Volkstheater  Kinder der Sonne von Maxim Gorki


 

 

Polonaise in die Revolution

Nach der recht eigenwilligen Interpretation von Shakespeares „Julius Cäsar“ in der vergangenen Spielzeit, wartete der ungarische Regisseur Csaba Polgár nun am selben Haus mit seiner Lesart von Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ auf. Das Drama um eine (spieß-) bürgerliche Familie im Russland des Jahres 1905, das Jahr, in dem der Beginn der proletarischen Revolution von 1917 mit dem „Blutsonntag“ eingeläutet wurde, gleicht einem Tschechowschen Panoptikum, nur etwas grobschlächtiger.

Hauptheld ist der eigenbrötlerische Wissenschaftler Pawel Protassow, der keine Zeit für seine gelangweilte Ehefrau Jelena erübrigen kann, die sich folglich auf eine Tändelei mit dem Kunstmaler Wagin einlässt. Die standesgemäß kränkelnde Schwester des Wissenschaftlers mit Namen Lisa sehnt sich nach Liebe, weist jedoch die des Tierarztes Tschepurnoj, ein Freund der Familie, bis zum Schluss vehement zurück. Der Wissenschaftler Pawel Protassow muss sich seinerseits den Nachstellungen der reichen Witwe Melanija erwehren. Nebenher wird der häusliche Frieden durch die Belange der Domestiken belastet, so durch den Schlosser Jegor, der regelmäßig und zum Entsetzen des Philanthropen Protassow seine Ehefrau verprügelt, oder durch den Dienstjungen Jascha, der mit seinem Körper Handel treibt und sich meistbietend an einen alten Mann und nicht an den schmierigen Hausbesitzer und Vermieter Nasar verkauft. Zusammengehalten wird dieses bürgerliche Familienbefindlichkeitstheater von der Amme Antonowna. Zumindest versucht sie es.

Maxim Gorki (1868-1936), der „proletarische Schriftsteller“ schlechthin, was seine literarischen Verdienste allerdings keinesfalls schmälert, entlarvte in dem 1905, während seiner Haft in der Peter-und-Pauls-Festung von St. Petersburg, geschriebenen Stück die gebildete bürgerliche Mittelschicht, die die Ordnung als von Gott gegeben nahm und frei von Empathie war für die große Zahl der verarmten und in Elend lebenden Massen. Er feindete diesen Teil der Intelligenzija nicht nur an, er disqualifizierte sie gleichsam von der Teilnahme an der Revolution, die sich letztlich proletarisch nannte, was in einem Land wie Russland, in dem das Proletariat seinerzeit verschwindend gering war, immerhin seltsam anmutet.  

Die Gesellschaft um Protassow ist eine tragikomische, denn sie bemüht sich redlich um die Ideen des Humanismus. Diese auch praktisch und handelnd umzusetzen, fühlt man sich allerdings nicht berufen. Die pathetische Deklamation reicht völlig. Und wenn Pawel Protassow das tut, findet zumindest die entzückte Witwe Melanija dies abendfüllend. Doch im Hintergrund gärt es. Und weil sich im Stück die Entrechteten und Geknechteten nicht so recht zu artikulieren vermögen, baute Gorki eine bedrohliche Metapher ein: eine Choleraepidemie, die sich langsam aber unaufhaltsam durch das gewaltige Russland frisst. Stichwort Epidemie! Spätestens hier sind wir im Heute angekommen. Dabei ist es nicht ganz ungefährlich, das „Gespenst des Kommunismus“ mit einer Choleraepidemie zu vergleichen, obwohl dieser geistige Kurzschluss sicherlich breite Zustimmung in der heutigen Gesellschaft finden dürfte.

  Kinder-der-Sonne  
 

Barbara Romaner, Tobias van Dieken, Constanze Wächter, Oliver Möller hinten: Tamás Keresztény, Gusztáv Molnár, Katalin Szilágyi, Diána Magdolna Kiss, Justin Mühlenhardt

© Arno Declair

 

Wie schon in „Julius Cäsar“ zeichnete auch in dieser Inszenierung Lili Izsák für Bühne und Kostüme verantwortlich. Und so verwunderte es auch nicht, dass sich Ähnlichkeiten auftaten. In Julius Cäsar gab es eine umfangreiche Trophäensammlung (Hirsch- und Bockgeweihe), im Gorki-Stück eine beträchtliche Sammlung von Marienfiguren, die in einem eigens eingerichteten Regal geparkt waren. Die Aufgabe von Ursula Maria Burkhart als Amme Antónowna schien es zu sein, diese glänzenden Figuren staubfrei zu halten, was sie auch hingebungsvoll tat. Was im „Julius Cäsar“ nur Andeutung war, wurde jetzt ästhetisches Postulat: Realismus bis Naturalismus. Die von kaltem Neonlicht beleuchtete Guckkastenbühne war mit schmutziger und reichlich verwahrloster 70er Jahre Tapete ausstaffiert. An den Stoßkannten züchtete Pawel Protassow zu wissenschaftlichen Zwecken Grün – und Braunalgen.  Rohrleitungen schlängelten sich an Wänden entlang und auch quer durch den Raum. Eine endete in einem Rondell, das sich bald als Whirlpool entpuppte, in dem die wohlsituierte Familie immer wieder relaxte. Sämtliches Mobiliar erinnerte nicht einmal andeutungsweise an die Belle Époque, die zur Entstehungszeit des Dramas im Untergang begriffen war, sondern an die Spätphase des osteuropäischen, real existierenden Sozialismus. Der allerdings stand historisch betrachtet noch bevor.

Das war allerdings nicht die einzige Ungereimtheit. Im Hintergrund gab es auf einem dicken Rohr ein Podest, auf das sich die Bediensteten zurückzogen und „Bilder“ vorstellten. Dabei entstanden auch schon mal Figurenensembles, die an bekannte Motive des sozialistischen Realismus erinnerten, beispielsweise an allegorische Figuren, die Hammer und Sichel gen Himmel streckten. Der Dienstjunge Jascha und das Dienstmädchen Luscha („Ich bin Jungfrau!“), frisch und knackig gespielt von den rotwangigen und streng gekämmten Justin Mühlenhardt und Diána Magdolna Kiss, erinnerten in blau-weißen Schüleruniformen mit weißen Kniestrümpfen an stramme DDR-Jungpioniere. Eine prophetische Vorschau auf eine Geschichte, die inzwischen auch hinter uns liegt? So recht erschloss sich die Logik dieser Spielart nicht.

Regisseur Csaba Polgár setzte in seiner Inszenierung dieser Komödie auf witzige szenische Lösung und auch auf Slapstick. Dabei ging der Sprachwitz und die Situationskomik, wie sie Gorki vorgab, häufig unter. Die Hauptrollen wurden mehr oder weniger einschichtig gestaltet. Oliver Möllers Pawel Protassow glich, obgleich er im Text durchaus auch ein Träumer ist, eher einem Laboranten, der stupide und mit Scheuklappen sein Pensum abarbeitete. Barbara Romaners Ehefrau war geradezu narzisstisch eher auf sich selbst fixiert, als dass sie das Kauzige ihres Mannes Pawel hätte bloßlegen können. Selbst Mara Widmann, sie spielte sehr aufwendig und agil, blieb in der Rolle der Witwe Melanija zu zweidimensional. Ebenso Max Wagner als liebender Tierarztes Tschepurnoj. Gerade diesen Figuren ist eine illustre Doppelbödigkeit gegeben. Wenn es einem Darsteller gelang, seine Figur in den Rang einer Kunstfigur zu erheben, dann war das Tobias van Dieken als Maler Wágin. Er konnte sich in einigen Szenen dem Sog des Realismus entziehen und eben die Komik freisetzen, wie sie von Gorki im Text angelegt ist.

Constanze Wächter als kränkelnde Lísa fixierte hauptsächlich das Sofa vor dem Fernseher, als könnte dieses davon springen. Neben einigen wenigen eruptiven Gefühlswallungen gehörte ihr zwar der Showdown am Ende, darüber hinaus blieb sie recht blass, kränkelnd eben. Für Tumult sorgte Gusztáv Molnár in der Rolle des saufenden und Frauen verprügelnden Schlossers Jegór. Bärenhaft durchmaß er die Szene und machte dabei gelegentlich eine recht putzige Figur. Irgendwie erinnerte er an Bruno. Fassungslos macht jedoch der Einsatz Jean-Luc Buberts in der nicht näher erklärten und kaum plausiblen Rolle des Jákow Tróschin. Bei Jean-Luc Bubert handelt es sich um einen der potentesten Darsteller des Ensembles. Als Tróschin war er ein Freund des Schlossers Jegór, der am Ende unvermittelt die Revolution einläutete, oder zumindest das, was er dafür hielt. Beinahe den gesamten zweiten Teil des Stückes stand er mit dem Gesicht zur Wand gekehrt, ein Flasche in der Hand, auf einer Leiter. Wenn das keine Vergeudung von Ressourcen ist! Seinen großen Auftritt hatte er in Form eines Unfalls, denn er stieg von der Leiter herab, um einen Knick aus einem Schlauch zu entfernen mit dem Oliver Möller Barbara Romaner abspritzte, weil die sich in ihrer Rolle eventuell mit Cholera infiziert hatte. Szenenapplaus für Bubert.

Regisseur Csaba Polgár präferiert Musik auf der Bühne und gestaltet sein Sprechtheater zu einer Art Revue. Das belebt und bietet sich bei Komödien durchaus an. Und so ist es nur konsequent, wenn sich die ganze Gesellschaft zu einer gnadenlosen, weil niemand auslassenden Polonaise zusammenfügt, mittels der man in die Revolution hinein taumelt.

Interessant war zuletzt die seltsame These von Buberts Jákow Tróschin, der erklärte, dass die Cholera nur eine Erfindung der Kapitalisten sei. Es ist der Ton, der die Musik macht und in den Worten Tróschins schwang bereits der Unterton mit, den Majakowski zum Wortlaut des Fanals  machte: „Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns!“ Was folgte, ist hinlänglich bekannt: Achtzig Jahre Diktatur des Proletariats.


Wolf Banitzki

 

 


Kinder der Sonne

von Maxim Gorki

Oliver Möller, Constanze Wächter, Barbara Romaner, Tobias van Dieken, Max Wagner, Mara Widmann, Leon Pfannenmüller, Gusztáv Molnár, Katalin Szilágyi, Jean-Luc Bubert, Antónowna, Ursula Maria Burkhart, Justin Mühlenhardt, Diána Magdolna Kiss, Tamás Keresztény

Regie: Csaba Polgár

Volkstheater Nystagmus - Eine große deutsche Kunstausstellung (UA)  von Eyal Weiser


 

 

Wollt Ihr die totale Interpretation?

Nun, groß war sie nicht, die „große deutsche Kunstausstellung – Nystagmus“ auf der Bühne des Volkstheaters, konzipiert und in Szene gesetzt von dem Israeli Eyal Weiser. Doch ein Aufreger war und ist sie allemal. Und, entgegen allen Befürchtungen, es war Theater, das Bildende Kunst zwar zum Thema, aber nicht hauptsächlich zum Inhalt machte. Anders als üblich, wo jede verkaufte Karte auch Beleg für die haushalterische Daseinsberechtigung des Theaters gilt, wurden aus technischen Gründen ca. 300 Karten verkauft. So war der Zuschauerraum nur etwa zur Hälfte besetzt (2. Vorstellung). Schließlich mussten die Zuschauer zuerst auf die Bühne, wo sie einige Kunstwerke betrachteten. Die Kunstwerke sollen an dieser Stelle nur Erwähnung finden und nicht weiter beschrieben werden: Sybille Maria Lang: Zwei Barren Installation 2013-14; Ohad Fisher: One More Song, Video 2008; Dana Darvish: Rear View, Video loop 2012; Dana Goshen: Face Video loop 2012 und schließlich konnte auch noch der Performancekünstler Bruno Spatz („Mein Muttermund“) bestaunt werden. Bereits in diesem kurzen Rundgang wurde der Betrachter aufs Glatteis geführt, denn unter den Arbeiten befanden sich schon einige (artifizielle) Fakes.

Ausgangspunkt dieses Projektes war für Eyal Weiser die von Adolf Hitler 1937 veranstaltete Ausstellung „Entartete Kunst“ in deren Folge ein Großteil der Avantgardekunst aus der Öffentlichkeit verbannt und die Künstler mundtot gemacht wurden. Hitler hatte für die ästhetischen Abweichungen vom platten Realismus eine ebenso einfache wie blödsinnige Erklärung: Diese Künstler litten allesamt unter Nystagmus. Unter Nystagmus versteht man gemeinhin ein unkontrolliertes Augenzittern. Der Gröfaz meinte: Diese krankhafte Erscheinung verhinderte bei genannten Künstlern eine realistische Wahrnehmung. Es ist wahr und dennoch kaum zu glauben, dass es Menschen gab, die diesen Blödsinn glaubten und Hitler nicht augenblicklich als Psychopaten ausmachten. Einige der oben aufgeführten Werke wurden vom Kurator der Ausstellung Anton Ehrlich (Oliver Möller) präsentiert, um zu veranschaulichen, dass die Abstraktion von der Realität und die ästhetische Brechung Wahrheiten zutage fördern, die das Wesen des Gegenstandes ausmachen. Und das ist das Anliegen aller Kunst: Die Sichtbarmachung des Wesentlichen, das in der Erscheinung schlummert.

Und so begann die Performance mit der Erläuterung von Dana Goshens Video loop „Face“ durch den Kurator Anton Ehrlicher. Schon im Namen des Kulturbeauftragten und Wissenden verbarg sich eine emotionale Fußangel, steht der Vorname doch für den ersten Buchstaben des Alphabets. Mit ein wenig Mut könnte man hineininterpretieren, hier trat der erste auf, der grundehrlich ist, dem man vertrauen konnte. Oliver Möllers prägnante Stimme vermittelte tiefste Überzeugung. Allein, wer genau hinhörte, musste feststellen, dass der interpretatorische Bogen weit, sehr weit gespannt war, was an dem beeindruckenden und verstörenden Charakter des Videos nichts änderte. In jedem Fall hätte es sich auf Hitlers Liste wiedergefunden. Allein das Kostüm und die Frisur Möllers, er war von den Muslin Brothers gestalten worden, ließe vage Zweifel an seiner geistigen und emotionalen Seriosität aufkommen.

  Nystagmus  
 

Johannes Meier und  Leon Pfannenmüller

© Arno Declair

 

 In der zweiten Geschichte wurde die Familiensaga der Rein-Merchav-Familie erzählt. Sie beginnt mit der Malerin Emma, deren Aquarelle in Hitlers Ausstellung der „Entartung“ gezeigt wurden. Bei Emma diagnostiziert man eine Schizophrenie und 1944 wurde sie von den Nazis hingerichtet. Großvater Georg Rein war der SS beigetreten und avancierte in den Ostgebieten zum Massenmörder. Ihm gelang nach 1945 die totale Verdrängung und die Rückkehr in den bundesdeutschen Apparat als honoriger Richter. Doch die Vergangenheit holte ihn in Gestalt eines DDR-Stasioffziers ein, der Georg für den ostdeutschen Geheimdient mittels Erpressung rekrutierte. Er erfuhr die Erlösung in Form einer Alzheimer Erkrankung und schied bald hüben wie drüben aus dem Dienst und schließlich aus der Gesellschaft aus. Seine Tochter Helene ging, um die Schuld der Vater-Generation zu kompensieren und der rigiden BRD zu entfliehen, in einen Kibbuz nach Israel. Dort heiratet sie einen gewissen Merchav, der im Libanonkrieg fiel. Es folgen tiefe Depressionen.

Die Geschichte ist Fiktion; die ästhetische Umsetzung war beeindruckend. Während der Erzählung schuf Max Wagner, blond und deutsch, als wäre er einer Zwieback-Werbung aus den 50ern entsprungen, Bilder, in dem er mit einem schwarzen Band Punkte an den weißen Wänden verband. Es entstand das Bildnis der Malerin Emma, das ihm zum verwechseln ähnlich sah. Der Weggang nach Israel wurde dreidimensional, ein räumliches Gebilde, in dem sich Max Wagner schließlich verfing.

Diese fiktive Geschichte, die europäische Historie von fünfzig Jahren brachial herunterriss, steckte so voller Wahrheiten, dass ihre Ausformulierung Wahrheit gebar. Auch das ist eine wesentliche Eigenschaft von Kunst, nämlich die Wahrheit durch die Fiktion aufzuspüren. Über die Fiktion hinaus, nämlich in die Esoterik glitt die Geschichte von Sybille Maria Lang (Lenja Schultze) ab, die gemeinsam mit ihrer Mutter (Ursula Maria Burkhart), einem Medium aus Oberammergau, die Kunst (nach konkreten Anweisungen verstorbener Maler) und auch Wahrheit „channelt“. Wie es der Zufall wollte, war die Tochter des Deutsche-Bank-Chefs Jürgen Fitschen (Mara Widmann) in der Vorstellung. Sie arbeitet für die Kunstsammlung der Deutschen Bank und wünschte vom Medium zu erfahren, wo sich das Kruzifix von Ludwig Gies, wichtiger Bestandteil der Ausstellung Hitlers, verblieben war. Nebenbei spürt der Zuschauer deutlich, dass es hier um mehr ging, als den Erhalt eines Kunstwerkes. Tatsächlich erhielten viele Künstler durch Hitlers Diffamierung so etwas wie den Ritterschlag. Ihre Werke wurden nach dem Krieg zu Höchstpreisen gehandelt. Kunst als Wertanlage. Doch es meldete sich nicht Gries aus dem Jenseits, sondern ein gewisser Alois. Aus dem Mund von Ursula Maria Burkhart erklangen nun die letzten Worte von Jesus. Alois selbst war zum Kruzifix geworden, denn er war der von Hitler beklatschte Darsteller des Jesus in den Passionsspielen in Oberammergau. Eyal Weisers Seitenhieb auf den Missbrauch von Kunst durch die Esoterik und auf die Reduktion von Kunst auf ihren Marktwert saß. Frau Fitschen zog peinlich berührt  und beleidigt von dannen, Anton Ehrlich versuchte stotternd die Situation zu retten und das Medium, alias Frau  Burkhart meldete unverhohlen einen gesunden Hunger an.

„Werbeunterbrechung“ nannte sich das monumentale Video und die Performance der Sturm-Brüder (Johannes Meier und Leon Pfannenmüller), die sich wie Derwische im Kreis drehten, während Bilder aus der Werbung, aufreizend, verstörend und überästhetisiert auf das Publikum einhämmerten. Die Parallelen der heutigen Werbeästhetik zu der Ästhetik Leni Riefenstahls lassen sich kaum leugnen. Sie war eine wahrhafte Revolutionärin in Bezug auf Filmtechnik und kann wohl getrost als Mutter des Propagandafilms bezeichnet werden. Nichts anderes als Propaganda ist Werbung. Dabei ist der Inhalt des gesprochenen Wortes oder des Bildes völlig nebensächlich. Entscheidend ist, dass die Synapsen sich schütteln und die Marke so schnell wie möglich generalisiert wird. Nirgendwo ist Ästhetik so verlogen wie in der Werbewirtschaft. (In diesem Zusammenhang sei der Film „99 Cent“ von Jan Kounen empfohlen.)

Wer nun meint¸ Eyal Weiser könnte die Geschichte nicht noch toppen, der irrt, denn es ist immer noch der „Künstler als Irrläufer“, oder als Hybrid, wie Kurator Ehrlich ihn nennt,  unbeachtet geblieben. Er ist der typische Bewohner der Szeneräume und hat im Grunde nichts als sich selbst anzubieten. Sein Name ist Bruno Spatz, der mit seiner Performance „Die Nabelschnur“ einiges Aufsehen erregte, während er an der UdK in Berlin studierte. Selbstredend ist auch dieser Mann ein Fake, doch er verkörpert einen Typus und Ideen, die virulent aus dem Boden schießen wie Pilze nach einem warmen Regen. Es sind die Menschen im Prozess der „Selbstfindung“, die in ihrer Orientierungslosigkeit den Künstler in sich entdecken. Und so ist Bruno Spatz, mit einem grandiosen Jean-Luc Bubert besetzt, eine lächerliche Figur, die, um sich halbwegs effektvoll selbst in Szene zu rücken, bis zum Äußersten gehen muss. Angefeuert von seiner Muse und Lebenspartnerin Magdalena Wiedenhöfer, verkaufte er seine sämtlichen Ausscheidungen als Kunst. Es ist doch, und daran besteht kein Zweifel, nur eine Frage der Interpretation. Und so eskalierte der Abend in dem hysterischen Schrei Wiedenhöfers: „Wollt ihr die totale Interpretation?“ - und die lautlose, reflexartige, weil aus dem Fleisch und dem Blut kommende Antwort war unüberhörbar: Ja!

Dieser Abend war eine wahrhaft gelungene Kritik an der Kunst, die sich durchaus selbst im Wege stehen kann; am Kunstapparat, der vornehmlich verhindert; am Kunstmarkt, der Kunst profanisiert; an der Kunstkritik, die sich in ihrer totalen und totalitären Kritik gefällt; an der Politik, die Kunst immer wieder zur Hure macht und am Kunstpublikum, das endlich einmal mündig werden sollte. Mündig bedeutet nicht, auf das unverbrüchliche Recht zu beharren, die Vorstellung vorzeig verlassen zu können, wenn es beliebt, sondern sich den Vorgängen zu stellen.

Auch die Frage, ob Kunst sich von Ideologien emanzipieren kann, wurde gestellt. Die Antwort ist zwiespältig und kann auch nicht letztgültig gegeben werden. Es gibt Kunst, die leider ohne Ideologie keine Inhalte hat. Es gibt aber auch Kunst, die mit allen Inhalten bricht und Weltanschauungen hervorbringt. Leider werden diese Wahrheiten immer wieder von der Mittelmäßigkeit okkupiert und alsbald in Ideologien umgewandelt. In der Kunst ist es wie im wahren Leben: Mal so, mal so.

Es wäre schön, wenn diese Arbeit von möglichst vielen Zuschauern angenommen würde, denn sie ist in erster Linie ein Diskussionsangebot. Und Diskussion ist ein Wort, was man heutigentags viel zu selten im Zusammenhang mit dem Theater hört. Wie soll sich da Theater und Kunst im Allgemeinen entwickeln? Eines hat uns immerhin Eyal Weiser voraus. Er leidet unter der konservativen Verkrustung der Kunst in Israel. Aber das macht ihn richtig bissig.

Wolf Banitzki

 


Nystagmus - Eine große deutsche Kunstausstellung (UA) 

von Eyal Weiser

Jean-Luc Bubert, Ursula Maria Burkhart, Johannes Meier, Oliver Möller, Leon Pfannenmüller, Lenja Schultze, Max Wagner, Mara Widmann, Magdalena Wiedenhöfer

Regie: Eyal Weiser
Fotografie und visuelles Konzept: Rami Maymon

Volkstheater Die Räuber nach Friedrich Schiller


 

 

Kein Beitrag zur Schillerrezeption

In Schillers dramatischem Debüt erzählt der junge Rebell Schiller die Geschichte der Familie Moor, die von Rebellion und Intrige zerstört wird. Karl, der Erstgeborene, ein leichtfüßiger Student, macht in Leipzig Schulden und geht den Vater um Hilfe an. Der Strahlemann ist von der Natur reichlich gesegnet. Er ist ansehnlich und er hat Verstand. Doch er „ist eine verirrte große Seele“. Franz, der Zweitgeborene, hadert mit seinem Schicksal, begehrt auf und will sich des Bruders und mit ihm auch gleich des Vaters entledigen. Franz muss die Bürde der Hässlichkeit tragen, eine Laune der Natur. Doch er akzeptiert sein Schicksal nicht: „Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt dass ich nicht Herr bin.“

Im Hause Moor lebt Amalia, die Braut Karls. Franz Augenmerk gilt neben dem familiären Besitz auch ihr. Also fälscht Franz, der auch Kain heißen könnte, Briefe. Er bringt den Bruder, der in die Rolle des Bruders Abel gezwungen wird, beim Vater in Misskredit. Karl wird verstoßen und Räuber. Dann kommt die gefälschte Nachricht seines Todes, was den Vater zerschmettert. Franz sperrt diesen klammheimlich weg, erklärt ihn für tot und übernimmt die uneingeschränkte Herrschaft. Amalia, auf romantische Weise ihrer Liebe zu Karl verpflichtet, bleibt standhaft und wird letztlich einem militärischen Schwur Karls geopfert. Die Wahrheit ist jedoch nicht zu unterdrücken und holt den Bösewicht Franz ein. Der legt Hand an sich an und stielt sich aus dem Leben. Karl steht vor den Scherben dessen, was einmal seine Familie war.

Natürlich greift die Geschichte weiter, als hier in Kürze beschrieben, denn es gibt den Kosmos der Räuber-Bande, durchaus ein Ebenbild der Gesellschaft, in der Machtkämpfe ausgefochten werden und in der intrigiert wird. Auf tragische Weise kommen Menschen zu Tode, unschuldige Menschen. Schuld türmt sich auf, wie ein Faltengebirge und versperrt den Weg in die wirkliche Freiheit. Doch darauf verzichtet die Inszenierung von Sebastian Kreyer am Münchner Volkstheater weitestgehend. Diese (notwendigen) Zutaten werden nebenher eingeflochten, wie im Schillerschen Text vorgegeben, nur knapper. Und so steht man nach zwei und einer halben Stunde einem über weite Strecken peinlichen, langatmigen und somit ärgerlichen Drama ziemlich ratlos vis-à-vis und ist verzweifelt. Was wollte uns diese Lesart mit auf den Weg geben? Wenn der Kritiker in seinem Vermögen überfordert ist, eine schlüssige Interpretation zu finden, greift er zum Programmheft, denn darin versucht der Dramaturg zumeist einige Fährten zum besseren Verständnis zu legen.

  Die-Raeuber  
 

Mara Widmann

© Arno Declair

 

Auf der Suche nach Hinweisen stößt man in einem kritischen Safranskitext auf das Wort Subordination. Für Schiller ist diese Haltung das Ergebnis aus einer Erfahrungsarmut, wie er sie selbst im militärischen Dienst erlitten hatte. Sein Text „Die Räuber“ ist das Kind aus dem Beischlaf des Genius mit der Subordination. Subordination hat nur eine Begehrlichkeit: Freiheit. Karl Moor: „Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus.“ Nun, das ist nicht neu, wenngleich dieser alles überstrahlende Satz in Kreyers Inszenierung weder hinreichend vorbereitet, noch herausragend dargeboten wurde. Er verpuffte. Schnell wurde klar, in Kreyers Lesart ging es mehr um das Individuum, als um seine gesellschaftliche Stellung und so ließ die Strichfassung vornehmlich die Befindlichkeiten, die Selbstreflexionen übrig. Das hatte zur Folge, dass man (bei Unkenntnis des Schillerschen Textes – heute keine Seltenheit) schnell den Überblick verlor. Unlogik allenthalben. Das faszinierendste Paradoxon war die Auferstehung des Maximilian von Moor, der wie Kai aus der Kiste, resp. wie Max aus der Wand kam.

Selbst wenn man nicht allzu pingelig an die Geschichte geht, blieb unübersehbar, dass jegliche Ernsthaftigkeit, die bei diesem Thema durchaus angeraten ist, von billigen, manchmal auch beachtenswerten szenischen Gags überlagert war. Die Sucht nach dem Lacher ist symptomatisch in der heutigen Zeit. Ist es die selbstzerstörerische (oder werkzerstörerische – für einen Regisseur ist das ein und dasselbe) Sucht auch? Safranski zählte in seinem Text (Subordination und das Genius) viele Schwächen des Dramas und der damit verbundenen Schillerschen Denkungsart auf und es entstand der Eindruck, dass Sebastian Kreyer unbedingt daran gelegen war, eben diese Schwächen sichtbar zu machen. Ein einheitliches und schlüssiges Konzept wurde jedenfalls nicht sichtbar. Die bei Schiller nicht verknüpften Handlungsstränge wurden bei Kreyer zu Absurditäten aufgeblasen. Popsongs von Emmylon Harris bis Kate Bush banalisierten das große, ernste Thema soweit, dass selbst Erdnussflips zu Botschaftern werden konnten. Auch vor der Sprache machte die Banalisierung nicht Halt. („Lass meinen Pimmel los!“)

Matthias Nebels Bühne wies Elemente auf, die zusätzlich verwirrten. Was bedeuteten die aufgebäumten mit Helium gefüllten Ballonpferde an der Rückwand? Ein Ferrari-Fanshop vielleicht? Oder bedeutete Aufbäumen einfach nur Aufbäumen? Das auf der Drehbühne aufgebaute Räubercamp, bestehend aus Paletten, und dessen tiefere ästhetische und philosophische Bedeutung wurde immerhin durch den Text „Anmerkungen zu Camp“ von Susan Sonntag zu erklären versucht. „Nicht um Schönheit geht es dabei, sondern um den Grad der Kunstmäßigkeit, der Stilisierung.“ Scheinbar sind auch die am Aussterben, die jemals ein militärisches Lager oder Camp am eigenen Leib erfahren haben. Die ganze Geschichte war so brüchig wie aufgeblasen, und dementsprechend verloren waren die Darsteller darin. Allen voran Max Wagner als Karl. Er hatte zumeist damit zu tun, sich selbst zu zerfleischen, sein Hirn zu martern und widerwillig, aber hinreichend konsequent seine blutige Spur zu ziehen. Die konzeptionelle Konfusion verhinderte klare Konturen. Wagner spielte nicht die Figur Karls, sondern dessen widerstreitenden Geist.

Jakob Gessners Aufgabe bestand darin, die gesamte (auch widerstreitende) Räuberbande zu ersetzen. Maria Roers stattete die Darsteller mit Unterwäsche aus: Weiß für zivil und Grün für militärisch. Dass die Beziehung zwischen den Kameraden und Karl homoerotisch wurde, lässt sich (nicht unbedingt schlüssig) über den Programmhefttext „Aufbrüche“ von Klaus Theweleit erklären: „Die Bewegung hin zum Soldaten wird als Bewegung weg von der Frau dargestellt.“ Legitim sind derartige Ansätze wohl, zwingend nicht. In jedem Fall isolierte diese Konstellation die Figur der Amalia und so verkam Mara Widmanns Aufgabe ein wenig zu der eines Nummerngirls. Nett und lustig anzuschauen war sie allemal. Einzig Oliver Möller gelang es, den Bösewicht Franz in das rechte Format zu bringen. Möllers Gestaltungskraft überwand die Formlosigkeit des Gesamtwerkes und hinterließ einige einprägsame Bilder und Sätze. Sehr seltsam mutete dagegen die Figur des alten Moors an. Paul Fassnacht kam mit Sonnenbrille und Fellmantel daher wie ein Vorstadtpate, der nebenbei „ein bisschen Schotter, Asche, Kohle“ machen musste. So knatterte er sich durch seine wenigen Szenen und verschwand nebst Klappbett in der Wand, um zum Ende ebenso peinlich knatternd wieder aufzuerstehen.

Nein, diese Inszenierung leistete sicher keinen bedeutsamen Beitrag zur Schillerrezeption. Ebenso wenig konnte sie konzeptionell und ästhetisch überzeugen. Schade, denn allzu häufig verkommen die klassischen Werke der Dramenliteratur zu Experimentierfeldern überambitionierter und respektloser Herangehensweisen. Wie wäre es stattdessen mal wieder mit einem lustigen Goldoni oder Moliére?

 

Wolf Banitzki

 


Die Räuber

nach Friedrich Schiller

Paul Fassnacht, Jakob Gessner, Oliver Möller, Max Wagner, Mara Widmann

Regie: Sebastian Kreyer

Volkstheater Ein Wintermärchen von William Shakespeare


Böhmen liegt gefährlich nahe bei Berlin

„Ein Schmarren, aber ein unsterblicher!“ Das war die Meinung Alfred Kerrs zum Stück. Wahrlich, da kann man nur zustimmen. Bar jeglicher Logik schrieb der große Dichter ein Rührstück, ganz dazu angetan, die Fabel zu erzählen, wenn der Wintersturm im Kamin heult. Darum: „Ein Wintermärchen“.

Und das hat in etwa folgenden Inhalt: Leontes, König von Sizilien, hat Polixenes, König von Böhmen, seit einigen Wochen zu Gast. Als Polixenes endgültig heimreisen will, der sich aber der Bitte Leontes zum Bleiben verschließt, betört ihn schließlich Hermione, Königin von Sizilien und Gemahlin Leontes, und überredet ihn. Leontes verfällt angesichts des scheinbar übermächtigen Einflusses seiner hochschwangeren Gattin in rasende Eifersucht. Er verstößt sie wegen Unzucht mit dem königlichen Freund und lässt sie in den Kerker werfen. Dann beauftragt er seinen treuen (und redlichen) Diener Camillo, Polixenes zu töten. Doch Camillo offenbart sich Polixenes und beide fliehen nach Böhmen. Jetzt wähnt sich Leontes im Recht. Hermione wird im Kerker von einer Tochter entbunden. Ihr Name ist Perdita. Mamillius, der Prinz und Thronerbe, „welkt“ angesichts der Schmach, die der Vater seiner Mutter angetan hat, „dem Tod entgegen“. Antigonus, ein Höfling, wird beauftragt, die neugeborene Tochter zu entsorgen. Der, selbstredend unfähig zum Kindermord, setzt sie am Gestade Böhmens aus, wo sie von einem Schäfer in Pflege genommen wird. Hermione fällt darauf scheintot um und wird in der Folge 16 Jahre von Paulina, Frau des Antigonus, für ein Happy end aufbewahrt. Richtigerweise muss erwähnt werden, dass sie versteinert, weil Leontes für sie zu Stein geworden war.

Nun lässt Leontes das Orakel von Delphi befragen. Das jedoch lautet: „Hermione ist keusch, Polixenes makellos, Camillo ein treuer Untertan, Leontes ein eifersüchtiger Tyrann, sein unschuldiges Kind rechtmäßig erzeugt, und der König wird ohne Erben leben, wenn das, was verloren ist, nicht wiedergefunden wird.“ Die Nachricht vom Tod seines Sohnes lässt den Wahnsinn weichen und für Leontes beginnen Jahre der Buße. Die Zeit, eine Allegorie, tritt auf und lässt flugs 16 Jahre vergehen. Derweil ist Perdita, Tochter des Leontes und der Hermione, zu einer schönen Frau herangewachsen. Florizel, Prinz von Böhmen, hat sich in sie verliebt und will sie heiraten. Davor ist jedoch Vater Polixenes. Florizel und Perdita fliehen, Dank der Einmischung des Kleinkriminellen Autolycus, ausgerechnet nach Sizilien.

 

  Wintermaerchen  
 

Oliver Möller, Sohel Altan G. Jean-Luc Bubert
© Arno Declair

 

Und dort, wie sollte es anders sein, findet die Geschichte ihren glücklichen Abschluss. Hermione erfährt eine wundersame Auferstehung. Leontes versöhnt sich mit Polixenes. Florizel bekommt seine Perdita, die ja inzwischen als Prinzessin ausgemacht wurde. Und Camillo ehelicht Paulina, die Witwe des Antigonus, der in Böhmen von einem Bären gefressen wurde. Die Tatsache, dass Böhmen am Meer liegt, Delphi eine Insel ist, in Böhmen menschenfressende (Eis-)Bären leben und Hermione von den Toten aufersteht, mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, doch Christian Stückl gelang es mit seiner Inszenierung, diese Widersprüche aufzuheben. Lange hat es gedauert, um herauszufinden wo Böhmen liegt. Jetzt ist das Geheimnis gelüftet. Es liegt irgendwo im Brandenburgischen und da Mecklenburg/Vorpommern lange Zeit preußisch war, ist auch die Meernähe erklärt. Stefan Hageneier realisierte beide Welten, Sizilien, elegant und nobel, und Böhmen, schmuddelig und unaufgeräumt, auf einer Drehbühne. Halbrunde konvexe Bühnenbilder standen Rücken an Rücken. Die von ihm entworfenen Kostüme sprachen gleichfalls Bände.

Nein, ernst sollte man die Geschichte, die ja schließlich eine Komödie ist, nicht nehmen. Man kann Regisseur Stückl nicht einmal Respektlosigkeit vorwerfen, angesichts der Gaudi, die er da auf die Bühne brachte, denn im Elisabethanischen Theater schätzte man die rüde Zote noch, den derben Witz, war er auch noch so tief unter der Gürtellinie angesiedelt. Shakespeares Dramaturgie sah vor, dass auch Tagespolitik abgehandelt wurde. Also haute man mal richtig drauf auf die Preußen, die da in ranzigen und schlabberigen Jogginganzügen im Polskifiat daherkamen und berlienerten, dass sich die Dielen bogen. Diese Verortung erklärte gleichsam auch ein anderes Mysterium, nämlich den Eisbären. Man erinnere sich. Er hatte einen magischen Namen: Knut.

Nein, Denunziation war das Ganze keineswegs, denn Jean-Luc Buberts Schäfer und Sohel Altan G.s Hansnarr, Sohn des Schäfers, waren in ihrer Trotteligkeit ausnehmend liebenswert. Allein das Schafschurfest ließ ahnen, wie zünftig es in Brandenburg zugehen kann. Es war wie eine Party der Familie Popolski aus Zabrze. (Liegt gleich um die Ecke gen Osten.) Muss man einfach mal erlebt haben.

Während Max Wagners König Leontes sich in seiner hysterischen Eifersucht noch recht realistisch als Machtmensch gerierte und es schwer fiel, darin eine Komödie zu erkennen, war er im zweiten Teil ein heulsusiger Zen-Buddhist. Er erlebte auch kein Happy end, wie im Stück vorgesehen, sondern er wurde von einem Cyberroboter mit dem Aussehen Hermiones platt gemacht. Magdalena Wiedenhofer agierte, als sie noch lebendig war, beeindruckend königlich und naturgemäß mechanisch als hochwertiges Kunstwerk.

Großen Anteil an der überbordenden Komik hatte Jakob Geßner als Florizel. Er persiflierte einen an den Blödsinn stoßenden Schöngeist. Constanze Wächter kontrastierte als Perdita den emotionalen Höhenflug des Geliebten mit echt brandenburgischer Pomeranzenhaftigkeit. Oliver Möllers Gauner Autolycus setzte allem schließlich die Krone auf. Während er immer wieder Wege fand, seinen Besitz unredlich zu mehren, stiegen andere dank seiner Intrigen auf und wurden adelige Leute. Ganz wie im wahren Leben.

Die Leistung aller Darsteller zu beschreiben ist schier unmöglich. Nur so viel: Der Spaß den sie hatten, war unübersehbar. Der schwappte schließlich auch über die Rampe und machte sich im Publikum breit. Es war wieder einmal bestes Ensemblespiel, in dem es jeder nach Gutdünken krachen ließ. Und das tat der Geschichte, die „Ein Schmarren, aber ein unsterblicher!“ ist, einfach nur gut.

Trotz zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten war der Abend kurzweilig, witzig und manchmal auch klamottig. Doch immer wieder schillerte die Sprache des Meisters durch und ließ wissen, warum dieser Schmarren ein unsterblicher ist. Was will man mehr?!

Wolf Banitzki

 


Ein Wintermärchen

von William Shakespeare

Max Wagner,  Justin Mühlenhardt, Leon Pfannenmüller, Pascal Riedel, Pascal Fligg, Jakob Geßner, Jean-Luc Bubert, Sohel Altan G., Oliver Möller, Magdalena Wiedenhofer, Constanze Wächter, Barbara Romaner, Lenja Schultze

Regie: Christian Stückl

Volkstheater Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone von Mark Haddon


 

 

Fünf rote Autos

Spätestens seit „Rain Man“ mit Dustin Hoffman und Tom Cruise ist das Thema Autismus in der Kunst angekommen. Mit einem heiligen Schauer betrachtet man diese Mitmenschen, die einerseits nicht gesellschaftsfähig sind, weil ihre Kommunikation gestört ist oder eigenen Regeln folgt, die sich fernhalten von sozialen und vor allem physischen Kontakten, die aber andererseits z.T. über erstaunliche Fähigkeiten verfügen. In „Rainman“ ist es das blitzschnelle Erfassen, das fotografische Gedächtnis, das die beiden Brüder in Las Vegas in den Stand versetzt, die Bank zu sprengen. Es geht eine große Faszination von diesen Menschen aus, die aber vornehmlich unserer Sensationslust und unserem Voyeurismus entspringt. Es ist das Unvorstellbare, zu dem diese Menschen in der Lage sind. Doch das Unvorstellbare ist Resultat eines psychischen Defektes. Diese Menschen sind umso bedauernswerter, weil sie nicht selten heftig unter sich selbst, unter ihrem psychischen Zustand leiden. Persönliches Glück lernen sie nicht kennen. Strenge Ordnungen müssen aufgestellt und eingehalten werden, um einigermaßen über den Tag zu kommen. Diese Krankheit ist nicht heilbar.

Nicole Oder (Jahrgang 1978) brachte den Roman „The Curious Incident of the Dog in the Night-time“ (Ein Arthur Conan Doyle Zitat aus „Silver Blaze“) von Mark Haddon unter dem Titel „Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone“ auf die kleine Bühne des Münchner Volkstheaters. Die Dramatisierung hatte kein Geringerer als Simon Stephens übernommen. Erzählt wird die Geschichte des 15jährigen Christopher, der alle Symptome von Autismus aufweist. Autor Haddon diagnostizierte sie in seinem Buch nicht explizit. Die Tatsache, dass er alle Länder der Erde, inklusive der Hauptstädte, und jede Primzahl bis 7507 kennt, suggeriert allerdings die Tatsache. Eines Tages findet Christopher Wellington, den Hund der Nachbarin, von einer Mistgabel durchbohrt auf dem Rasen. Da die Polizei sich nicht weiter um den Fall kümmert, nimmt Christopher die Ermittlungen auf, wobei er in eine Welt vordringt, die ihm bislang verschlossen war. Es ist die Geschichte von bitteren Einsichten, und einem verzweifelten Kampf um Selbstbehauptungen. Er klärt den Fall auf, muss dabei aber einige bittere Wahrheiten in Kauf nehmen. Am Ende der Geschichte steht ein Erfolgserlebnis für Christopher, nämlich das Ergebnis seiner Mathematikprüfung, das sich allerdings entsprechend seiner Logik schon angekündigt hatte. Fünf rote Autos infolge bedeuten: Supergute Tage!

 

  SuperguteTage  
 

Pascal Riedel, Jakob Geßner, Barbara Romaner

 © Gabriela Neeb

 

Franziska Bornkamm, sie ist Schülerin von Erich Wonder, schuf einen grauen Raum, an deren Wänden kaum merklich labyrinthische und geometrische Muster zu sehen waren. Diese Wände dienten gleichsam als Projektionsflächen für ein Lichtdesign, das den Mustern folgte, aber auch darüber hinausging. Anfangs waren die Muster das Ordnungsprinzip, an dem sich Christopher orientieren konnte, später wurden diese durchbrochen, und das Chaos einer nichtlinearen Reise zeichnete sich ab. Zudem tauchten in Lichtfeldern unterschiedlichste fremde Menschen auf, bei denen Christopher beispielsweise Hilfe suchte.

Regisseurin Nicole Oder ließ streckenweise stark verfremdete spielen. Sie stellte Christopher, der sich selbst nicht als „unnormal“ wahrnehmen konnte, eine auf ihn völlig unnatürlich wirkende Außenwelt gegenüber. Sehr suggestiv unterstützt wurden die Vorgänge durch einen ausgefeilten Sound von Samuel Schaab. Jakob Geßners knappe Darstellungen von Nebenrollen, von peripheren Figuren waren schrill und skurril. Ähnlich gestaltete Barbara Romaner die Figur einer Nachbarin. Zur natürlichen Spielweise kehrte sie bei der Gestaltung von Christophers Mutter zurück. Für Christopher war sie die wichtigste Person, folglich erschien ihm ihr Verhalten als normal oder natürlich. Regisseurin Oder betonte mit dieser Spielweise die extreme subjektive Sicht des Ich-Erzählers Christopher. Nur von seiner Mutter war er bereit, sein Essen zu empfangen. Doch auch die Figur der Mutter hatte psychische Grenzen. Der Anspruch auf ein eigenes, halbwegs unbeschwertes Leben führte in die Überforderung und zur Flucht aus der Familie. Eckhard Preuß gab den in sich gekehrten Vater, der so pragmatisch mit der Geschichte umzugehen suchte, wie nur möglich. Auch er kam bald an seine Grenze und als seine große Lebenslüge aufflog, verlor er zusätzlich noch das Vertrauen seines Sohnes. Das ist für einen Autisten ein beinahe irreversibler Zustand.

Pascal Riedel, er ist eine fragile Erscheinung, spielte den Christopher hochkonzentriert und sehr körperlich. Man nahm ihm den 15jährigen Jungen in allen seinen, durch die Krankheit provozierten Nöten problemlos ab. Gefühle kannte er nur aus den Beschreibungen seiner Mutter. Lächeln war ihm nicht vergönnt. Extremste Expression war das Anschreien gegen ungewollte und darum unerträgliche Situationen. Christopher musste wachsam und konzentriert seine Rituale im Auge behalten, die sein Leben beherrschten und ordneten. Ein Ausbrechen daraus, ob freiwillig oder unfreiwillig, hatte gravierende Folgen. Seine Exkurse durch die Astronomie, durch die Astrophysik oder auch nur durch die formale Logik wurden zwar äußerlich emotionslos vorgetragen, erweckten aber durch die Sprache und die konzentrierte Darstellung den Ausdruck von innerer Emphase. In dieser Welt fühlte sich Christopher sicher; es war seine Welt. Riedels Spiel war beeindruckend und berührend. Aber auch die Bühnenästhetik und der Ansatz, aus der Perspektive eines Autisten heraus, die Bilder zu schaffen, wie sie im Kopf des kranken Jungen existieren, überzeugten.

Es ist thematisch keine „weltbewegende“ Geschichte, denn eine Allgemeingültigkeit ist wegen der singulären Besonderheit schwerlich ableitbar. Vielmehr ließe sich aus dem Umgang mit ihr eine allgemeingültige Botschaft ableiten. Der Abend am Volkstheater zielte allerdings nicht vordergründig darauf, sondern unterhielt mit einem spannenden, weil exotischen Thema und einer ästhetischen Umsetzung, die getrost als besonders bezeichnet werden darf. Dem Publikum gefiel es. Langer Applaus.

Wolf Banitzki

 

 


Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone

von Mark Haddon

Pascal Riedel, Barbara Romaner, Eckhard Preuß, Jakob Geßner

Regie: Nicole Oder

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