung erhielten die jüdischen Künstler Arbeitsscheine, die sie vor willkürlichen Hinrichtungen oder Abtransporten in das Tötungslager Ponary zumindest zeitweise schützten. Zu ihnen gehörte Sängerin Chaja. Als Vorlage für diese Figur diente Sobol die Sängerin Lyuba Levicka, die beim Schmuggeln von zwei Pfund Hafer und etwas Butter erwischt und hingerichtet wurde. Gens muss allerdings auch seinen Mitbürger Weisskopf unter Kontrolle halten, der eine profitable Uniformreparaturwerkstatt aufgezogen hat und seine Mitbürger auf schamloseste Weise ausbeutet. Gegen Gens arbeiten aber auch die Verhältnisse, denn Gens muss drakonische Strafen, auch Tötungen, an seinen Mitbürgern vollstrecken, wenn sie gegen die Gesetze im Ghetto verstoßen haben.

 

  GhettoVolkstheater  
 

Pascal Fligg, Robert Joseph Bartl

© Arno Declair

 

Gens kollaborierte, tötete eigenhändig und wurde am Ende selbst Opfer der Naziwillkür. Er führte einen aberwitzigen Kampf, um seinen jüdischen Leidensgenossen das Überleben zu ermöglichen. Die deutsche Gründlichkeit aber obsiegte. Nur sehr wenige Juden entkamen der Hölle des Ghettos.

Joshua Sobol erzählte die Geschichte ungeschminkt und frei von jeglicher Beschönigung. Der Grund, warum er dieses Stück so schrieb, wie er es schrieb, ist im Heute verankert. Sobol wollte ergründen, was die seelischen Verletzungen der Juden durch die Nazis zur Folge hatte. Er kam zu dem Schluss, dass das heutige Verhalten Israels, insbesondere der rechten Kräfte, durch eben diese Vorgänge im Dritten Reich, durch die Erniedrigung und Tötung von 6 Millionen Juden, das Resultat ist. So stellten sich die Israelis selbst das Mandat zum Töten aus. Der Kampf, den sie im Ghetto nicht führten, findet jetzt statt. Im Ergebnis dieses Kampfes wird willkürlich getötet und es werden Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Sobol spricht damit etwas aus, was nicht politisch korrekt ist, da sich Kritik im Angesicht von 6 Millionen Opfern nicht schickt. Er lehnt die „Ausschwitzkeule“ vehement ab und plädiert für die Vernunft, die Probleme im Nahen Osten (und gemeinhin überall) miteinander zu lösen.

Obgleich alle Vorgänge im Stück durch die dokumentierte Realität abgesichert sind, kann man dieses Stück nicht rational erfassen, ohne emotional überwältigt zu werden. Dazu sind die Ereignisse zu unfassbar. Sie entziehen sich der menschlichen Vorstellungskraft. In Sobols Drama avancieren die Juden nicht zum „auserwählten Volk“, sie bleiben mit allen ihren Schwächen und Fehlern, wie man sie bei allen Menschen, egal welcher Religion, Weltanschauung oder Rasse findet, das Volk, welches von wahnsinnigen Politikern für die Ausrottung ausgewählt wurde. Das ist die bedeutendste Qualität dieses Stückes, die allerdings auch polarisiert, denn die ideologischen Verblendungen auf allen Seiten sind nach wie vor real.

Stefan Hageneier schuf für Christian Stückls Inszenierung einen düsteren Raum, der angefüllt war mit den Kleidern der inzwischen ca. 50.000 hingerichteten Juden. Der Tod bildete das Fundament für das Ringen um das Überleben. Schon das Bühnenbild ließ erkennen, dass es kein Entrinnen geben konnte. Es gab keinen einzigen Farbtupfer, alles war in Schwarz oder Grau gehalten. Es gab im Ghetto den Befehl, dass keine Blumen erlaubt seien. Gründlicher kann Perversion kaum sein. Vier Schauspieler stachen aus dem fabelhaft agierenden Ensemble heraus. Robert Joseph Bartl, er ist seit dieser Spielzeit Mitglied des Ensembles, spielte den Theaterleiter Srulik. Er schuf eine subtile Komik, die allerdings kein befreiendes Lachen provozierte, sondern das Grauen forcierte. Er war der eigentliche Gegenspieler zu Pascal Fligg Kittel, einer perfiden, diabolischen und pathologischen Sadisten. Fligg stellte in dieser Rolle die negative Großartigkeit des Bösen aus und er brillierte dabei in jeder Hinsicht. Sein Kittel war eine vielschichtige Persönlichkeit mit einer ausgeprägt sadistischen Intelligenz, ein teuflischer Spieler, stets darauf bedacht, sich selbst gut zu unterhalten. Johannes Meier gab seinen Gens kraftvoll und bestimmt, aber emotional verhalten. Vermutlich kam er damit dem wirklichen Gens nahe, denn wenn sich ein Mensch, der sich so Ungeheuerliches auflädt, auf seine Gefühle einlässt, kann er von diesen nur verschlungen werden. Er verkörperte eine gradlinige Respektsperson, der man weitestgehend folgte. Magdalena Wiedenhöfer verkörperte den einzigen weiblichen Part auf der Bühne, die Sängerin Chaja. Sie war den Begehrlichkeiten Kittels ausgesetzt, der schon mit dem ersten Satz das Damoklesschwert gegen sie zog. Sie sah sich schutzlos ausgeliefert und musste mit der permanenten Bedrohung leben, was unverhältnismäßig an ihren Nerven zerrte. Überleben konnte sie nur singend, und zwar in ihrer Muttersprache. In ihrem Gesang schwangen alles Leid und alle Sehnsüchte der Ghettobewohner mit.

Diese grandiose Inszenierung von Christian Stückl gehörte zu dem Bewegendsten, was in den letzten Jahren auf Münchens Bühnen zu sehen war. Das verdankte sie neben den großartigen Leistungen der Darsteller, dem trefflichen Bühnenbild und der gelungenen Einrichtung durch Regisseur Stückl auch der musikalischen Begleitung durch das Trio „Levantino“ (Michl und Max Bloching und Tom Wörndl). Ihre lebendige, direkte und melancholische Musik transportierte das jahrtausendealte Lebensgefühl der jüdischen Seele und nahm den Betrachter mit jedem Ton für sich ein. Dieser Abend, an sich unvergesslich, war ein Abend gegen das Vergessen (oder auch Verdrängen) von Geschichte und ein Mahnruf, endlich Vernunft walten zu lassen, ohne dabei ideologisch zu penetrieren. Es war ein Abend mit einer großen humanistischen Botschaft.

Wolf Banitzki

 


Ghetto

von Joshua Sobol

Robert Joseph Bartl, Pascal Fligg, Johannes Meier, Leon Pfannenmüller, Magdalena Wiedenhofer, Sohel Altan G., Ercan Karaçaylı, Benedikt Geisenhof, Martin Schuster

Regie: Christian Stückl

Volkstheater Der große Gatsby von F. Scott Fitzgerald


 

 

Wenn Illusionen tödlich enden

Jay Gatsby ist eine der großen tragischen Figuren in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Sein Schöpfer F. Scott Fitzgerald war Protagonist in einer Welt, die in den Roaring Twenties den Tanz auf dem Vulkan vollführten und die teuer dafür bezahlten. Jay Gatsby war dem Bild einer Frau aus reichem Hause verfallen, die er als junger Leutnant liebte, die ihn jedoch nicht erhörte, weil er arm war. Er konnte ihrem Bild nicht entrinnen. Gatsby wurde reich und erwarb einen Palast an den Gestaden Long Island, unweit von New York, wo sich die Reichen und die Nabobs der Geldmetropole niedergelassen hatten. So auch das geliebte Wesen Daisy und ihr vermögender Mann Tom Buchanan, ein rassistischer und grobschlächtiger Ex-Footballspieler, der (in der Spielfassung) als Polospieler Bekanntheit erlangt hat. Am Anleger des Anwesens brennt allnächtlich ein grünes Licht, welches Gatsby von seinem Anleger aus sehen kann. Das Licht wird zum Hoffnungssymbol für den einsamen Mann, dessen rauschende Partys legendär sind.
 
Gatsbys Nachbar Nick Carraway ist zufällig Daisys Cousin zweiten Grades. Bei einem Besuch der Cousine lernt er die junge, schöne und selbstbewusste, aber auch berechnende Jordan Baker kennen. Sie verführt Nick dazu, in seinem Haus ein Treffen zwischen Daisy und Gatsby zu arrangieren. Für eine kurze Zeit scheint es, dass Gatsby die Vergangenheit zurückholen kann. Doch es entpuppt sich als eine Illusion. Nach einer Auseinandersetzung zwischen Gatsby und Tom Buchanan kommt es fataler Weise zu einem Unfall, bei dem Daisy die Geliebte ihres Mannes, Myrtle Wilson, tötet. Gatsby übernimmt dafür die Verantwortung und wird von Myrtles Mann getötet. Daisy ist emotional bald schon zu ihrem Mann zurückgekehrt. Die Affäre wird nicht mehr erwähnt. Für Jay Gatsby war die große Illusion seines Lebens, die Liebe zu Daisy, tödlich.
 
F. Scott Fitzgerald verarbeitete in seinem hoch gelobten Roman die Widersprüche des „American Dream“ nach dem 1. Weltkrieg. Sein Fokus galt dem Verhältnis von Reichtum und Moral und dem daraus resultierenden Untergang eines tradierten Familienbildes. Die Roaring Twenties waren geprägt von Genusssucht und Ausschweifung. Sie endeten bekanntermaßen in der bis dahin größten Weltwirtschaftskrise. Jay Gatsby vertraut auf seinen Reichtum, dessen Herkunft ominös ist, und lebt in der romantischen Hoffnung, die Angebetete durch die Aussicht auf ein königliches Leben an sich binden zu können. Das Wort Liebe wird in diesem Werk über die Maßen strapaziert. Diesem unwirklich scheinenden, weil überirdischen Gefühl zu entgegnen, brachte der junge Regisseur Abdullah Kenan Karaca seine (gemeinsam mit Katja Friedrich erarbeitete) Fassung auf die Bühne, in der er die Lovestory weitestgehend auf die Funktion eines Transportmittels reduzierte. Die Größe des Romans von Fitzgerald liegt im Scheitern des Protagonisten und das Spannende daran ist der Weg dorthin. Es ist ebenso ein Stoff für einen Krimi (Verfilmung von Elliott Nugent 1949), wie für eine intime Liebesgeschichte (Verfilmung von Jack Clayton 1974), oder wie für ein von Musik geschwängertes Bilderepos (Verfilmung Baz Luhrmann 2013).
 
Regisseur Abdullah Kenan Karaca brachte den großen Stoff auf die Kleine Bühne des Münchner Volkstheaters. Er verzichtete weitestgehend auf Bilder und reduzierte die Geschichte auf die zwischenmenschlichen Abläufe, wie sie sich aus den Charakteren der Rollen ergaben. Und da er selbst noch ein junger Künstler ist, geschah das mit einer jugendlichen Sicht auf durchaus heutige Figuren. Max Wagners Gatsby war ein egozentrischer Mann, dessen Souveränität schnell ins Bröckeln geriet, wenn es ans Eingemachte ging. Er war einerseits der Hasardeur, der er auch sein musste, um in so kurzer Zeit ein so großes Vermögen anzuhäufen, andererseits aber der junge, verklemmte Leutnant, als der er Daisy verfiel. Wagner gab einen coolen Mafiosi und kippte im nächsten Moment ab in das ängstliche Vibrieren und in die Launenhaftigkeit eines pubertierenden Knaben. Jakob Geßner gab den Nick Carraway, einen bis an die Grenzen des Grotesken schüchternen Börsenmakler, der als Einziger die Ausmaße des Handelns Gatsbys voraus sah. Mit seinem Engagement machte er sich im Kreis der selbstverliebten Snobs immer wieder lächerlich. Seine Versuche, witzig zu sein, scheiterten häufig gründlich. Pascal Fligg war eine gute Besetzung für die Rolle des Tom. Er gab den zwanghaft heiteren Entertainer ebenso rüde bedrohlich, wie den eifersüchtigen Ehemann oder den in seiner Eitelkeit gekränkten Protz. Lenja Schultzes anmutige, aber kühl berechnende Jordan Baker fiel in ihrer Darstellung ein wenig aus dem Rahmen. Sie blieb auf die beobachtende, die Fäden zu ihrem eigenen Nutzen ziehende Schöne reduziert. Die Daisy wurde schließlich von Constanze Wächter gespielt. Sie gab eine Frau, für die das ganze Leben nur ein romantisches Spiel zu sein schien und die, wenn es für sie emotional eng wurde, ihr Entscheidungen abgefordert wurden, sich überfordert und hysterisch zurückzog. Diese Daisy war ein Blendwerk der Natur und der sie umgebenden Gesellschaft, ein teurer, gespreizter Schmetterling, der den Blick auf sich zieht, und die Mitmenschen schnell die Kontrolle verlieren lässt. Ihre Hohlheit, Dummheit und Oberflächlichkeit machen das Schicksal Gatsbys umso tragischer.

  DerGrosseGatsbyVolkstheater  
 

Max Wagner, Constanze Wächter

© Daniel Delang

 

Abdullah Kenan Karaca inszenierte mit lockerer Hand, erfreute mit so manchem netten Einfall, wie einem Hubschrauberrundflug oder Turnübungen am Reck, um amerikanische Mannhaftigkeit und Patriotismus auszuloten. Der Autounfall war nicht mehr als ein Lichtblitz und nachher lag das zerschmetterte Gehirn Myrtle Wilsons auf dem kleinen Tisch, der gleichsam Schaukel war. (Bühnenbild: Yvonne Kalles) Über das machten sich denn auch die Überlebenden gierig her. Ein deutliches, aber der Situation angemessenes Bild, mit dem der Regisseur Flagge zeigte.

Wenn in dieser Inszenierung auch nicht unbedingt Sprachpflege betrieben wurde, so verhinderten die flapsigen Ein- und Auslassungen zumindest, dass die Geschichte in den Kitsch kippte. Es ist eine Inszenierung, die das junge Publikum erreichen wird. Und da die Jugend erfahrungsgemäß nicht unbedingt auf die Klassiker der Moderne versessen ist, kommt sie doch auf diesen Weg in den Genuss der Geschichte vom großen Gatsby. Auch wenn in historisierenden Kostümen gespielt wurden, blieben die Parallelen unübersehbar. Schade nur, dass das Stück kein prägnantes Ende fand und mehr oder weniger ausplätscherte. Das nahm der Inszenierung einen Teil ihrer Wirkung.

 

Wolf Banitzki

 

 


Der große Gatsby

von F. Scott Fitzgerald

Max Wagner, Jakob Geßner, Pascal Fligg, Constanze Wächter, Lenja Schultze

Regie: Abdullah Kenan Karaca

Volkstheater Gespenster von Henrik Ibsen


 

 

 

Gespinst Natur

 

Moderne Gespenster sind es, die heute die Welt bevölkern. Moralisch, pflichtbewusst, funktional, untergeordnet, ... von Stoff bedeckte Figuren. Es sind die Wiedergänger der Väter und Mütter, die die alten Seelen und deren Missgeschicke weitertragen. Die Erwartungen und Vorstellungen von Leben prägen schon im kindlichen Wachstum die Körper, werden zu eingefleischten Haltungen. Übertrieben? Nun, ein wenig Übertreibung braucht es schon, um auf Missverhältnisse aufmerksam zu machen. Denn die Wiederholung der Wiederholung von wiederholten Schwächen bestärken diese in einer Weise, welche sich längst aller Kontrolle entzogen hat. Und der Schatten von Gesetz und Moral vermag dies nicht mehr zu verdecken.

 

Henrik Ibsen beförderte auch den deutschen Naturalismus. Seine Stücke werden gerne wegen seines analytischen Herangehens an die Stoffe von Moral, Ehe, Gesellschaft gespielt, und sie fanden seit ihren Uraufführungen unzählige Interpretationen. Naturalismus, das heißt wirklich Rückbesinnung auf die Natur, die Natur des Menschen. Und wie es kaum anders sein kann, endet an ihr alle aufgesetzte Moral. Dass am Ende die Klüngelei um ein „Heim für Seefahrer“ zwischen Tischler Engstrand und Pastor Manders steht, wobei jeder seine eigenen Vorstellungen davon sieht, ist Zeichen ihrer Unbesiegbarkeit. Natur - die mächtigste rein opportunistische Macht, welche Mensch zu erfassen in der Lage ist. Diese zu bezwingen, in ein erdachtes Regelwerk zu fassen, um die Gemeinschaft zu Gesellschaft zu ordnen, ist wohl das schwierigste Unterfangen in der Geschichte der Menschen. Es gipfelt in die Unmöglichkeit sich gegen sich selbst, die eigene Natur aufzulehnen. Scheitern vorbestimmt.

 

Osvald kehrt nach Jahren in Paris und einer Karriere als Künstler zurück nach Hause. Seine Mutter Helene Alving lebt mit der Ziehtochter Regine im Haus und errichtet mit Pastor Manders ein Asylheim am Fjord. Pastor Manders, ein Freund der Familie, hält auf Moral. Alles wohlgeordnet, scheint es. Und doch reißen im Laufe nur eines Tages alle nur möglichen Abgründe auf. Die Inszenierung von „Gespenster“ am Volkstheater durch Sebastian Kreyer richtet den Focus vor allem auf die Beziehung. Die Beziehung zwischen dem, die Normen der Gesellschaft vertretenden, Pastor und der Witwe Helene und zwischen Mutter Helene und Sohn Osvald. Über allem und zwischen allen schwebt der Geist des toten Kammerherrn Alving. Doch nicht nur er wurde zum Gespenst, auch die noch Anwesenden hatten sich selbst längst abstrahiert.  Regisseur Sebastian Kreyer wählt eine vorgeblich unterhaltende Form der Inszenierung – „boulvardesk“ - sein wohl zutreffendstes Wort dafür. Die Komik des Tragischen stellt also eine Form des Abreagierens von Unwohlsein, von Bedrückung, von Hilflosigkeit vor. Seine Figuren sind gefangen in ihren überzogenen Vorstellungen.

 
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Oliver Möller, Ursula Burkhart

© Arno Declair

 

 

Manders, Pastor als Sinnbild des in einem Gott heilen Menschen, wirkte mehr als Karikatur, denn als Charakter. Gleich einem Selbstversuch, der schon an und in sich gescheitert erschien – auf der Bühne ein  grandios kaspernder Oliver Möller. Bis zur Witzfigur auch durch kalauernden Sprachwitz überzeichnet (Dramaturgie: Katja Friedrich), ersuchte er sich in der Vertretung von Kirche und Gesellschaft, einer unlösbaren Aufgabe. Die Flucht an einen neuen Tatort erlöste ihn schließlich doch. Gemeinsam mit der jungen enthusiastischen Regina - naiv gespielt von Mara Widmann - und dem von den „Unbekehrbaren gezeichneten“ Tischler Engstrand - überragend simple Präsenz von Pascal Fligg - verließ er am Ende den Fjord, die Sackgasse. Zurück blieb die von Ursula Burkhart verkörperte Helene. Ihre Verwandlung von der sozial engagierten Dame der Gesellschaft, über die in Hingabe an Mann und Familie sich aufopfernden, bis zur Mutter schlechthin, war überzeugend. Die Aufrechterhaltung von Schein gelang es als scheinbar  weibliche Grundeigenschaft herauszustellen. Doch auch hier siegte letztlich die Natur, die bedingungslose Liebe zum Willen des Sohnes, der Fleisch aus ihrem Fleisch ist. Osvald war augenscheinlich um Haltung bemüht und in der Haltung des Vaters, mit dessen Pfeife, gipfelte für den Anfang im Ende auch sein Bemühen. Die Lebensfreude der Jugend war ihm abhanden gekommen, zu schnell, zu grundlegend. Max Wagner erspielte kraftvoll greifbar einen jungen Mann, der für kurze Momente dem Glück nahe gekommen war, es erfühlt hatte, dessen Vergänglichkeit sich jedoch ebenso unmittelbar unabänderlich eingestellt hatte. Noch bei klarem Bewusstsein forderte er Hilfe, zuletzt die Hilfe der Mutter. Sie waren allein.

 

Der Glaube an einen Gott: Die Stimme aus dem Off hat seit tausenden Jahren das Elend keinesfalls gemindert, nur den Menschen zunehmend von sich selbst entfremdet. Handel und Mauschelei sind dadurch keineswegs geringer geworden, im Gegenteil. Nicht nur sie, sondern auch die Scheinheiligkeit hat zugenommen. Scheinheiligkeit aller Orten - Männer in der inneren Unvereinbareit von Vorstellung, Ordnung und ihrer Natur. Und eine moralische Ordnung an „einen Gott“ zu delegieren, führt bestenfalls zu Selbstentfremdung oder zum falschen Alibi. Hauptsache es wirkt.

 

Osvald trat an die Rampe, ans Mikrophon. Klar und explizit wiederholte er alle Sätze, die seine Welt bildeten. Alle Sätze, die sein Leben verdeutlichten und darin noch zu erwarten standen. Eine überflüssige Wiederholung am Ende der Aufführung könnte man behaupten, doch die Eindringlichkeit mit der Max Wagner die Worte frei von aller Ablenkung äußerte, verlieh eben diesen Worten, der Aussage enorme Nachwirkung.  

 

Was von der Welt übrig blieb: Die Lebensfreude wurde der Pflicht und Ordnung geopfert. Die Menschen sind an den Strukturen des Glaubens und der Moral gescheitert. Syphilis (auch symbolisch zu verstehen) greift Geschlecht und Kopf gleichermaßen an. Verzweiflung und Angst sind die letzten verbliebenen Seinszustände. Diese sind nur unter Betäubung zu ertragen – Morphium und jedweder geeignete Stoff um den Schmerz zu verzerren, Konsum von Waren und Lärm um sie auszublenden.

Da liegt es nahe den alltäglichen Aberwitz mit Witz zu überbieten. Und das darf dann ruhig auch ein wenig deftiger ausfallen, sind doch letztlich alle nur Gespinste der Natur.

 

 

C.M.Meier



 


Gespenster

von Henrik Ibsen

 

Ursula Burkhart, Max Wagner, Oliver Möller, Pascal Fligg, Mara Weidmann

Regie: Sebastian Kreyer

Volkstheater Julilus Cäsar nach William Shakespeare


 

 

Der lustige Untergang der EU im Volkstheater

Die Geschichte von „Julius Cäsar“ beschreibt eine historische Zäsur, nämlich den Übergang von der römischen Republik zur Cäsarendiktatur. Cäsar war in der Folge einiger Bürgerkriege de facto Alleinherrscher im Römischen Reich. Er erklärte die republikanische Staatsform für überlebt. Sie war für ihn „ein Nichts, ein bloßer Name ohne Körper und Gestalt“ (Sueton). Am 15. März 44 v. Chr. kam es schließlich unter der Führung von Gaius Cassius Longinus und Marcus Iunius Brutus zum Tyrannenmord an Gaius Iulius Caesar. Die römische Republik schien gerettet, doch Marcus Antonius, der Vertraute Cäsars, übernahm die Amtsgeschäfte und meldete seinerseits die Alleinherrschaft an. Octavian (später Kaiser Augustus), zuerst Gegner von Marcus Antonius, verbündete sich mit diesem und begründete gemeinsam mit Marcus Aemilius Lepidus Anfang November 43 v. Chr. das Zweite Triumvirat. Sie entfesselten eine unglaubliche Mordwelle im Reich und schlugen im Oktober/November 42 v.Chr. die Heere von Cassius und Brutus vernichtend. Damit war der Untergang der römischen Republik besiegelt und Octavian begründete 27 v. Chr. den Prinzipat, das römische Kaiserreich. Soweit die Historie in groben Zügen.

Der Shakespeare-Übersetzer Hans Rothe äußerte die Vermutung, dass es sich bei dem Drama nicht um eine in sich geschlossene Cäsarentragödie handelt, sondern um zwei Teildramen, die ihren Zusammenhalt durch die berühmte Rede des Marc Anton bekommen. Vieles spricht dafür. Diese Rede war eine rhetorische Meisterleistung und es legt den Verdacht nahe, dass sie den Verlauf der Weltgeschichte (Rom schrieb damals Weltgeschichte.) verändert hätte. Das ist natürlich Unsinn, denn die spätrömische Republik hatte sich auf natürlichste Weise überlebt. Es war nur noch eine Frage der Zeit und der passenden Persönlichkeit, ihr ein Ende zu bereiten.

Regisseur Csaba Polgár startete am Münchner Volkstheater nun den Versuch, eine Lesart des Shakespeare-Dramas zu finden, kritisch mit der heutigen Gesellschaft und den unterschiedlichen Generationen zu verfahren. „Er untersucht die Möglichkeiten eines riesigen Reiches – wie einst das römische Reich war –, das die kleineren Völker nutzt und ausnutzt, die aber schlau und unaufhaltbar ihren Lebensraum finden wollen.“ (aus: Pressemitteilung des Volkstheaters) Das ist bestimmt nicht unbedingt die nahe liegende Lesart, insbesondere, wenn man aus Ungarn kommt, ein Land, indem es um die Demokratie Dank des Wirkens von Männern wie Viktor Orbán oder Janos Ader nicht gerade zum Besten bestellt ist. Die bekannte ungarische Soziologin Zsusza Ferge äußerte 2013: "Leider habe ich während meiner langjährigen Praxis ein System erlebt, von dem ich dachte, dass es nie wiederkehrt. Das ist nun die dritte Diktatur meines Lebens, die sich da anbahnt.“ Wer sich mit Politik, auch deutscher, beschäftigt, dem werden die Parallelen zum Stück nicht entgangen sein. Nun gut, fragt sich, was Polgár meint mit seiner These von den kleinen Völkern im Riesenreich. Das Programmheft befragt, wird deutlich, dass das sich bei dem in der Krise befindendlichen Riesenreich um die Europäische Union handelt und bei den kleineren, ausgenutzten Völker vermutlich um die erst kürzlich beigetretenen östlichen Partnerländer wie z.B. Ungarn, Tschechien, Slowakei. Immerhin, eine gewagte These, der EU, die nun gerade einmal 20 Jahre alt ist, die gleiche Krise zu unterstellen wie dem Römischen Reich nach 700 Jahren Existenz.

 
  JuliusCaesarVolkstheater  
 

Katalin Szilágyi, Tamás Herczeg, Jean-Luc Bubert
Barbara Romaner, Johannes Meier, Mara Widmann,
Justin Mühlenhardt

© Arno Declair

 

Auf der Bühne agierten die „kleineren, ausgenutzten Völker“ in Gestalt von vier Plebejern: Carolin Adler, Katalin Szilágyi, Richárd Barbarás, Tomás Herczeg. Bei diesen Darstellern hörte man (ausgenommen Carolin Adler) den osteuropäischen Akzent. Sie waren das Reinigungspersonal, die Menschen für das Niedere, die sich immer wieder in gekonntem A capella-Gesang zusammenfanden und zu einer unauffälligen Macht wurden. Sie hatten den Betrieb in der staatlichen Trophäensammlung aufrecht zu erhalten und mussten sich von den Arbeit gebenden Bürgern anschnauzen und demütigen lassen. Dass die Bühne von Lili Izsák (zeichnete auch für die Kostüme verantwortlich) als Trophäensammlung gestaltet war, meinte, dass Politik und das Ringen um Macht eine permanente Jagd sei, bei denen naturgemäß auch Trophäen anfallen. Die dienstbaren Plebejer begleiteten und verfolgten das Spiel um Macht und Mord wie Satelliten.

Die Geschichte um Julius Cäsar und seine Widersacher war auf eine komödienhafte Dekadenzposse herunter gebrochen. So wurde die vor Machtbesessenheit ungeniert perfide agierende Ursula Maria Burkhart als Julius Cäsar auch nicht erdolcht, sondern von den Widersachern in einer Schuhputzmaschine zu Tode geschreddert. Mara Widmann, die in der Rolle des Cassius den Tyrannenmord organisierte, hatte mit ihrem betörenden Charme wenig Mühe, Jean-Luc Bubert als Brutus zu überzeugen, die Tat zu begehen. Der spielte einen etwas vertrottelten Idealisten, der mit Verwunderung hinnehmen musste, wie unterschiedlich sich die Realität zu seinen Vorstellungen entwickelte. Am Ende war er denn auch so wenig Herr seiner Sinne, dass er immerfort Text von seinen Mitspielern einforderte. Diesen running Gag zelebrierte man so lange, bis endlich der Satz kam: „Es ist kein Text mehr da.“ Dann durfte er sich selbst in der Schuhputzmaschine schreddern. Pascal Riedels Marc Anton war wohl die ernsthafteste Darstellung der Figur, wie sie von Shakespeare erdacht wurde, selbst als er sich in seiner Devotion vor Julius Cäsar lächerlich machen musste. Justin Mühlenhardt gestaltete seinen Casca als einen leicht zu verschreckenden Loser, dem man auch schon mal die Brille entwendete, um ihn gänzlich der Lächerlichkeit preiszugeben. Der Octavius von Leon Pfannenmüller war ein Springinsfeld mit Tennisstirnband und Barbara Romaners Portia, Ehefrau von Brutus, erregte Aufsehen mit der Forderung, dass man sie ihren ohnehin viel zu kleinen Auftritt an der Rampe doch bitte nicht stehlen solle. So gab es mehrere Erinnerungen ans Publikum, dass man sich im Theater befand.

Als zum Schluss nur noch Marc Anton und Octavius überlebt hatten, wurden diese von den Plebejern zerquetscht wie lästige Insekten. So also stellt sich Regisseur Csaba Polgár vor, wie die kleinen (unterdrückten) Länder „schlau und unaufhaltbar ihren Lebensraum finden wollen“. Der Vorhang ging zu und viele Fragen blieben offen, denn vieles ging einfach nicht zusammen. Der interessante Text des belgischen Althistorikers David Engels im Programmheft, in dem über die Erkenntnisse aus dem Studium der Römischen Geschichte die Existenz der Europäischen Union infrage gestellt wird, ist sehr unterhaltsam, doch hoch spekulativ. Die Lesart des Regisseurs erwies sich ebenfalls als sehr spekulativ. Da half auch das Adverb „nach“ vor dem Namen Shakespeare wenig, um diesen Bruch und den sehr oberflächlichen Umgang mit dem Thema zu rechtfertigen. Shakespeare hat mit seinem Drama kleinere Brötchen gebacken, doch die waren bedeutend sättigender.

 

Wolf Banitzki

 

 

 


Julius Cäsar

nach William Shakespeare

 in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel bearbeitet von Gergely Bánki und Ildikó Gáspár

Ursula Maria Burkhart, Leon Pfannenmüller,  Pascal Riedel, Jean-Luc Bubert, Mara Widmann, Justin Mühlenhardt, Johannes Meier, Barbara Romaner, Carolin Adler, Katalin Szilágyi, Richárd Barbarás, Tomás Herczeg

Regie: Csaba Polgár

Volkstheater Roberto Zucco von Bernard-Marie Koltés


 

 

 

Zucco – Das Böse in uns

 

Beim Eintritt in den Zuschauerraum wurde der Theaterbesucher von der offenen Bühne empfangen. Darauf ein Baugerüst, drei Stockwerke hoch. Sämtliche Darsteller waren auf oder vor dem Baugerüst präsent. Die Szene wurde vom splitterfasernackten Leon Pfannenmüller als Roberto Zucco gemessenen Schrittes umkreist. Er beobachtete, argwöhnte und wirkte angespannt. Dann begann das Spiel. Pascal Riedel und Justin Mühlenhardt, zwei Gefängniswärter, mutmaßten über Wahrnehmungen, die sie nicht festmachen konnten. Schließlich kamen sie zu der Einsicht, dass wohl ein Häftling geflohen sei. Es war Roberto Zucco, der alles abgelegt hatte, was ihn behindern könnte. Darum also die Nacktheit als Metapher für eine Form von Freiheit. Er floh über die Dächer, der einzige Weg, der ihm als Ausweg geeignet erschien.

 

Roberto ging Hilfe suchend zu seiner Mutter. Ursula Burkhart als unzugängliche Mutter stieß ihn von sich, denn immerhin hatte Roberto seinen Vater getötet. Sie erliegt seiner Umarmung, wird erstickt. Auf seiner Flucht vergewaltigte er ein Mädchen. Constanze Wächter gestaltete eine junge Frau, die ihren Peiniger dennoch zur Leitfigur erwählte, denn er hatte ihr die Unschuld und somit die Möglichkeit auf ein bürgerliches Leben genommen. Zucco tötete einen müden, ausgebrannten Kommissar (Jean-Luc Bubert), um an dessen Waffe zu gelangen. Schließlich kidnappte er eine Frau und erschoss deren Sohn.

 

Zucco tötet weder mit Vorsatz oder System, noch mit Emphase. Er tötet aus der Situation heraus, beseitigt jedes Hindernis, das sich ihm in dem Weg stellt. Bis hierhin erinnert das Drama von Bernard-Marie Koltés sehr an den Roman „Der Fremde“ von Albert Camus. Roberto Zucco zeigt kein Gefühl und stellt sich auch nicht den Konsequenzen seines Handelns. Der Unterschied zum erwähnten Werk von Camus besteht darin, dass Zucco einen Ausweg aus dem Dasein sucht, das ihm nicht (mehr) lebenswert erscheint. Leichen pflastern seinen Weg und es ist ihm weitestgehend egal.

 
  RobertoZucco  
 

© Arno Declair

 

 

Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Im April 1981 tötete Roberto Succo Vater und Mutter und misshandelte die Leichen auf grauenvollste Weise. Nach der Verurteilung und Verbringung in eine psychiatrische Haftanstalt flüchtete er am 15. Mai 1986 über das Dach der Einrichtung. Innerhalb von zwei Jahren tötete er in Frankreich zwei Frauen, einen Arzt und zwei Polizisten, beging in vier europäischen Ländern zahllose Raubüberfälle, Vergewaltigungen, Geiselnahme und vermutlich auch weitere Tötungsdelikte. Im Februar 1988 wurde er erneut verhaftet. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch nahm er sich in seiner Gefängniszelle in Vicenza das Leben. Roberto Succo war nicht gesellschaftsfähig, aber in seinem Egoismus auch kein Rebell. Er war, so suggeriert es die Geschichte, die Fleischwerdung des Bösen.

Für den jungen Regisseur Miloš Lolić war die Vorlage von Bernard-Marie Koltés bestens geeignet, einen Kriminalfall als Menschheitsdrama auf die Bühne zu bringen, für die er ebenso wie für die Kostüme verantwortlich zeichnete. Er vermied jede Form von Realismus, verfremdete sämtliche Rollen und Vorgänge soweit, dass der Zuschauer einer Handlung folgen konnte, ohne emotional verführt zu werden. Obgleich Miloš Lolić große Bilder schuf und auch im wahrsten Sinn des Wortes bewegte, erzählte er vornehmlich. Im Verlauf der Handlung wurden Versatzstücke von Kunst, Dekor und Realität aus der Menschheitsgeschichte an dem Gerüst plakativ zu einer Pyramide zusammengesetzt, auf dessen Gipfel Zucco vor seinem finalen Sturz thronte. Er hatte etwas prometheisches, wenngleich im negativsten Sinn. Als am Ende die Darsteller in archaischen Kostümen vor der Rampe erschienen, sie erinnerten stark an die wunderbaren Kostüme aus Pier Paolo Pasolinis „Medea“, und einen archaischen Gesang anstimmten, wurde deutlich, dass Miloš Lolić eine Antikentragödie gezaubert hatte.

Einziger Makel war, dass nach dem absoluten erzählerischen, wie auch emotionalen Höhepunk das Bühnenbild von den Darstellern demontiert wurde. Damit wurde ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wirkung wieder zurückgenommen. Besser wäre es gewesen, Lolić hätte das Bild mit dem Sturz Zuccos stehen lassen. Das hätte kathartische Wirkung gehabt und wäre ein starker Abgang gewesen.

Wie schon für „Bluthochzeit“ hatte Miloš Lolić auch für „Roberto Zucco“ eine ausgefeilte, erstaunliche und hervorragend funktionierende Ästhetik geschaffen, die dem Erzählgegenstand bestens entsprach. Dafür gebührt ihm und dem Ensemble höchstes Lob. Es bleibt zu hoffen, dass die vereinzelten Buhs für den Regisseur ungehört verhallten, denn sie entsprangen vermutlich einem Unverständnis oder einem Geschmacksurteil. Lolićs Wege sind neue Wege und es sind gute Wege, von denen er sich hoffentlich nicht abbringen lässt. Theater sollte in seinem Anspruch immer auch über das Publikum hinausgehen, um es zu bilden. Der Rest wäre bloße Unterhaltung. Da kann es eben schon mal geschehen, dass eine neue, eine ungewohnte Ästhetik nicht sofort greift.

Dem Stück tat es gut, denn es gelang Lolić und den Darstellern, eine höhere Ebene zu erklimmen, als die eines Kriminalstückes, bei dem der Reflex des Betrachters immer auf die gleiche Weise stattfindet. Es war an diesem Abend nicht mehr der Kriminelle Roberto Zucco im Focus der Betrachtung, sondern die dunkle Seite des Menschen. Damit war auch der Betrachter angesprochen, denn in jedem steckt ein potenzieller Zucco.

Der mit 41 Jahren an Aids verstorben Bernard Marie Koltés war kein Optimist in Bezug auf seine Mitbürger. Der immense Erfolg seiner Stücke war und ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass er keinen Kotau vor der Krönung der Schöpfung vollführt. Damit war er in jedem Fall auf der Seite der Wahrheit (oder zumindest einem Teil davon) und Regisseur Miloš Lolić und seine Mitstreiter waren es auch. Gratulation.

 

 

Wolf Banitzki



 
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Roberto Zucco

von Bernard-Marie Koltés

 

Jean-Luc Bubert, Ursula Maria Burkhart, Sohel Altan G., Johannes Meier, Justin Mühlenhardt, Oliver Möller, Leon Pfannenmüller, Pascal Riedel, Barbara Romaner, Lenja Schultze, Xenia Tiling, Mara Widmann, Helmut Stange, Constanze Wächter

Regie/Bühne/Kostüm: Miloš Lolić
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