Volkstheater Siegfried von Feridun Zaimoglu / Günter Senkel


 

Empörend!

Das waren noch Zeiten, als wissende, humanistisch und meist auch national gesinnte Lehrer mit feuchten Augen aus der „Edda“ vorlasen. Nehmen wir den deutschen Autor Snorri Sturluson (gest. 1241), der seine Fassung der „Edda“ um 1220 für den norwegischen König Hákon Hákonarson niederschrieb. (Er wusste leider nicht, dass er Deutscher war!)  Die deutsche Fassung der „Nibelungen“ entstand ebenso in dieser Zeit und der meistgehandelte Autorenname war Konrad. Konrad – Was für ein Name! Obwohl die so genannten „seriösen“ Wissenschaften diesen Namen immer wieder in Frage stellen, sollten wir uns zu ihm bekennen, denn es war im Mittelalter der zweithäufigste Name neben Heinrich und somit hat er durchaus Symbolcharakter. Ursprünglich handelte es sich hier um den keltisch-germanischen Sagenkreis, identitätsstiftender Kleister einer völkischen Idee, die letztlich auch das deutsche Volk amalgamierte. Und die Ursprünge?  Prosper Tiro von Aquitanien, ein Zeitzeuge, überlieferte uns die geschichtlichen Vorgänge des Jahres 435: „Zu dieser Zeit besiegte Aetius den Gundichar (Gunther) vernichtend, der als Rex (gemeint ist nicht der Schäferhund von Tobias Moretti, sondern der König) der Burgunden in Gallien eingedrungen war. Auf sein Flehen gewährte ihm Aetius Frieden, den der Rex aber nicht lange genießen konnte. Denn wenig später ließ man ihn und sein Volk von den Hunnen mit Stumpf und Stiel ausrotten.“

Diese völkische Katastrophe wurde zum Brandmal auf der deutschen Seele, unauslöschlich und schmerzhaft durch alle Zeiten. Was sollte sich also besser eignen zum nationalen Mythos als der Untergang eines ganzen Geschlechtes? Zugegeben, eine Geschichte, bei der ein paar Helden überleben, würde sich schon wegen der Fortsetzung (2. Staffel) besser eignen. Aber es geht um Deutschland (Oder sollte ich Germanien sagen?), und kein Land kennt sich besser mit Untergängen und Katastrophen aus als die Deutschen. Da muss man die Geschichte mit „Nibelungentreue“ und Stalingrad gar nicht erst zitieren. Spätestens seit Hölderlin wissen wir, dass Heros und Tod eineiige Zwillinge sind. Auch um 1200 gab es die reale Gefahr durch die Hunnen. Zwar hatte Heinrich I. (933) ihnen eine deutliche Abfuhr erteilt, doch diese hinterlistigen und unkultivierten Gesellen lagen noch lange Zeit auf der Lauer. Es ist unbestritten: die Bedrohung aus dem Osten ist historisch verbürgt und permanent. Seit 800 Jahren haben wir (Gottlob!) unseren Heldenepos, der mit den wundervollen Worten eingeleitet wird:
„Uns wird in alten Erzählungen viel Wunderbares berichtet, / von rühmenswerten Helden, großer Kampfesmühe, / von Freuden, Festen, von Weinen und von Klagen; / von den Kämpfen kühner Helden könnt ihr nun Wunderbares erzählen hören.“

Schön wäre es, wenn man „nun Wunderbares erzählen hören“ könnte. Was im Volkstheater über die Bühne ging, war alles andere als wunderbar. Es war empörend! Soweit ist es mit diesem „multikulturellen“ Land schon gekommen, dass Menschen mit türkischer Abstammung, sich an deutschem Geistesgut vergehen dürfen. Der Name: Feridun Zaimoglu, 1964 im asiatisch-türkischen Bolu geboren. Die Kollaborateure: Coautor Günter Senkel (Bekennender Wehrkraftzersetzer!) und Regisseur Christian Stückl.

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Jakob Geßner

© Arno Declair

 

Die Lichtgestalt der deutschen Hochkultur, Siegfried, schöner und edler Held königlichen Geblüts, wurde von Jakob Geßner gegeben, einem jungen, blonden und blauäugigen Mann, dessen Antlitz in fünf Meter hohen Marmor geschlagen und vor dem Haus der Kunst aufgestellt werden sollte. Stückel verführte ihn dazu, einen groben, dümmlichen, geilen, ordinären Schlagetot auf die Bühne zu bringen, vor dessen Anblick wir unsere Kinder schützen sollten. Nicht weniger entsetzlich anzuschauen war Frederic Linkemanns Sigmund, Vater Siegfrieds, der sich als tyrannischer, bildungsfeindlicher Flachkopf gerierte. Hier hatte die Familie, Hort und Ziehstätte von Geist und edler Gesinnung gar nichts, was den wundervollen Charakter des Helden erklären könnte. In der Rolle des Burgunderkönigs Gunther gestaltete Linkemann einen lächerlichen Popanz, der von seiner Ehefrau Brunhild auch verbal immer wieder zusammengefaltet wurde. Robert Joseph Bartl spielte eine isländische Königin, der es gänzlich an Anmut und holder Weiblichkeit mangelte. Wo bleibt da der Bildungsauftrag des Theaters, fragte man sich unwillkürlich, wenn ein derartiges Frauenbild propagiert wird? Kaum einen Deut besser gelang Magdalena Wiedenhofer die Gestaltung der eigentlich bezaubernden, sich in Zurückhaltung übenden Kriemhild. Die hatte ihre sexuellen Begehrlichkeiten in ihrem ordinär-rotem Kleid nicht einmal ansatzweise im Griff und der Zuschauer war immer wieder gezwungen schamhaft den Blick abzuwenden. Bei dem Versuch, die Darstellung Hagen von Tronjes durch Paul Behren zu beschreiben, versagten dem Kritiker die Kräfte …

Weit schlimmer, als die despektierlichen schauspielerischen Leistungen, die zu beschreiben jeden Feingeist und Ästheten in den Wahnsinn treiben muss, war die Sprache des Spektakels. Der „gute Geschmack“, egal auf welcher Ebene angesiedelt, wurde nicht nur verletzt, er konnte unbeschadet nicht überleben. Selbst wenn es sich dabei um deutsches Wortgut handelte, man muss nicht alles in den Mund nehmen, was man kennt. Ästhetisch völlig inakzeptabel, wenngleich zugestanden werden muss, dass der Drache von Stefan Hageneier (Bühne und Kostüme) durchaus trefflich und wohl auch recht realitätsnah gelungen war, war es auch akustisch eine Anfechtung. Die Musiker unter der Leitung von Tom Wörndl erinnerten nicht im Geringsten an die alten, verehrungswürdigen Skalden oder Barden. Sie musizierten laut und diabolisch rhythmisch und rissen so immer auch große Teile des Publikums mit sich in die Abgründe des schlechten Geschmacks. Es wurde dabei nicht selten in fremden Sprachen gesungen.

Der heutige Theatergänger ist ja eine recht hartgesottene Spezies. Allein, wenn diese Institution der Erbauung und Erhebung der menschlichen Seele und des Geistes zur Brutstätte von Renitenz und Subordination degeneriert, ist der Bürger unbedingt gefordert. Quintessenz dieses Machwerkes ist nämlich die Unterstellung, dass die Edlen, die Eliten, die Protagonisten der Gesellschaft, also Politiker und Wirtschaftskapitäne (Ein wunderbares Wort!), die sich früher durch ihre Geburt über uns erhoben, und denen wir uns heute durch demokratische Wahlen willig und vertrauend ergeben, kritikwürdig sein könnten! Es wird ihnen nicht nur Unfähigkeit und Desinteresse unterstellt, sondern auch Egoismus und Eitelkeit. Das geht zu weit, und darum sei jeder teutonische Patriot dringendst aufgefordert, in das Volkstheater zu gehen und durch Präsenz Widerstand zu leisten. Wenn dieser empörende Vorgang Schule macht, werden wir bald Döner statt Kartoffeln essen und der Untergang des Abendlandes ist besiegelt.

 

Wolf Banitzki

 


Siegfried (UA)

von Feridun Zaimoglu / Günter Senkel

Jakob Geßner, Jona Bergander, Magdalena Wiedenhofer, Frederic Linkemann, Ursula Maria Burkhart, Robert Joseph Bartl, Oliver Möller, Mehmet Sözer, Paul Behren

Regie: Christian Stückl

Volkstheater Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing


 

 

Kein Wort über Terrorismus

„Seine Bedeutung für die Nation liegt in seinem Widerspruch zu ihr. Innerhalb eines Volkes, dessen größte Gefahr der gemachte Charakter ist, war er ein echter Charakter.“ Das schrieb Hugo von Hoffmannsthal über Gotthold Ephraim Lessing. Unter normalen Umständen würde man wohlwollend und zustimmend nicken. Doch unter den gegebenen Umständen sollten wir entsetzt sein. Dank der Inszenierung von Lessings „Nathan der Weise“ durch Christian Stückl am Münchner Volkstheater sind wir auf der nichtalltäglichen Weise (Theater ist das immer noch für mich!) gezwungen, uns mit dem Thema Toleranz auf philosophischer und künstlerischer Ebene zu beschäftigen. Ohne Frage gibt es kaum ein Volk, das so tolerant ist wie unseres. Wir sind so tolerant, dass wir jederzeit unterschreiben würden, absolut und uneingeschränkt tolerant zu sein, denn Toleranz ist eine positive Charaktereigenschaft. Hoppla, da könnte doch der Gedanke aufkommen, dass ein derartiger Charakter ein „gemachter Charakter“ sei. Und Hoppla, plötzlich werden wir damit konfrontiert, dass wir in unserer Begeisterung über uns selbst uns dabei ertappen, dass wir auch tolerant gegenüber der Intoleranz sind.

Dass etwas gewaltig aus dem Ruder läuft in unserem Land, beweist die allumfassende Ratlosigkeit. Das hält uns aber nicht davon ab, zu handeln. Also gehen wir auf die Straße gegen die, die auf die Straße gegangen sind. Das ist emotionale Aufrüstung. Und jeder opponiert gegen den anderen in der tiefen Überzeugung, auf dem rechten Weg und im Besitz der Wahrheit zu sein. Es ist schon erstaunlich, wie man im Zustand der völligen Orientierungslosigkeit und geistiger Irritation Wahrheiten hervorbringen will. Inhalte? Die sind doch schon längst kein Thema mehr. Pogrome finden weltweit statt und Pogromstimmung liegt auch bei uns längst schon wieder in der Luft. Und wenn dann ein hochrangiger Politiker das einzig Richtige in dieser Situation macht und auf die andere Seite des Grabens klettert, um zu reden, ist er ein Verräter und Nestbeschmutzer. Das macht wirklich Angst, mehr, als wenn eine Handvoll krimineller Fanatiker unter Berufung auf eine Religion ein Dutzend Menschen ermorden. Übrigens: „Gott ist das Asyl der Unwissenheit!“ (René Descartes) Und übrigens, es gibt neben den Religionen auch noch den Atheismus. Atheisten sind in zivilisierten Gesellschaften Menschen, die nicht im Namen ihrer Weltanschauung töten. Aber das nur zur Erinnerung.

Es geht wieder um Ideologien, und die sind die guten, die den Bestand der „freien Welt“ und ihrer Apologetik des Wachstums unangetastet lassen. Dumm nur, dass sich nicht mehr verheimlichen lässt, dass eine Handvoll Menschen mehr Vermögen besitzen, als die Hälfte der Erdbevölkerung. Dumm auch, dass man langsam begreift, dass im System des Kapitalismus Reichtum gesetzmäßig an Armut gekoppelt ist. Und dumm erst recht, dass man den Reichen nicht mehr glaubt, dass sie die „Guten“ sind, nur weil sie die Gesetze machen und in den Vorständen der Wirtschaft sitzen. Naturgemäß ist jeder, der tatkräftig dagegen aufbegehrt, weil er sich und seine Familie nicht mehr ernähren kann oder weil er einfach keinen Sinn mehr in dieser Art von asozialer Gesellschaft sieht, der „Böse“. Dumm vor allem, weil uns alles das die Ruhe raubt und unsere „gemachten Charaktere“ auf den Prüfstand stellt.

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Pascal Fligg, Sohel Altan G., August Zirner

© Arno Declair

 

Das dramatische Gedicht „Nathan der Weise“ gibt es seit 235 Jahren. Es ist beinahe zu allen Zeiten gespielt worden, denn es gibt auf viele Fragen, auch und vor allem der heutigen Zeit, Antworten. Es sind einfache Antworten, die aber nicht populistisch sind und keine Rezepte darstellen für den Umgang mit den Problemen. Vielmehr schaffen sie aufgeklärtes Bewusstsein, beispielsweise darüber, was Religion ist und warum es in der Verantwortung jedes einzelnen Gläubigen liegt, in der Gesellschaft zu bestehen und die Gesellschaft so zu gestalten, dass sie lebenswert ist. Das Stück gemahnt uns an die eigene Verantwortung und verweist auf die Konsequenzen, die das Handeln mit sich bringt. Doch Religion ist mehr als die Huldigung und Anbetung eines Gottes, denn institutionalisiert ist sie auch Macht, ist sie Ökonomie, ist sie auch politisches Führungsinstrument und verfolgt somit sehr weltliche Ziele. Wer immer sich hinreißen lässt, aus seiner religiösen Anschauung eine politische abzuleiten, die weltlichen Zielen folgt, hat seine Religion verraten. Das ist im Koran so angelegt und auch das Alte Testament rekrutiert vorsätzlich Kämpfer für die eine, die wahre Religion. Man muss diese Bücher einmal lesen, bevor man darüber spricht. Es ist auch gar nicht schwer, denn diese Bücher wurden ursprünglich für jedermann geschrieben. Erst die selbsternannten Priester schufen die Kluft zwischen den Gläubigen und „Gottes Wort“, indem sie das Interpretationsmonopol an sich rissen.

Nathan, der reiche Jude aus Jerusalem, soll dem muslimischen Herrscher, dem Sultan Saladin erklären, welche Religion die einzig wahre sei? Die Frage ist erst einmal töricht, wie man an der Reaktion Nathans ablesen kann, denn man ist Jude oder Christ oder Moslem, weil man seine Religion für die richtige hält. Mit der Ringparabel verdeutlicht Nathan/Lessing dem Sultan/uns schließlich, dass es unwichtig ist, wie und nach welchen Regeln die Gläubigen Gott huldigen, sondern wie gottgefällig, also verantwortlich der Schöpfung und also auch uns selbst gegenüber, die Gläubigen leben und handeln. Die Welt dreht sich jedoch anders, denn die Hüter der Religion streben unentwegt nach weltlicher Macht. Im Iran ist die religiöse Macht heute größer als die der „gewählten Volksvertreter“. Diese Macht lässt steinigen, auspeitschen, enthaupten. Auch in „Nathan der Weise“ gibt es ein Beispiel dafür. Als der Patriarch erfährt, dass Nathan achtzehn Jahre lang unter seinem Dach eine getaufte Christin erzogen hat, kann es nach christlichem Verständnis und päpstlichem Gesetz nur ein Strafe geben: „Der Jude wird verbrannt!“ Und schon sind wir wieder in der Realität; nach zweihundertfünfzig Jahren Aufklärung hören wir wieder die Rufe: „Der Ungläubige wird getötet!“ Und was geschieht? Die Welt tut sich nicht zusammen, vergisst für den Augenblick die religiösen Grenzen, um diesen Wahnsinnigen und Kriminellen in den Arm zu fallen? Es wird darüber diskutiert, ob und wie tolerant wir sind? Ob diese Rufe wahrheitsgemäße Interpretationen aus den heiligen Schriften sind? Und das „Abendland“ beginnt sich wieder zu erheben gegen das „Morgenland“.  

Christian Stückls Inszenierung blieb im Rahmen des Lessingschen Textes und verzichtete auf inszenatorisches Beiwerk. Jeglicher zusätzlicher Deutungs- oder Interpretationsversuch wäre vermutlich auch kontraproduktiv gewesen, denn es ist kaum vorstellbar, dass irgendwer Einsichten über die von Lessing hinaus formulieren könnte. Es wäre schön, sagen zu können, Religion sei ein Auslaufmodell, der Mensch braucht die von ihm geschaffenen Götter nicht mehr. Doch wir leben in Zeiten der Angst und Angst hat Religiosität und Eiferertum noch immer befeuert. Die Deutlichkeit, mit der der Text auf der Bühne transportiert wurde, ließ die „Wirkungsökonomie“ (Friedrich Luft) bestens funktionieren. Es waren einzelne Wörter, die die Erregung aufkommen ließen: Jude und brennen, Allah und Gewalt oder zurück nach Europa. Herausgelöst aus der Tagesberichterstattung bekamen sie eine tiefere, weniger plakative Semantik und bewegten. Es war unüberhörbar, wie gewaltig dieser Text doch ist.

Stückl verzichtete darum nicht auf Theaterkunst und Komödiantik. Schon die Besetzung des Nathan mit August Zirner erwies sich als überaus belebend für den Abend. Haben frühere, pathosbeschwerte Inszenierungen Weisheit in Gestalt dicker, in sich ruhender, alter Juden daherkommen lassen, ein probates Mittel, der Jugend die Klassiker zu verleiden, agierte August Zirner als schelmischer, springlebendiger Mann, der in seine Tochter und in das Leben schlechthin vernarrt war. Das war spaßig anzuschauen, doch einer lief ihm dabei den Rang ab: Jakob Geßner in der Rolle des Tempelherrn. Dieser Tempelherr war weniger bewegt von heiligem Edelsinn, sondern vielmehr von soldatischem Gehorsam. Die Rettung Rechas aus dem Feuer ihres Wohnhauses, von Constanze Wächter als liebesduseliges, leicht naives Töchterchen gespielt, war für den Tempelherrn „Dienstpflicht“, Bestandteil des Reglements. Geßner gab einen etwas beschränkten, aber umso impulsiveren Mann, bei dem man sofort befürchtete, dass er Katastrophen heraufbeschwören würde. Er enttäuschte nicht.

Die Katastrophen wurden von der christlichen Erzieherin Rechas, Daja, gespielt von einer vor innerem Drang fast zerberstenden Mara Widmann, eingerührt. Der übermächtige Wunsch, nach Europa zurück zu kehren, verstellte ihr den Blick auf die politischen Realitäten und so brachte sie das Leben Nathans in Gefahr. Die ging vom Patriarchen aus. Thomas Kylau, durch Kostüm und Licht dämonisiert, hätte so auch in „Das Cabinet des Dr. Caligari“ brillieren können. Der deutsche Filmexpressionismus hätte gejubelt. Seinen Handlanger, den Klosterbruder, gestaltete Jean-Luc Bubert als einen bescheidenen, aber von menschlichen Gefühlen beseelter Mann mit komischen Zügen in seiner Bescheidenheit. Pascal Fligg, von Regisseuren gern in das Gewand der Bösewichter gesteckt, oblag der Part des Saladins. Er spielte ihn zerknirscht, denn immerhin hatten ihm die Christen einen Krieg aufgezwungen, den er wegen seiner klammen Kassen und seiner humanistischen Gesinnung nicht führen konnte und auch nicht führen wollte. Er war ein integerer Herrscher, mit ähnlich löblichen Eigenschaften wie Nathan ausgestattet. Sehr ambivalent hatte Christian Stückl die Figur des Melek, Bruder des Saladin, angelegt. Sohel Altan G. gab einen aalglatten, freundlichen Politiker, der jedoch äußerstes Unbehagen erzeugte, wenn er das Wort Gewalt mit zärtlicher Lautmalerei in den Mund nahm. Ihm zur Seite vier Leibwächter mit AK 47, Turbanen und Feldausrüstung. Stückl hatte eine Gebetsszene auf der abgedunkelten, aus einer einzigen großen Welle bestehenden, leeren Bühne (Stefan Hageneier) inszeniert. Spätestens hier wurde der Zuschauer wieder von der Realität eingeholt. Obgleich die Männer nur beteten, drängten sich die Bilder von islamistischem Terrorismus unweigerlich auf. Das war Suggestion vom Feinsten.

Schließlich wurde das Lessingstück schnörkellos zu Ende gebracht, und als Pascal Fligg als Saladin, seine „tiefe Rührung“ beiläufig mit „fast“ abtat, konnte man sicher sein, dass der unselige Schluss, der auf hanebüchenen Verwechselungen basiert, und der in seiner Auflösung ganz große Gefühle freisetzt, dem Publikum so emotional verwässernd erspart blieb. Dafür Dank.

Stückls Inszenierung wäre für junge Leute unbedingt ein guter Einstieg in die Dramatik der deutschen Klassiker. Für politisch interessierte Theatergänger sei sie mindestens ebenso empfohlen, denn sie leistet mehr als jede Talkshow, Kundgebung, Demonstration oder politklerikale Beschwörung. In ihr paart sich Humanismus mit gesundem Geist. Das ist das Gegenteil von Ideologie.

 

Wolf Banitzki

 


Nathan der Weise

von Gotthold Ephraim Lessing

Pascal Fligg, Sohel Altan G., August Zirner, Constanze Wächter, Mara Widmann, Jakob Geßner, Mehmet Sözer, Thomas Kylau, Jean-Luc Bubert

Regie: Christian Stückl

Volkstheater Kasimir und Karoline von Ödön von Horváth


 

 

Grundsolide und wirkungsvoll

Mit schöner Regelmäßigkeit „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth in München: 2009 am Volkstheater in der Regie von Florian Fiedler, 2011 am Residenztheater in der Regie von Frank Castorf und nun erneut am Volkstheater in der Regie von Hakan Savaş Mican. Bei so vielen Wiederholungen kommt schon mal Verdruss auf beim Kritiker. Er läuft nämlich Gefahr, sich selbst zu zitieren. Das passiert schon mal, wird aber peinlich, wenn es der Zuschauer und Kritikleser mitbekommt, insbesondere, wenn die Kritik negativ ausfällt. Aber genau das wird nicht geschehen, denn die geschaute Inszenierung hat den Kritiker und, wie er am Schlussapplaus deutlich hören konnte, auch das Publikum mehr als zufrieden gestellt. Es folgt nun ein Lobgesang.

In einer und einer dreiviertel Stunde erzählte Regisseur Hakan Savaş Mican unprätentiös und gänzlich auf den Text vertrauend die Geschichte des Münchner Paares, das unter dem Druck der Ereignisse und den gesellschaftlichen Umständen an nur einem Tag ihre Liebe aus den Augen verliert. Kasimir, bis zum Vortag noch Chauffeur mit festem Einkommen, ist entlassen worden. Ihm ist nicht nach Feiern zu Mute, doch es ist „Wiesn“ und die fesche Karoline möchte sich ihren Spaß nicht verderben lassen. Sie lernt den Zuschneider Schürzinger kennen, einen gepflegten und scheinbar seriösen Menschen, der sie alsbald mit der These konfrontierte, dass Arbeits- und Einkommenslosigkeit die Liebe zwischen den Menschen sterben lässt. Karoline widerspricht beherzt, denn sie glaubt an die Macht der Liebe, die sich gerade in Zeiten der Not entfaltet. Allein die Begegnung mit Schürzinger lässt sie schon abschweifen und den Verlobten Kasimir in ihrem Bewusstsein verblassen. Die Begegnung mit dem reichen Fabrikbesitzer Kommerzienrat Rauch indes führt sie schließlich auf Abwege. Kasimir wird seinerseits vom  Merkel Franz bedrängt, an seinen kriminellen Aktivitäten teilzuhaben. Dessen Freundin Erna sucht das zu verhindern, doch Merkel Franz ist ein brutaler und rücksichtsloser Mensch. Am Ende der Nacht sind alle Verlierer und das Wesen der Gesellschaft hat sich einmal mehr als zutiefst unmenschlich entpuppt.

Für diesen „Wiesn“-Reigen schuf Sylvia Rieger eine ebenso einfache, wie sinnvolle Bühne. Sie bestand aus einer transparenten Revuetreppe, die von der Rampe her anstieg und nach hinten wieder abfiel. Mehr brauchte es nicht. Die Treppe war praktisch, hielt viel Raum für das Spiel vor, erzeugte Dynamik und stand, wenn es das Stück erforderte, gleichsam metaphorisch für die Gesellschaftspyramide. Miriam Martos Kostüme waren dezent historisierend, was z.B. angesichts des Auftauchens des Zeppelins (übrigens ein beeindruckendes und sehenswertes Bühnenereignis) durchaus sinnvoll war, stand aber dem sehr zeitgenössischen Treiben keinesfalls im Wege. Zudem waren die Darsteller darin durchaus vorteilhaft gekleidet und angenehm anzuschauen.

Horváth-Inszenierungen leiden nicht selten darunter, dass sie musikalisch operettenhaft überfrachtet werden, um mit Banalitäten das Grauen hinter der Fratze bürgerlicher Gemütlichkeit und Lebensart zu potenzieren. Enik, das Pseudonym des Dachauer Musikers und Sängers Dominik Schäfer, zeichnete für die musikalische Leitung und die Kompositionen verantwortlich. Seine düsteren Lieder erinnerten an die existenzialistische Melancholie eines Tom Waits, auch der Gesang war dem des diabolischen Propheten nicht ganz unähnlich. Das schuf eine Atmosphäre, die nichts mit der Bierseligkeit des Münchner Oktoberfestes gemein hatte und einen allgemeineren und aufrichtigeren Topos schuf.

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Constanze Wächter, Ursula Maria Burkhart, Oliver Möller, Xenia Tiling

© Arno Declair

 

Die Karoline von Xenia Tiling war ein sehr gradliniges und properes Mädel, das ihren Lebensanspruch auf sehr natürliche und damit glaubhafte Weise artikulierte. Ihr Charme war ebenso wenig gekünstelt, wie ihre Naivität, sich in eine „höhere Gesellschaft“ zu träumen. Jean-Luc Bubert spielte, von seinem gelegentlich hemmungslosen körperlichen Einsatz abgesehen, wenn er mehrfach die Treppe hinunterstürzte oder -rollte, einen verzweifelten Kasimir, der wenig draufgängerisch um seine Liebe kämpfte und unterlag, unterliegen musste. Er irrlichterte durch die Szenen wie ein Woyzeck, der keine Hoffnung mehr hatte und dem, wie er meinte, kaum eine Alternative blieb, als sich zu betrinken und hernach aufzuhängen.

Eine ebenso tragische Figur verkörperte Mara Widmann in der Rolle der Erna, „dem Merkel Franz seine Erna“. Ihr, einem sehr sanften Wesen, war nicht die Durchsetzungskraft gegeben, sich gegen den halbseidenen Kriminellen zu wehren, der von Pascal Riedel mit sehr viel böser Energie ausgestattet und darum unüberwindlich war. Ausgesprochen komödiantisch agierte Oliver Möller als Zuschneider Schürzinger. In seiner physischen und mentalen Feigheit, gepaart mit unterschwelliger Lüsternheit, geriet er an sich schon komisch. Als er sich aber seinem Arbeitgeber Kommerzienrat Rauch gegenüber sah, blähte sich in ihm zusätzlich noch der karrieregeile Opportunist auf.

Konterkariert wurde er von Robert Joseph Bartl, der seinen Rauch jovial und großmännisch in das Spiel pflanzte wie ein Naturereignis. Er war ein Kapitalist reinsten Wassers mit Manieren und Ausstrahlung, letztlich aber frei von Empathie für seine Mitmenschen. An seiner Seite „manndelte“ sich Michael Tregor in Krachlederner als der norddeutsche Staatsanwalt Speer auf. Gänzlich zur Karikatur wurde er, nachdem er in eine Rauferei geraten und an Kopf und Armen verbunden war. Ursula Maria Burkhart und Constanze Wächter gaben die ansehnlichen und dekorativen Wiesnmädel Maria und Elli, die für einen Fünfer gern mal mitgingen, wohin auch immer.

Regisseur Hakan Savaş Mican gelang mit dem Volksstück aus dem Jahr 1929 ein, im besten Sinn unspektakuläres, solides und berührendes Stück Theater, frei von Sentimentalitäten oder vordergründiger Ideologie. Er führte die Darsteller zu sehr präzisem, wirkungsvollem und unterhaltsamen Spiel, das gänzlich frei von lästigen inszenatorischen Beigaben war. Es war ein rundum gelungener Abend, zu dem man allen Beteiligten nur gratulieren und sich bedanken kann.

 

Wolf Banitzki

 


Kasimir und Karoline

von Ödön von Horváth

Jean-Luc Bubert, Xenia Tiling, Robert Joseph Bartl, Oliver Möller, Pascal Riedel, Mara Widmann, Ursula Maria Burkhart, Constanze Wächter, Michael Tregor

Regie: Hakan Savaş Mican

Volkstheater Und jetzt: Die Welt von Sibylle Berg


 

 

Blitzgescheit und gut gespielt

Sibylle Bergs dramatischer Monolog (Text für eine Person und mehrere Stimmen) „Und jetzt: Die Welt!“ ist eine unterhaltsam-komische und zugleich erschütternd-pessimistische Bestandsaufnahme der Welt und der in ihr lebenden Jugend. Gemeint ist die Generation 20plus mit gediegener Ausbildung und vorzüglicher Leistungsbereitschaft. Sie haben bereits einen Gutteil des Darwinistischen Überlebenskampfes hinter sich gebracht, der ausbrach, als sie in kindlichem Alter ein paar Pfunde zu viel und ihre Klamotten nicht das richtige Label aufwiesen. Der allgemeine Frust schlug um in Gewaltbereitschaft und so zog man mit Leidensgenossinnen durch den urbanen Dschungel, um Schwächeren die Knochen zu brechen. Doch auch das erwies sich nicht als probates Mittel, Anerkennung zu ernten und so ergab man sich dem Mainstream, hoffend, einen nützlichen und sinnvollen Platz in der Gesellschaft zu finden. Die Gesellschaft braucht sie, wenn überhaupt, nur als willige Konsumenten. Beruflich läuft nichts. Wer nicht gerade (seit 10 Jahren) in einem Praktikum feststeckt oder vom Staat alimentiert wird, muss selbst unternehmerisch tätig werden. Also kocht man in der heimischen Küche Drogen (Viagra = Rattengift und Traubenzucker, von dem alte Männer Ständer bekommen!) und vertickt sie übers Internet.

„Früher, damals“ war Bildung ein hohes Gut und Geld ein Mittel, um die vitalen Bedürfnisse zu befriedigen. Heute geht es nur noch um Geld, um möglichst viel Geld. Und die Kultur? Die wurde ersetzt von „Formaten“, die von schwachsinnigen und lächerlichen Medienfuzzies kreiert wurden. In diesen „Formaten“ lebt man und diese „Formate“ konsumiert man, selbstverständlich immer in Anführungszeichen, denn man ist ja nicht gemein mit der unterbelichteten Masse. Man macht sich selbst zu lächerlichen Menschen. Am wichtigsten ist „political correctness“. Und da niemand so recht weiß, was politisch korrekt ist, schnappt man auf und plappert weiter. Zumeist ist es Schwachsinn. Aber wer will schon einen „shitstorm“ riskieren. Das ist etwas, wovor man sich fürchtet, woran man aber ganz gern teilnimmt, wenn es andere trifft. Auch das ist Bestandteil unserer schönen neuen Welt, einer total vernetzten und kommunikativen Welt. Ehrlich, wer braucht schon Arbeit, wenn er ein Smartphone hat und über Skype, SMS, Chat oder auch Telefon ständig erreichbar ist. Da bleiben keine Wünsche offen, denn man ist überall in Echtzeit dabei. Inhalte? Die werden ohnehin überbewertet. Man hat Tausende von Freunden und Followern. Damit kann man temporär die geistige Leere kompensieren, aber nicht die naturgegebene Sehnsucht nach echter Berührung, nach Liebe. Man weiß nicht einmal mehr was Sex ist, obgleich jeder darüber redet. Erwartungen und Ergebnisse klaffen drastisch auseinander und das hochgelobte und allseits gepriesene Individuum (höchster Ausdruck von Freiheit)  ist entsetzlich einsam. Es ist so einsam, dass es schmerzt.

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Lorna Ishema, Karolina Horster, Lenja Schultze

© Gabriela Neeb

 

Davon und von noch viel mehr erzählt die junge Frau, die in der wunderbar intelligenten und spielerisch fulminanten Inszenierung von Jessica Glause von drei bezaubernden jungen Darstellerinnen gegeben werden. Mai Gogishvilis Bühnenbild bestand größtenteils aus weißen Folien, mit denen die Wände dick und hermetisch abgehängt waren. Ein von der Decke hängender Labortisch, eine Tiefkühltruhe und eine mit weißer Folie überzogene Sitzgelegenheit verwandelten die Wohnstatt der jungen Frau in ein Labor. „Breaking Bad“ ließe sich eben auch in einer deutschen Stadt realisieren.  

Jessica Glause inszenierte das mit Pauls Geburtstag beginnende Hamsterrennen im medialen Käfig als atemlose komödiantische Nummernrevue aus Verzweiflung und Sehnsucht. Übrigens, Paul war der Vater, nicht der Erzeuger - aber der Vater, und irgendwann verschwunden, vielleicht Zigaretten holen. Joe Masis Musik gab häufig einen fordernden und zwingenden Rhythmus vor, der die Geschichte, soweit es überhaupt eine war, vorantrieb. Am Ende verliert sich die Frau in dem Gewirr aus Klingeltönen. Im Hintergrund die Mutter, nicht sichtbar, aber doch präsent als düstere Verheißung für das Leben der Tochter. Sie zerbrach am Weggang Pauls. Die Chancen der Tochter, ein erfülltes, selbstbestimmtes, sinnvolles Leben zu erlangen, stehen nicht sonderlich gut. Auch wenn die Darstellerinnen Karolina Horster, Lorna Ishema, Lenja Schultze die durchweg gelungenen szenischen Einfälle der Regie brillant umsetzten und viel Lachen erzeugten, konnte das Entsetzen über die trostlose Bestandsaufnahme nicht weggelacht werden.

So, wie es Sibylle Berg auf den Punkt gebracht und Jessica Glause spielerisch umgesetzt hat, sehen wir uns einer völlig „verrückten“ Welt gegenüber. Auch wenn es immer noch Zeitgenossen gibt, die den Zustand der Welt verteidigen, die meinen, die Geschichte entwickelt sich so rasant, dass man sich anstrengen müsse, um mitzukommen, selbst die werden nicht leugnen können, dass man an dieser Welt verrückt werden kann.

Menschlichkeit, Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit existieren noch. Sie werden wieder sichtbar, wenn man den Blick vom Tablet oder Smartphone löst und aufschaut, hinausschaut in die echte Welt. Es kann doch nicht so schwer zu begreifen sein, was die virtuelle Welt ist und dass sie uns eine dauerhafte Befriedigung unserer menschlichen Bedürfnisse verweigern wird. Nur wenn wir sie bevölkern, kann sie weiterexistieren. Definition Duden: „virtuell - nicht echt, nicht in Wirklichkeit vorhanden, aber echt erscheinend“.

Sowohl ästhetisch, als auch inhaltlich sei diese Inszenierung besonders der Jugend empfohlen. Es werden zwar keine wirklichen Antworten gegeben, aber die Problematik wird destillatorisch so stark verdichtet, dass die Essenz der Aussage ätzt. Es ist eine blitzgescheite Inszenierung mit sehenswertem Schauspiel. Sehenswert und - die Jugend möge mir verzeihen - didaktisch wertvoll!

 

Wolf Banitzki

 


Und jetzt: Die Welt

von Sibylle Berg

Karolina Horster, Lorna Ishema, Lenja Schultze

Regie: Jessica Glause

Volkstheater Woyzeck von Georg Büchner


 

 

Zu flach

Eine Gebirgslandschaft wie in einen Bilderrahmen gepresst, darin Woyzeck und Marie. Woyzeck ist von düsteren Visionen geplagt. Es ist Maries Todesstunde, mit der Abdullah Kenan Karacas Fassung des Büchnerschen Dramas am Volkstheater beginnt. Der Wasserfall rauscht und die beiden springen aus dem Bild. Die Handlung, eine auf das Wesentliche herunter gebrochene, beginnt: Woyzeck, ein einfacher Soldat, ist in Büchners Drama Vater eines Buben, in Karacas Fassung ist Marie schwanger. Woyzeck ist ein verantwortungsvoller Mann, unterwirft sich allen nur denkbaren Torturen, um Marie und das (zu erwartende) Kind zu ernähren. Er stellt sich dem ehrgeizigen und dünkelhaft-verblödeten Doktor für medizinische Experimente zur Verfügung, lässt sich von seinem tumben und indolenten Hauptmann für ein paar Groschen ausbeuten und muss schließlich mit anschauen, wie ihm der stramme und feiste Tambourmajor seine Marie ausspannt.

Woyzeck, bald überfordert mit seiner Aufopferung, beginnt zu halluzinieren. Woyzeck: „Still! Hörst du' s Andres? hörst du 's? Es geht was!“ Der Freund Andres spürt, dass etwas Ungeheuerliches in Woyzeck vorgeht. Doch er vermag nicht zu helfen. Am Ende tötet Woyzeck Marie und zerstört damit endgültig sein „viehisches" Leben. Woyzeck, seit Büchner Inbegriff der gequälten Kreatur, löscht sich selbst aus, während die selbstgefällige Gesellschaft triumphiert und ignoriert.

Abdullah Kenan Karacas Spielfassung war sehr ambitioniert. Er griff stark in das fragmentarische Werk Büchners ein und schuf einen überschaubaren, den wichtigsten Handlungssträngen folgenden dramatischen Entwurf. Dieser Vereinfachung fielen allerdings auch wichtige Aspekte des Büchnerschen Entwurfes zum Opfer. Beispielsweise gibt es durchaus politische Verweise auf die sich andeutenden gesellschaftlichen Veränderungen. Kanacas Fassung blieb unpolitischer. Die Anklage der zynischen und ausbeuterischen Situation gelangte über eine Zweidimensionalität nicht hinaus.

Margreth, Marias Nachbarin, eine Nebenfigur, sie kommt bei Büchner über sechs Sätze nicht hinaus, schwang sich in der Volkstheaterinszenierung zur Philosophin auf und übernahm den bei Büchner marktschreierisch deklarierten Text des Budenbesitzers auf dem städtischen Markt. Die schön anzuschauenden historisierenden Kostüme verhinderten allerdings auch, dass manche Sätze es nicht als heutige Wahrheiten ins Bewusstsein der Zuschauer schafften. Leider reichte Lenja Schultzens Margreth zudem die Entschuldigung nach: „Anwesende natürlich ausgeschlossen!“, nachdem sie erklärt hatte: „Sehn sie jetzt die Kunst: geht aufrecht, hat Rock und Hosen, hat ein´ Säbel! Der Aff ist Soldat; `s ist noch nit viel, unterste Stufe von menschliche Geschlecht.“

  Woyzeck-Karace  
 

Jakob Geßner, Silas Breiding, Sohel Altan G., Pascal Fligg


© Gabriela Neeb

 

Verschenkt war ebenso die bei Büchner von der Großmutter erzählte Geschichte vom Kind, das beide Eltern verloren hatte und nun ganz allein auf der Welt und im ganzen Universum war. In dieser Geschichte nimmt Büchner den Existenzialismus vorweg und artikulierte die Urangst der Menschheit, nämlich allein im Universum zu sein. Immerhin liegt in dieser Erschütterung der Anfang aller Religion begründet. „Und wie 's (das verwaiste Kind – W.B.) wieder auf die Erde wollte, war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es war ganz allein. Und da hat sich´s hingesetzt und geweint (...)." Karacas ließ diesen Text vom Narren Karl sprechen, wie einige andere eingestreute Geschichten auch. Das erfüllte leider nicht den existenziellen Anspruch des Büchnerschen Dramas. In unserer Gesellschaft wird der Narr zudem längst nicht mehr als der von der Wahrheit berufene Prophet gesehen. Ein Narr ist heute leider nur ein Narr. Okan Cömert spielte ihn durchaus eloquent und mit physischem Aufwand. Doch er blieb zu harmlos. Hier wäre ein Narr à la Shakespeare gefragt gewesen, zum Beispiel der Narr aus König Lear, eine radikale und bedrohliche Figur.

Dany van Gerven, der auch für die Kostüme verantwortlich zeichnete, hatte eine Bühne entwickelt, die drei der geläufigen Spielorte in einem vereinte: Maries Kammer befand sich am linken Bühnenrand in Form eines Frisiertisches. Halblinks erhob sich das romantisch anmutende Gebirgsrelief mit Wasserfall und am rechten Bühnenrand deutete eine Tafel das Wirtshaus an.

Regisseur Karacas behielt sämtliche Darsteller während der  gesamten Spielzeit von 1 Stunde und 20 Minuten auf der Bühne. Die zeitweise am Spiel unbeteiligten Darsteller hielten sich dann im „Wirtshaus“ auf, aßen, tranken und rauchten. Der Kontrast, der sich zwischen den auf ihnen Auftritt wartenden und den z.T. sehr expressiv agierenden Darstellern auftat, gereichte der erschütternden Geschichte von Woyzeck nicht zum Vorteil. Dabei muss Sohel Altan G. unbedingt bescheinigt werden, dass er der Figur des Woyzecks großen Nachdruck verlieh. Er war ohne Abstriche eine sehr gute Besetzung für diese Rolle. Die Wirkung hätte allerdings eine noch wesentliche eindringlichere sein können, wenn die szenische Fokussierung deutlicher gewesen wäre.

Ebenso überzeugend gestaltete Pascal Fligg seinen Doktor als einen selbstgerechten, dümmlichen Mann, der sich seiner Gesellschaft stets überlegen fühlte. Magdalena Wiedenhofer blieb als Marie farb- und gestaltloser als Lenja Schultzens Margreth, die sich im Kreis der Männer durchaus eine Stimme zu verschaffen wusste. Ähnlich gestaltete sich auch die Darstellung Jakob Geßners als Tambourmajor und Gilas Breiding als Hauptmann. Während Geßner einen kraftvollen, eitlen und stolzen, von seinen männlichen Hormonen angetrieben Protz auf die Bühne brachte, erschien Gilas Breiding fragil und zu wenig dominant. Immerhin war er der ranghöchste Offizier. Gänzlich unscheinbar blieb Mehmet Sözer in der Rolle des Andres. Dabei ist diese Figur die einzige, die immer und um jeden Preis um das Wohlergehen Woyzecks bemüht ist. Über einige anrührend hilflose Gesten kam Sözer kaum hinaus. Diese Rolle schien Regisseur Karaca irgendwie aus den Augen verloren zu haben.

Die Inszenierung erzählte die Geschichte von Woyzeck und dessen menschliches Dilemma. Dennoch bleib die Inszenierung hinter den Möglichkeiten der Vorlage von Büchner, was die philosophische Tiefe betraf, deutlich zurück. Es waren viele junge Leute, viele Schüler in der (2.) Vorstellung. Sie bekamen zweifelsohne einen hinreichenden Eindruck von der Geschichte. Doch ob sie auch die Erschütterung erlebten, die dieses Drama auszulösen vermag, war fraglich. Eine Besucherin brachte es beim Verlassen des Theaters auf den Punkt: „Das war schon die Geschichte von Woyzeck, aber doch ziemlich flach erzählt.“ Dem gibt es leider nichts hinzuzufügen.

 

Wolf Banitzki

 


Woyzeck

von Georg Büchner

Sohel Altan G., Magdalena Wiedenhofer, Silas Breiding, Pscal Fligg, Jakob Geßner, Mehmet Sözer, Lenja Schultze, Okan Cömert

Regie: Abdullah Kenan Karaca

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