Metropoltheater Portia Coughlan von Marina Carr


 

 

Irland direkt und unverfälscht

Marina Carrs Stücke sind von ähnlicher Wucht wie die frühen antiken griechischen Dramen. Die Konflikte muten gleichsam archaisch an und die Figuren, zumeist im ländlichen Irland angesiedelt, betreiben großen Kraftaufwand, um diese Konflikte zu überleben. Es sind ohne Frage echte irische Stücke in der Tradition Becketts, O’Casey oder W.B.Yeats, der zu den Mitbegründern des Abbey Theatres gehörte, für das Marina Carr arbeitete. „Portia Coughlan“ wurde 1996 am Peacock Theatre in Dublin uraufgeführt und lief danach sehr erfolgreich auch am Londoner Royal Court Theatre.
Carrs Stücke sind nicht unbedingt für Zartbesaitete verfasst, neben z.T. schwer erträglichen Konflikten beinhalten sie auch extreme physische Gewalt. Aber die Dramen Marina Carrs leben auch von schwarzem Humor und lebendiger, sehr lebensechter Poesie.

Jochen Schölch brachte „Portia Coughlan“ nun auf die Bühne des Metropoltheaters und, soviel sei vorweg genommen, er schuf nicht nur eine erträgliche, sondern unbedingt sehenswerte szenische Umsetzung. Der Regisseur verriet vor der Premiere in einem Interview, dass er gern einem Menschen wie Portia begegnen würde, denn, wie er sinngemäß meinte, wir leben heute in einer Zeit, in der die Menschen enorme Energien aufwenden, um Konflikten aus dem Weg, statt durch sie hindurch zu gehen. Jochen Schölch war fasziniert von der existenziellen Kraft, die dem Konflikt und ihrer Protagonistin innewohnt.

Die Geschichte beginnt am dreißigsten Geburtstag Portias. Die junge Frau ist erfüllt von der Gesangsstimme ihres Zwillingsbruders, der sich auf den Tag genau 15 Jahren zuvor im Belmont Fluss ertränkt hatte. Portia mutmaßt, dass Gott für beide nur eine Seele bereitgestellt hatte und diese nahm der Bruder mit in das nasse Grab. Sie fühlt sich leer, nichts macht mehr Sinn und alles, Mann, Kinder, Verwandte, Mitbürger, der ganze Ort widert sie nur noch an. So ergibt sie sich dem Alkohol oder unverbindlichem Sex, um das Echo der Leere im Innern zum Verstummen zu bringen. Im Verlauf der Handlung wird deutlich, dass die menschlichen Schulden üppig verteilt sind. Leichen unter den Teppichen werden freigelegt und verstören, nicht unbedingt Portia, denn die ist längst an einem Punkt angelangt, wo sie nichts mehr erschüttern kann. Die Sehnsucht nach dem Bruder hat sie um das eigene Leben gebracht. Es ist ein ausweglose Situation und sie ist nur noch erfüllt vom sirenenhaften Gesang des Zwillings, der sie hinabzieht. Portia ist nur noch auf Selbstverteidigung eingestellt, bissig und wütend gegen fast jedermann.

Das Bühnenbild für diese gewaltige Geschichte hätte schlichter nicht sein können. Der Bühnenbildner Jochen Schölch hatte eine kupferfarben Rampe, zum Bühnenrand hin abfallend, installiert, die Spielfläche, Kneipentresen oder sogar Fluss war, aus dem zuletzt auch die tote Portia mit einem Hebekran gehoben wurde. Der Regisseur Jochen Schölch hatte durch seine Schauspielführung überdeutliche Figuren geschaffen, die dennoch nicht holzschnittartig waren, sondern charaktervolle lebendige Menschen. Allen voran natürlich Elisabeth Wasserscheid als Portia. Sie versteht es inzwischen mit scheinbar nachtwandlerischer Sicherheit zu überzeugen. Ihre Portia war bei aller Haltlosigkeit und Zerrissenheit eine extrem starke Frau, die sich selbst in tiefster Verzweifelung nicht einschüchtern ließ und die selbst vor physischer Bedrohung nicht ein Jota zurückwich. Egal, ob in leisen Momenten oder Augenblicken extremen physischen Ausbruchs, Frau Wasserscheid war präzise wie eine Uhrwerk, ohne dabei mechanisch zu werden. Hubert Schedlbauer erwies sich als kongeniale Besetzung in der Rolle des wohlhabenden Ehemanns Raphael. Seine Versuche, Portia näher zu kommen, Einfluss auf sie zu nehmen, waren zart, zögerlich und zuletzt, am Punkt der totalen Resignation angelangt, verzweifelt. Schedlbauers hinkender Raphael war wie ein gescheiterter Engel, dem die Kraft abhanden gekommen war, die Flügel zu entfalten. Herausragend war ebenso die Leistung von Nikola Norgauer, deren Mutter Marianne Scully die fleischgewordene Unterwerfung unter das Diktat der gesellschaftlichen Konventionen vorstellte. In der Rolle der einäugigen Stacia hingegen gab sie eine Frau, in der die Rebellion, wenn auch auf sehr naive Weise, noch lebendig war, selbst wenn sie existenzielle Ängste in ihrer Trägerin auslöste. Widersprüchlicher hätten die beiden Darstellungen kaum sein können. Lilly Forgách (Maggie May Doorley) und Butz Buse (Senchil Doorley) waren das Traumpaar des Abends, sie, bodenständige selbstbewusste Prostituierte, er, zauberhaft vertrottelt, schienen die einzigen Figuren zu sein, die sich eine natürliche Menschlichkeit bewahrt hatten. Christian Hoenings polternder Sly Scully, ein grober Mann, der hart zupacken konnte, zeigte schnell Dünnhäutigkeit, als der tote Zwillingssohn ins Spiel kam. Von gleichem Schrot und Korn war auch die Figur der Großmutter Blaize Scully, raumgreifend und gelegentlich auch beängstigend von Christiane Blumhoff gespielt.

Jochen Schölchs Inszenierung war ähnlich karg angelegt, wie zuvor die von „Eisenstein“. Der Reichtum der Inszenierung entsprang den poetischen Bildern, die die Schauspieler auferstehen ließen. Dabei muss unbedingt auch die Textvorlage gelobt werden, die sich bestens dazu eignet eine besondere Atmosphäre zu erzeugen. Neben den Charakteristiken der zwischenmenschlichen Beziehungen die von krankhaft über ignorant und egoistisch bis hin zu zärtlich reichten, standen wundervolle, detaillierte Naturbilder, vornehmlich von Portia angerichtet, wie man sie selten findet in der zeitgenössischen Dramatik. Es war Irland direkt und unverfälscht. Alles das hat Jochen Schölch mit seinen exzellenten Darstellern sichtbar machen können. Auch wenn diese Problematik nicht auf Anhieb jedem zugänglich sein mochte, zog sie doch früher oder später jeden Zuschauer in den Strudel der Ereignisse und Gefühle hinein. So gelang dem erfolgsverwöhnten Jochen Schölch wieder einmal wahrhaftiges, menschliches und künstlerisch wertvolles Theater, das an dieser Stelle unbedingt empfohlen sein soll.

 

Wolf Banitzki

 

 


Portia Coughlan   

von Marina Carr

Christiane Blumhoff, Butz Buse, Lilly Forgách, Christian Hoening, Paul Kaiser, Nikola Norgauer, Hubert Schedlbauer, Elisabeth Wasserscheid

Regie: Jochen Schölch

Metropoltheater  Eisenstein von Christoph Nußbaumeder


 

 

Niederbayerische Familiensaga mit Gänsehauteffekt

Sie mutet archaisch an, die Geschichte der Familien Schatzschneider und Hufnagel, und sie ist es auch, denn sie verfügt über alle Zutaten für eine griechische Tragödie. „Der Krieg bringt so manches durcheinander“, und während die einen erfolgreich Besitzstandswahrung betreiben, versuchen die anderen auch mit Lügen zu überleben. Zu den Lügen gesellen sich das Vergessen, die Verklärung und stets auch die Übertreibung. Doch die Geschichte spielt nicht auf dem Peloponnes, sondern in Niederbayern nahe der böhmischen Grenze in dem kleinen Ort Eisenstein. ‚Wenn Eisen und Stein aufeinander treffen, dann gibt’s Funken.’ Ist Eisenstein darum ein besonderer Ort? Nein. Der Ort ist so gut oder so schlecht wie jeder andere und darum wohl auch austauschbar. Lüge und Verrat gedeihen an allen Orten. Sie variieren zwar, bleiben im Kern doch immer die gleichen.

Christoph Nußbaumeders (Jahrgang 1978) wuchtige Familiensaga ist zweifelsohne ein spannende Geschichte, gutes episches Theater, dessen Qualität allerdings nicht nur in der Ausformulierung zwischenmenschlicher Konflikte besteht, sondern auch in deren Einbettung in die gesellschaftlichen Zustände und Vorgänge. Das geschieht zwar nur stichwortartig und nur die älteren Theatergänger wissen auf Anhieb Bescheid, doch die Hinweise sind so zwingend, dass die jüngeren Zeitgenossen vielleicht das Geschichtsbuch in die Hand nehmen und nachschlagen. Was im April 1945 begann und 2008 in München eine vorläufige Auflösung erfährt, ist auch  bundesdeutsche Geschichte, denn die Protagonisten sind sehr durchschnittliche Typen, keineswegs Helden. Auch das ist eine lobenswerte Qualität des auf den ersten Blick sehr verwirrenden Dramenkonstrukts.

Jochen Schölchs setzte in seiner Inszenierung ganz auf das Wirkprinzip des epischen Theaters. Er erzählte ohne überlagerndes oder ablenkendes Beiwerk. Hannes Neumaiers Bühne, er zeichnete auch für die Kostüme verantwortlich, war ein großes minimalistisches Podium, strukturiert in drei Flächen, die leicht nach vorn abfielen. Im Hintergrund standen neun Hocker, auf denen die Darsteller Platz nahmen, sobald sie nicht spielten. Regisseur Schölch hatte peinlich genau darauf geachtet, dass Auf- und Abgänge präzise choreografiert waren. So nahm man die permanent anwesenden Darsteller nach kürzester Zeit nicht mehr wahr. Dieser Ansatz erwies sich insofern als sehr effizient, da es in den zweieinhalb Stunden eine Vielzahl von Szenenwechsel gab. Die anwesenden Darsteller erzeugten dann beispielsweise die Geräuschkulisse für einen Regen, ein Sägewerk oder andere Vorgänge, die nur mimisch angedeutet waren. Die Rückwand war Projektionsfläche für Fotografien, die ganz normale deutsche Familien zeigten oder dem Zuschare signalisierte, in welcher Zeit man sich gerade befand.
 
  Eisenstein  
 

© Hilda Lobinger

 

 

Das Spiel aller Darsteller war stimmig, ambitioniert und doch stets Ensemblespiel. Einen einzelnen nennen, hieße andere zurücksetzen. Erstaunlich war die Präzision, mit der Darsteller und auch Regie die Figuren, die in Doppelbesetzung gespielt wurden, deutlich voneinander abgrenzten. Eine Mütze machte aus dem Vater den Sohn, aufgesteckte Haare, die mit einem Handgriff und einer Körperdrehung verändert wurden, aus der Tochter deren Mutter. Eine Schürze verwandelte einen prägnanten Knecht in einen ebenso prägnanten Gastwirt. Schölchs Theatermagie, hier um ein Vielfaches nüchterner als beispielsweise in seiner „Pinoccio-Inszenierung“ des vergangenen Jahres und gänzlich ohne Effekthascherei, war wieder einmal vollkommen. Beerdigungen erschienen in „neuem“ Licht, mit Licht verwandelte sich eine simpler Dielenboden in ein atmosphärisches Speisezimmer. Schuhe am Bühnenrand erzählten von denen, die keine Schuhe mehr brauchen. Trotz oder gerade wegen aller Nüchternheit trieb einem diese Familiensage Schauer von Gänsehaut über den Rücken.

Wieder einmal gelang Jochen Schölch eine Inszenierung, die man einfach gesehen haben muss. Man muss sie nicht nur wegen der guten und guterzählten Geschichte sehen, sondern wegen einer Inszenierung, die, obgleich die Handlung alles andere als anheimelnd ist, wegen ihrer Menschlichkeit als schön bezeichnet werden darf. Schölch macht immer wieder Lust auf Theater. Sein Theater versöhnt mit dem Leben. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich, denn das zeitgenössische Theater kommt nicht selten wie ein Exorzist daher, der mit aufgesetzter Ästhetik oder auch mit völliger Belanglosigkeit den Zuschauer aus dem Körper Theater zu vertreiben sucht.
Und wieder einmal: Chapeau, Herr Schölch und das Ensemble!

 
 
Wolf Banitzki


 

 


Eisenstein

von Christoph Nußbaumeder

 

Dirk Bender/Miko Greza, Anna Dörnte, Marc-Philipp Kochendörfer, Edith Konrath, Ina Meling, Florian Münzer, Nikola Norgauer, Hubert Schedlbauer, Oliver Severin

Regie: Jochen Schölch

 

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Niederbayerische Familiensaga mit Gänsehauteffekt

 

Sie mutet archaisch an, die Geschichte der Familien Schatzschneider und Hufnagel, und sie ist es auch, denn sie verfügt über alle Zutaten für eine griechische Tragödie. „Der Krieg bringt so manches durcheinander“, und während die einen erfolgreich Besitzstandswahrung betreiben, versuchen die anderen auch mit Lügen zu überleben. Zu den Lügen gesellen sich das Vergessen, die Verklärung und stets auch die Übertreibung. Doch die Geschichte spielt nicht auf dem Peloponnes, sondern in Niederbayern nahe der böhmischen Grenze in dem kleinen Ort Eisenstein. ‚Wenn Eisen und Stein aufeinander treffen, dann gibt’s Funken.’ Ist Eisenstein darum ein besonderer Ort? Nein. Der Ort ist so gut oder so schlecht wie jeder andere und darum wohl auch austauschbar. Lüge und Verrat gedeihen an allen Orten. Sie variieren zwar, bleiben im Kern doch immer die gleichen.

 

Christoph Nußbaumeders (Jahrgang 1978) wuchtige Familiensaga ist zweifelsohne ein spannende Geschichte, gutes episches Theater, dessen Qualität allerdings nicht nur in der Ausformulierung zwischenmenschlicher Konflikte besteht, sondern auch in deren Einbettung in die gesellschaftlichen Zustände und Vorgänge. Das geschieht zwar nur stichwortartig und nur die älteren Theatergänger wissen auf Anhieb Bescheid, doch die Hinweise sind so zwingend, dass die jüngeren Zeitgenossen vielleicht das Geschichtsbuch in die Hand nehmen und nachschlagen. Was im April 1945 begann und 2008 in München eine vorläufige Auflösung erfährt, ist auch  bundesdeutsche Geschichte, denn die Protagonisten sind sehr durchschnittliche Typen, keineswegs Helden. Auch das ist eine lobenswerte Qualität des auf den ersten Blick sehr verwirrenden Dramenkonstrukts.

 

Jochen Schölchs setzte in seiner Inszenierung ganz auf das Wirkprinzip des epischen Theaters. Er erzählte ohne überlagerndes oder ablenkendes Beiwerk. Hannes Neumaiers Bühne, er zeichnete auch für die Kostüme verantwortlich, war ein großes minimalistisches Podium, strukturiert in drei Flächen, die leicht nach vorn abfielen. Im Hintergrund standen neun Hocker, auf denen die Darsteller Platz nahmen, sobald sie nicht spielten. Regisseur Schölch hatte peinlich genau darauf geachtet, dass Auf- und Abgänge präzise choreografiert waren. So nahm man die permanent anwesenden Darsteller nach kürzester Zeit nicht mehr wahr. Dieser Ansatz erwies sich insofern als sehr effizient, da es in den zweieinhalb Stunden eine Vielzahl von Szenenwechsel gab. Die anwesenden Darsteller erzeugten dann beispielsweise die Geräuschkulisse für einen Regen, ein Sägewerk oder andere Vorgänge, die nur mimisch angedeutet waren. Die Rückwand war Projektionsfläche für Fotografien, die ganz normale deutsche Familien zeigten oder dem Zuschare signalisierte, in welcher Zeit man sich gerade befand.

 

Metropol Theater Unser Kandidat


 

 

Das Chamäleon als erfolgreiche Daseinsform

Charakter? Charisma? Identität? Vergessen Sie all das! Gefragt ist Kreativität in der täglichen Selbst-Neuerfindung. Individualität, wenn sie denn ehrlich ist, ist eher kontraproduktiv. Die Fähigkeit zu erkennen, welche Daseinseinsform opportun ist, verspricht Erfolg. Wozu eine Persönlichkeit ausbilden, ohnehin ein Prozess, der Jahrzehnte in Anspruche nehmen kann und einigen Menschen nie gelingt, wenn man eine (flexible, wandelbare) Persönlichkeit darstellen kann? Das Chamäleon ist das Maß der Dinge, nicht die Persönlichkeit. Ein hübsche „Lesart“, das Leben zu verstehen? Mitnichten, denn was Jochen Schölch im Metropoltheater auf die Bühne brachte, war eine realistische Bestandsaufnahme, die Gänsehaut bereitete. Er nahm dabei Texte von Ewald Palmetshofer zur Hilfe und nannte es eine Stückentwicklung. Der österreichische Dramatiker Palmetshofer dokumentierte mit seinen Texten eine Sinnkrise, denn bei der Suche nach den letzten Einsichten über unsere Realität stieß er an die Grenzen dessen, was Sprache leisten kann. So sind seine Texte weniger die Einsichten, als vielmehr das Ringen darum. Und doch weisen sie weit genug in die Tiefe, um Jochen Schölch Material an die Hand zu geben, die emotionale Intelligenz des Betrachters herauszufordern.

Das Ergebnis war ernüchternd. Selten kamen semantisch intakte Sätze von der Bühne. Häufig fehlten die Prädikate. Es fehlten die Verben, die vonnöten waren, den Vorgang  endgültig zu beschreiben. Zum Beispiel erklärt Palmetshofer, dass der Himmel nach dem Tod Gottes leer sei. Dabei ist er gar nicht leer. Der Himmel ist eine Maschine, oder besser gesagt, in ihm ist eine Maschine. Eine Maschine, wie man die vom Arbeitsamt kennt, aus der sich die Kunden eine Nummer ziehen. Erst wenn der Mensch eine Nummer hat, ist er existent und hat ein Anrecht auf den Himmel. Doch wie ist diese Maschine im Himmel verortet? Nach einem passenden Verb wir vergeblich gesucht. Hier half Jochen Schölch, der die Schauspieler gestisch und mimisch erklären ließ und die Vorgänge nahmen Gestalt an.

In der Stückentwicklung gab es keine Handlung. Jochen Schölch erklärte in mehr oder weniger zusammenhängenden Sequenzen Menschentypen und Situationen des Lebens. Ein wichtige Spezies war, wie der Titel schon sagt, der Kandidat, der Aspirant auf eine besondere Stellung im gesellschaftlichen Dasein. Dabei drängte sich der Politiker zwar auf, doch Palmetshofer/Schölch griffen umfänglicher. Nennen wir ihn den Alpha-Menschen, den, der Firmen oder Parteien leitet, Glaubensrichtungen vorsteht, gesellschaftliches Leben organisiert. Sein Persönlichkeit erschöpft sich in der verzweifelten Suche nach der passenden Worthülse, nach der verkäuflichen Mimik, nach der anbiedernden Geste. Je weniger authentische Persönlichkeitsmerkmale die Person mitbringt, um so größer die Überlebenschance.  Scheitern ist allerdings inbegriffen und auch vorprogrammiert, denn der Mensch ist eben kein Chamäleon. Und so entzieht die Realität dem Kandidaten immer wieder den Boden unter den Füßen. Der Rest sind Rücktrittsfloskeln, altbekannt und inhaltsleer.
 
  kandidat  
 

Kim Bormann, Michael Glantschnig, Fanny Krausz, Marco Michel, Alexander Sablofski

© Hilda Lobinger

 

 

Wirklich spannend wurde es, als das heutige Menschenbild in seiner Allgemeinheit definiert wurde. Der Mensch sollte kein vertikales Wesen sein, welches eigensinnig aus dem Strom herausragt, sondern ein horizontales. Es sollte dabei vorn und hinten offen sein, damit der Warenstrom ungehindert durch ihn hindurch fließen kann. Absolut störend wäre dann ein Kern im Innern, der einen Stau oder eine Verstopfung hervorrufen würde. Glück ist gleichsam ein Loch im Menschen und die Kaufhäuser dieser Welt halten alles vor, dieses Loch zu stopfen. Doch die Ware ist eine Lüge. Am Ende müssen wir, wissend, dass es ein Lüge ist, dieser Lüge Glauben schenken, um Glück zu erlangen. Diese Erkenntnis ist bitter, doch sie ist im Kern wahr und in der Inszenierung von Jochen Schölch überwanden auch Palmetshofers Texte die vermeintlichen Sprachmankos, die sich letztlich auch als Kunstgriff entpuppten.

Alexander Ketterers Bühnenbild bestand aus einem schwarzglänzenden Podest, wie man es aus den üblichen Shows in den Medien kennt, wo Kandidaten für lächerlichen Ruhm ihr Würde verscherbeln. Gekippt, wurde dieses Podest zur schiefen Ebene, auf der es schon bald zum Überlebenskampf kam. Katja Wachter choreographierte alle Bewegungsabläufe der eine Stunde und vierzig Minuten dauernden Aufführung konsequent durch. Viele Bewegungen erinnerten an Figuren asiatischer Bewegungslehren, gleichsam ein Seitenhieb auf populäre esoterische Importe, die meist nur Form bleiben und keine Inhalte haben. Ein wichtiges Element der Inszenierung war die Musik, Leitung und Kompositionen von Friedrich Rauchbauer. Neben süßlich seichter Pseudoklassik erklangen auch Ballermannhits oder Volkslieder. In diesem Kontext aus Wort, Klang und Bewegung offenbarte sich die Realität, die hinter den Bildern lauerte, als absurd, lächerlich und entsetzlich peinlich.

Es ist unmöglich, einen einzelnen Darsteller aus dem achtköpfigen Ensemble herauszuheben. Es war exzellentes Ensembletheater, in dem jede Leistung eine beachtliche war. Neben Spiellust konnte der Zuschauer hervorragendes Handwerk und geistiges Engagement erleben. Obgleich Perfektion keine Tugend ist, sondern vielmehr die Abwesenheit von Fehlern bezeichnet, muss hier von Perfektion gesprochen werden. Es war ein großartige darstellerische Leistung, eine grandiose ästhetische Umsetzung und eine lobenswerte intellektuelle Herausforderung für das Publikum. Unterm Strich war es eine erschütternde, weil kompromisslose Aufklärung zum Thema Zeitgeist. Die Wirkung beruhte nicht zuletzt auch auf der Komik, die reichlich ausgestellt wurde. Einmal mehr muss festgestellt werden, dass herausragendes Theater nicht an einer hochsubventionierten Bühne stattfand, sondern an einem Ort wo Idealismus lebt. Glückwunsch und Dank an die Beteiligten dieser Inszenierung.

 
 
Wolf Banitzki


 


Unser Kandidat

Eine Stückentwicklung mit Texten von Ewald Palmetshofer

Kim Bormann, Michael Glantschnig, Fanny Krausz, Marco Michel, Alexander Sablofski, Béla Milan Uhrlau, Johanna von Gutzeit, Daron Zakaryan

Regie: Jochen Schölch

Metropoltheater Dr. Wahn von Paul Kaiser


 

 
Nobelpreisverdächtige Unterhaltung = Intelligenz x Humor2

Auf dies Formel können die 90 Minuten mit Dr. Wahn zusammengefasst werden. Und bei so viel Einsicht können, ja müssen dem Vortragenden, schon die roten Haare zu Berge stehen. Spreizt sich doch das Wissen tatsächlich meist vehement gegen das Leben und vice versa. Da hilft nur eine exorbitante Portion Humor. „Man kann nicht alles verstehen ... Wahnsinn oder Wahn ohne Sinn.“  Wer weiß das schon? „Wir wissen nichts ... aber alles besser.“

Auf dem Schreibtisch, dem Sinnbild für festgeschriebenes Wissen, welcher in der Mitte der Bühne stand, waren Bücher aufgetürmt, ein Radio, eine Reihe von Weltkugeln, das Modell eines Atoms und dergleichen Anschauungsmaterial mehr. Anhand zweier Fotos holte Dr. Wahn einen Punkt der Heisenbergschen Unschärferelation in seinen Vortrag. War das fahrende rote Auto deutlich scharf erkennbar, so verschwamm der Hintergrund und umgekehrt. „Es ist nicht möglich den Ort und den Impuls eines Quantenobjektes gleichzeitig exakt zu messen.“ - „Welche Anschauung ist wahrer?“ Die des Wissens, oder die des Lebens? Was hat das für Konsequenzen, wenn alles relativ ... und die Resultate abhängig von einer Laune des Betrachters sind.

Es muss also verwundern, dass im allgemeinen alltäglichen Chaos doch vergleichsweise viel ganz ausgezeichnet und präzise abläuft, ein Mindestmaß an Einigkeit in der Betrachtung herrscht. Dass die Menschen sich fortpflanzen, obwohl die Unvereinbarkeit, dieses beglückende spannende Missverständnis zwischen den Geschlechtern dem widerspricht und obwohl jeder einzelne die Welt relativ ganz anders wahrnimmt. Da tat es gut Zuschauer zu sein, sich scheinbar unbeteiligt amüsieren zu können. Scheinbar unbeteiligt, denn Dr. Wahn bezog das Publikum durchaus in seine Ausführungen voll komischer und ergreifender Momente ein. Intelligent und witzig gestaltete Paul Kaiser den Vortrag durch die, die Weltanschauung grundsätzlich verändernden wissenschaftlichen Erkenntnisse des letzten Jahrhunderts. Sprachspiele und Wortgewandtheit gepaart mit der unverkennbaren Gestik des enthusiastischen konzentrierten „wahnhaften Wissenschaftlers“ zeichneten das überaus lebendige Vortragsspiel von Paul Kaiser aus. Schafft er’s? Er schaffte es! Er holte viel Wissen, auf gut verständliche Weise vom Schreibtisch auf den Boden. Er machte verständlich, wie es möglich wäre mit einem speziellen Fernrohr durch die Zeiten zu sehen –auf den eigenen Rücken, wohl um sich selbst auf die Schliche zu kommen. Hat es alles schon mal gegeben vor UrUrzeiten oder befindet sich alles immer ausschließlich gleichzeitig im Jetzt, dem rasenden Stillstand und die Zeit ist bloße Einbildung? Lassen Sie sich die Welt erklären von Dr. Wahn.

 
   
 

Paul Kaiser

© Hilda Lobinger

 

 

Die alles durchdringende Erkenntnis nach dem Vortrag: Man kann zwar fast alles berechnen, kommt aber deshalb mit dem offensichtlich einfachen Leben doch nicht wirklich klarer. Willkommen im Erlebnispark des allgemeinen Wahnsinns. Alles ist möglich und hier war es unmöglich ohne erhellendes Lachen davon zu kommen. Gäbe es einen Nobelpreis für Theater, er würde zweifellos Dr. Wahn – Paul Kaiser - zuerkannt.

 
C.M.Meier

 

 


Dr. Wahn

Eine ur-knallige Raum-Zeit-Gedanken-Schleife
von und mit Paul Kaiser

 

Metropol Theater Pinoccio nach Carlo Collodi


 


Pinocchio für Erwachsene

1881 erschien Carlo Collodis märchenhafte Erzählung in einer italienischen Wochenzeitung unter dem Titel „Le Avventure Di Pinocchio: Storia Di Un Burattino“ (Abenteuer des Pinocchio: Geschichte eines Hampelmanns) als Fortsetzungsgeschichte. Überrascht vom Erfolg, entschloss sich Collodi 1883 dazu, den Text in Buchform zu veröffentlichen. Seither ist die Geschichte weltweit bekannt. In Deutschland trat das Buch mit seiner Erscheinung 1905 unter dem Titel „Hippeltitsch's Abenteuer“, seit 1948 schließlich unter „Die Abenteuer des Pinocchio“ seinen Siegeszug durch die Kinderstuben an. Wie die Inszenierung durch Jochen Schölch am Metropoltheater zeigte, eignet sich der Stoff aber auch bestens dazu, in den Wohnstuben der Erwachsenen erzählt zu werden. So märchenhaft der Inhalt der Geschichte und ihre Protagonisten auch anmuten mag, die Aktualität ihrer Metaphorik ist beinahe bedrückend.

Carlo Collodis Geschichte ist das abenteuerliche Stationendrama der sprechenden Holzpuppe Pinocchio. Der Holzschnitzer Geppetto bekam vom befreundeten Tischlermeister Antonio einen sprechenden Holzscheit geschenkt, den er zu einer Puppe verarbeitete. Er betrachtet den „hölzernen Dummkopf“ (ein Wortspiel, das zu dem Namen führte) als seinen Sohn. Er möchte, dass dieser eine Schule besucht und verkauft dafür seine Jacke. Doch Pinocchio kommt in der Schule nicht an. Immer wieder erliegt er den Verführungen des Lebens, verliebt sich in das Geld und scheut die Pflichten. Er wird betrogen und sogar am Hals aufgehängt. Die Fee mit den blauen Haaren errettet ihn vom Tod und aus einigen schlimmen Situationen. Im Spielzeugland wird er in einen Esel verwandelt und an einen Zirkus verkauft, wo er sich während einer Vorstellung verletzt. Der Direktor verkauft ihn an einen Mann weiter, der auf das Fell erpicht ist. Um Pinocchio zu töten, wird er ins Meer geworfen. Dort verschluckt ihn ein Wal, in dessen Innern er seinen Vater wiedertrifft, der auf der Suche nach seinem hölzernen Sohn vom Meeressäuger verschluckt wurde. Wieder vereint, verspricht der kleine Tunichtgut seinem Schöpfer, ehrlich und anständig zu sein. Dafür wird ihm in Collodis Buch die Verwandlung in einen Menschen aus Fleisch und Blut versprochen.

Hinter den unterhaltsamen Abenteuern verbirgt sich eine rohe Welt, die vom Glanz des Geldes geblendet ist und in der das Dasein nicht selten bloßer Überlebenskampf ist. Jochen Schölchs Inszenierung wurde stark beeinflusst von der Sicht des englischen Musikers Martyn Jacques, der sich vornehmlich mit dem Abgründigen im menschlichen Wesen beschäftigte, mit den gesellschaftlichen Randerscheinungen. Mit seiner Band The Tiger Lillies drang er in die Schattenregionen der Geschichte vor, ohne ein tröstendes Ende zu verheißen. Heraus kam ein Musical (Arrangements: Walter Kiesbauer), dessen Songs an Tom Waits oder an Mark Sandman, Frontmann der Band Morphine, erinnerten und von einigen Darstellern auch in deren Stil vorgetragen wurden. Was mit Collodis Bildern märchenhaft begann, wuchs sich in Jochen Schölchs Inszenierung zu einem bösen existenzialistischen Drama aus, in der es wenig Gnade oder Erbarmen gab. Die Welt zeigte dem die Zähne, der ihre Regeln nicht befolgte. Eine Regel war zwar, dass der Mensch arbeiten muss, jedoch gab es keine Regel, dass der, der arbeitet, auch verschont wird vom Hunger und von der (menschlichen ) Kälte. Die Welt, in der Pinocchio lebte (und die sich von unserem heutigen hochglanzelenden Welt in ihrem Wesen nicht unterscheidet) war die denkbar schlechteste aller Welten.
 
  pinoccio  
 

 

© Hilda Lobinger

 

 

Jochen Schölch ist bekannt für seine intelligente Auslotung der Stoffe und überraschende szenische Lösungen, die sehr häufig an Magie erinnern. Er ist auch bekannt dafür, ungeläufige theatralische Mittel zu verwenden, deren Wirkungsweisen eigentlich tradiert sind. Nicht wenige zeitgenössische Regisseure scheinen von ihrer ureigenen Genialität soweit überzeugt zu sein, dass ihnen des Handwerk vergangener Jahrhunderte gleichgültig geworden ist. Nicht so Jochen Schölch. In „Pinocchio“ spielt er die gesamte Klaviatur des Theaterhandwerks. Die ungewöhnlich elektrisierende Musik (Leitung: Walter Kiesbauer, Andreas Lenz von Ungern-Sternberg) von Thomas Wenke und Live-Band mit sattem Streichersound bis hin zur Neil Young Gitarre (Soundtrack zu Dead Man) verlangte sämtlichen Darstellern (englischsprachigen) Gesang im Stil des oben genannten Tom Waits voller Morbidität bis hin zu angedeutetem italienischen Belcanto ab.  Michael Vogtmann, als vom Leben nicht gerade verhöhnten Geppetto, spielte Pinocchio auf der Mundharmonika zudem seinen Blues.

Schölch inszenierte Tanz, Tanztheater (Choreographie: Katja Wachter), sogar Spitze (Lilian Naumann als Fee), baute Pantomimen ein und ließ seine Darsteller unter Masken (Maskenbau: Ninian Kinnier-Wilson) der Commedia dell'arte agieren. Ausgenommen Pinocchio, dem Denise Matthey ein sehr menschliches Gesicht verlieh, während alle anderen in der Typologie des Maskenhaften abtauchten und sich auch verbargen. Erstaunlich eigentlich, dass dieser wirkungsvolle Verfremdungseffekt so selten auf unseren Bühnen genutzt wird. Hinzu kamen Puppenspieleinlagen mit hohem Symbolgehalt (Puppenbau: Peter Lutz). Vergleichbar wäre diese Inszenierung mit einem Blick in ein Kaleidoskop, das bei jeder Bewegung in neuen Farben und Formen schillerte. Überraschendes allenthalben. Wer erwartet schon, dass plötzlich Haie bedrohlich durch den Raum schweben? Aber auch nicht ohne Witz, insbesondere, wenn Clownfisch Nemo zur Rettung naht.

Alle Vorgänge auf und hinter der Bühne (Ausstattung: Leonie Droste) waren öffentlich, konnten von den Zuschauern eingesehen werden. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb war die Suggestion überwältigend. Die Schauspieler wechselten sichtbar ihre Kostüme, ihre Masken, aber auch die an Robert Crumbs Kafka-Illustrationen erinnernden Projektionsvorlagen für den Bühnenhintergrund von Leonie Droste und Denise Matthey aus. Auf einer kleinen modellhaften Bühne seitlich auf der Spielfläche stand eine Apparatur, die an eine Laterna magica erinnerte. Einige dieser Vorgänge waren, ganz wie in verträumten Kindertagen, ebenso mystisch wie anrührend. Doch wer auf Heimelichkeit gesetzt hatte, ein naives Märchen mit Happy End erwartete, wurde herb enttäuscht. In allem was geschah, war auch ein gerüttelt Maß Horror, kein fiktionaler, sondern ein aus der Realität inspirierter. Und genau das machte die Großartigkeit des Abends aus. Mit kaum vorstellbarer Konsequenz hatten die Beteiligten kunstvoll aus einer lieblichen Kindergeschichte ein bedrückendes Erwachsenendrama gemacht. Schölch ging mit der Geschichte Collodis durchaus frei um, er zerstörte sie mit seiner radikalen Lesart aber nicht.

Und noch eine Tugend des Abends, die gleichsam eine Tugend des Metropoltheater zu sein scheint, soll hier benannt werden. In diesem Theater setzt man nicht auf Einzelpersönlichkeiten, auf  „Stars“ unter den Darstellern. Auch in dieser Inszenierung fand bestes Ensembletheater statt. Jeder der sieben Darsteller beeindruckte, hinterließ seinen eigenen charakteristischen Abdruck, doch keiner stach heraus. Es war deutlich spürbar, dass jeder sein beträchtliches Können in den Dienst der Sache stellte. Heraus kam eine in sich geschlossene, aufregende, fantasievolle und in Erstaunen versetzende Arbeit, der mit ziemlicher Sicherheit großer Erfolg beschieden sein wird. „Pinocchio“ ist eine der besten Arbeiten, die bisher im Metropoltheater zu sehen waren.
Sollte man auf keinen Fall verpassen!


Wolf Banitzki

 

 


Pinoccio

nach Carlo Collodi
mit Musik von Martyn Jacques/The Tiger Lillies

Denise Matthey, Lilian Naumann, Thomas Schrimm, Enrico Spohn, Michael Vogtmann, Elisabeth Wasserscheid, Thomas Wenke und Live-Band

Regie: Jochen Schölch
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