Kammerspiele Three Kingdoms von Simon Stephens


 

 

Nach dem Verbrechen nun auch das Theater europäisch

„Three Kingdoms“ von Simon Stephens ist eine Melange aus David Lynch und Franz Kafka. Wie ein Roadmovie von Lynch erzählen Wörter und Bilder eine Geschichte, deren Ausgangspunk eingangs völlig klar ist, die im Verlauf der Handlung aber immer verschwommener wird, bis am Ende schließlich eine völlig neue und unerwartete Wahrheit im Raum steht, mit der niemand gerechnet hat. Wie bei Lynch tauchen auch hier Freaks auf, menschliche Figuren, die eine Verschrobenheit an den Tag legen und die einen mystischen, zumeist diabolischen Hintergrund haben. Das Kafkaeske an dieser Geschichte sind die Reaktionen auf die Aktionen, die nie so ausfallen, wie vermutet, und die somit der Geschichte immer wieder eine neue Richtung geben. Wie bei Lynch spiegelt sich die vermeintliche Unlogik in den Dialogen wieder. Selten werden plausible Antworten auf die gestellten Fragen gegebenen. Nicht selten erscheinen die Antworten absurd, was sich bei näherer Betrachtung jedoch als falsch erweist. Scheinbar aus dem Unterbewusstsein stammende Sätze entpuppen sich als die wirklichen Wahrheiten. Und um Wahrheitsfindung geht es im Stück.

Eine Sporttasche wird aus der Themse gefischt. Darin: Der Kopf einer Prostituierten. Detective Inspector Ignatius Stone und Detective Sergeant Charlie Lee untersuchen den Fall. Ihr Weg führt sie in das Rotlichtviertel von London. Zeugen werden befragt und bald schon finden sich Hinweise auf zwielichtige Figuren aus der Pornobranche. Der Deutsche Aleksander Richter, der letzte Zuhälter des Opfers, nennt Namen von Vorbesitzern: Georg Kohler und Klaus Brand. Die beiden Londoner Kriminalbeamten reisen nach Deutschland. Dort werden sie von dem deutschen Polizisten Steffen Dresner empfangen und betreut. Dresner ist ein seltsamer Mann. Er schläft nie, weiß über alles Bescheid, arbeitet Tag und Nacht und kennt sich im Milieu besser aus, als es sich für einen Kriminalisten geziemt. Die entscheidenden Personen werden verhört und bald schon taucht ein weiterer Name auf. Andres Rebane ist der Mann, der die Mädchen rekrutiert und in die Großstädte Westeuropas verschachert. Und noch ein Name treibt Ignatius Stone fast in den Wahnsinn: The White Bird.

Dresner kennt Rebane, verspricht Stone, die beiden zusammen zu bringen. Doch dafür müssen sie nach Tallin reisen. In 18 Stunden fahren sie nach Estland, wo sie von der lokalen Mafia empfangen werden, einer vierköpfigen Gang, die sich die Namen der Söhne des Paten aus Coppolas Mafiaepos gegeben haben: Tom, Sonny, Michael und Fredo. Es sind schräge Vögel mit großem Selbstbewusstsein und noch größeren Machomanieren. Auch hier läuft wieder einiges aus dem Ruder. Schließlich kommt die Wahrheit ans Licht, über die dann doch der Mantel des Schweigens gebreitet wird. Stone wird in den Flieger nach London gesetzt und Dresner setzt sich auf leisen (weißen) Schwingen nach Deutschland ab. Nie wieder soll Stone über ihn reden. Und einen weißen Vogel gibt es auch noch…
 
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Steven Scharf, Gert Raudsep, Rasmus Kaljujärv

© Arno Declair

 
 
Regisseur Sebstian Nübling brachte mit „Three Kingdoms“ bereits das fünfte Stück des Autors Simon Stephens zur Ur- oder Erstaufführung. Dass hier eine fast symbiotische Verbindung besteht, erkennt der Zuschauer sehr schnell an der Geschlossenheit von Sprach- und Inszenierungsstil. „He is a friend. But he’s also a constant inspiration. He’s fucking brillant and he’s brave”, sagt der Autor Stephens über den Regisseur. (Programmheft zur Inszenierung). Mutig kann man das Konzept, eine Inszenierung in drei europäischen Städten mit drei Theatern zu realisieren, zweifellos nennen. Schön, dass das Experiment aufgegangen ist und ein faszinierendes Theater herauskam, das sich selbstbewusst „europäisches Theater“ nennen sollte. Wovon alle reden, Nübeling hat es getan.

Es liegt auf der Hand, dass, wenn es sich hauptsächlich um das Thema Sexindustrie, Prostitution und Pornografie dreht, die Sprache schwerlich rein zu halten ist. Tatsächlich sind die Texte von Stephens über weite Strecken „dreckig“, was Nübling allerdings die Chance einräumte, mit vielen Klischees zu spielen, die es seit dem Paten und seit den Filmen von Quentin Tarantino gibt. Die Arbeiten von Coppola und Tarantino waren nicht nur für die Filmgeschichte bedeutsam, sie waren auch stilbildend und trendsetzend in Kriminellen- und Mafiakreisen, wie man heute weiß. Regisseur Nübling ästhetisierte nicht, sondern entlarvte. Er stellte nicht aus, sondern er vermittelte Einsichten. Und was immer Stephens hochpotenter Text anbot, er verschenkte nichts. Dabei konnte er auf eine Riege zumeist junger Schauspieler zurückgreifen, die jeder für sich darstellerische Meister sind.

Von deutscher Seite brachten sich Steven Scharf, Lasse Myhr und Çigdem Teke ein. Steven Scharf gestaltete den diabolischen Steffen Dresner von martialisch grob bis kindlich naiv, stets für einen Sprach- oder Spielwitz gut. Lasse Myhr fielen sämtliche Rollen deutscher Bösewichte zu. Als Aleksander Richter demonstrierte er die Überlegenheit des ausgebufften Kriminellen dem System gegenüber. Aalglatt und unterschwellig explosiv-aggressiv hob sich diese Rolle deutlich von den schmierigen Figuren der pornografischen Unterwelt Georg Kohler und Klaus Brandt ab. Çigdem Teke teilte gemeinsam mit ihrer Talliner Kollegin Mirtel Pohla das Los, als Prostituierte/Bedienstete/unterwürfiges Weibchen eher Gegenstand der Betrachtung zu bleiben, als handelndes Subjekt. Die dramatische Vorlage sah es so vor.

Die erste Szene spielte im Polizerevier in London. Die Polizeibeamten Stone (Nick Tennant) und Lee (Ferdy Roberts) verhörten Tommy (Rupert Simonian), der unwissentlich den Kopf des Opfers Vera Petrovna in der Themse entsorgt hatte. Diese Szene war mehr als nur eine Einführung. Sie vermittelte dem Zuschauer bestes englisches Theater. Der trockene Humor der Briten ist vermutlich nicht erlernbar, er ist wohl schon genetisch verankert. Tennent und Roberts spielten sich die Bonmots zu wie Ping-Pong-Bälle, treffsicher und mit herrlicher komödiantischer Leichtigkeit. Zu erwähnen wäre noch, und das ist für das Gesamtkunstwerk von Bedeutung, wie wirkungsvoll die englische Sprache auf der Bühne ist. Immerhin wurde dreisprachig agiert. (Estnisch wird über Untertitel gedolmetscht.) In der Werbung tauchte, vielleicht nicht ganz unberechtigt, die Frage auf: Ist das noch Europa oder schon Babylon? Nein, genau das ist Europa in seiner kulturellen Vielfalt, die plötzlich ineinander griff wie die Zahnräder eines Getriebes und ein Werk beförderte, das keinesfalls zur Sprachverwirrung führte. Die Überlegenheit des Englischen als Bühnensprache war dennoch unüberhörbar.

Doch die Vielfalt machte es und so kann man es schon als exotisch bezeichnen, mit estnischer Bühnenkunst konfrontiert zu werden. Im Text ergeht an die Westeuropäer der Vorwurf, dass sie den Unterschied zwischen Balkan und Baltikum nicht kennen würden. So ganz unrecht hatte Stephens damit wohl nicht. Schon der erste Auftritt des Gangsterquartetts Rasmus Kaljujärv (Sonny), Jaak Prints (Tom), Tambet Tuisk (Fredo), Sergo Vares (Michael) war ein Highlight in der Inszenierung. Das waren disziplinierte Männer, durchtrainiert und bissig, was ihre Philosophie anbelangt. Während Westeuropa wie paralysiert auf die Kriminalität in Osteuropa starrt (Um die eigene nicht sehen zu müssen. S. Stephans), denken die osteuropäischen Kriminellen längst nicht mehr in diesen engen Grenzen. Doch das visionäre Denken der Möchtegern-Corleones scheiterte immer wieder an ihrem geistigen Vermögen, es auch umzusetzen und in diesen Momenten kam grandiose Komik auf. Allerdings ging nicht alles in Heiterkeit unter. Als der Polizeidirektor Martin Lemsalu am Ende des Stücks den britischen Polizisten Stone verabschiedete, spielte der Schauspieler Gert Raudsep in einem getragenen, aber uneitlen Vortrag auf die politisch-historischen Besonderheiten Estlands an. Ein Blick ins Programmheft macht deutlich, dass es hier noch einigen Nachholbedarf bei uns Westeuropäer in Fragen Geschichte gibt, wenn wir unsere estländischen Landsleute verstehen wollen.

Nübling hatte den „dreckigen Text“ in komödiantische Bahnen geleitet und damit viele Peinlichkeiten, wie die endlose Wiederholung des F-Wortes, verhindert. Überaus beeindruckend war das aktionsreiche körperliche Spiel der Darsteller, das bisweilen artistische Züge annahm. Slapsticknummern wurden nicht ausgespart und erzielten große Wirkung. Das Bühnenbild von Ene-Liis Semper eignete sich bestens dafür. Im Vordergrund befand sich ein schmuddeliger lindgrüner Raum, der nach allen drei Seiten hin viele Fenster und Türöffnungen bot, durch die gerannt, gesprungen, geworfen wurde, durch die man schon mal einen Körper entsorgen konnte. Im Hintergrund gab es ein labyrinthisch anmutendes Konstrukt von Gängen und Türen, die in nicht sichtbare Räume führten. Der aufmerksame Betrachter wird bemerkt haben, dass dort sehr oft Personen auftauchten, die scheinbar nicht zur Handlung gehörten, die aber durch ihr plötzliche Anwesenheit eine kafkaeske Stimmung schufen.  

Die dreieinhalb Stunden waren überwiegend kurzweilig. Leider gab es eine Szene, die einen hässlichen Fleck im Gesamtbild der Inszenierung hinterließ. Kurz vor Ende des ersten Teils recherchierten die englischen Polizisten gemeinsam mit dem deutschen Dresner in einem Hotel, wo ein Pornofilm gedreht wurde. In dieser Szene wurde der Zuschauer mit etlichen Unappetitlichkeiten konfrontiert, als Regisseur Nübling die Pornoszene sehr bildhaft und textfrei erläuterte. Diese Szene diente gewiss nicht der Horizonterweiterung des Publikums. Hinter diesen öligen Darstellungen standen kaum mehr als zwei Sätze, um die Handlung weiter zu bewegen. Warum also Gleitgel und Sperma aus der Spraydose? Bleibt nur zu hoffen, dass Stephens nicht solche Szenen im Auge hatte, als er dem Freund attestierte: „He’s fucking brillant and he’s brave“.

Die Inszenierung war nicht nur gelungenes Theater im herkömmlichen Sinn, unterhaltsam und durchaus tiefschürfend, sondern es war ein gelungener Versuch europäisches Theater, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes, zu machen. Man sollte diese Erfahrung nutzen, so lange sie noch frisch ist und ausrufen: Theatermacher Europas vereinigt Euch!


Wolf Banitzki

 
Nur bis 19. November 2011!

 


Three Kingdoms

von Simon Stephens

Eine Koproduktion mit dem Theater NO99 Tallinn und dem Lyric Hammersmith Theatre London

Rasmus Kaljujärv, Risto Kübar, Lasse Myhr, Mirtel Pohla, Jaak Prints, Gert Raudsep, Ferdy Roberts, Steven Scharf, Rupert Simonian, Çigdem Teke, Nick Tennant, Tambet Tuisk, Sergo Vares

Regie: Sebastian Nübling

Kammerspiele Gift von Lot Vekemans


 

 

Resignation und/oder Neuanfang

Eine Untersuchung hatte ergeben, dass der Boden eines Friedhofs verseucht war. Die Angehörigen wurden davon in Kenntnis gesetzt, dass ein Umbettung geplant sei. Man hatte postalisch zu einem Lokaltermin geladen. Ein Paar findet sich ein, das sich zehn Jahre zuvor, einige Zeit nach dem Unfalltod des gemeinsamen Jungen, getrennt hatte. Sie haben sich in den vergangenen zehn – neun, verbessert er mehrfach – Jahren weder gesehen, noch haben sie Kontakt gehalten. So sind die Fragen von einst, die Fragen von heute. Warum hast du mich verlassen? Er war gegangen, weil er am 31. Dezember 1999 unmöglich das Glas erheben konnte auf das Neue Jahr. Der Tod des Kindes hat ihn innerlich zerfressen und auch die Liebe zu seiner Frau. Zehn Jahre danach ist in der Erinnerung noch immer alles gegenwärtig: Der Moment, als man die lebenserhaltenen Maßnahmen abstellte; die neun Minuten, die es dauerte, ehe das Herz zu schlagen aufhörte; der Anblick ihrer Lippen auf der Stirn des Kindes, als es starb; und die Tatsache, dass diese Lippen sangen.

Um weiterleben zu können, ist es notwendig, endlich ein Schlussstrich zu ziehen. Im Gegensatz zu ihm, dem es gelungen war, so gut es nur gehen konnte, seinen Frieden zu machen und weiter zu leben, durchlitt sie den Schmerz und die Verzweifelung tagtäglich aufs Neue. Er lebt, jetzt in Frankreich, wieder in einer Beziehung und seine neue Frau ist schwanger. Ihr ist es unverständlich, wie er diesen Schritt gehen konnte. In der kurzen Zeit, die beide an diesem verregneten Nahmittag miteinander verbringen, tasten sie sich rückwärt heran an die gemeinsame Vergangenheit und sind endlich in der Lage, gemeinsam zu trauern. Ein Zurück kann es nicht mehr geben. Doch eine Gemeinsamkeit in der Trauer wird endlich möglich und so halten sie einander und singen. Es war dasselbe Lied, das ihn einige Jahre zuvor errettetet hatte. Dieses Lied hatte ihm die Gelassenheit geschenkt, endlich zu akzeptieren, was geschehen war.

Das Drama von Lot Vekemans ist ein berührendes. In Zeiten von Soaps, in denen kein dramatischer Konflikt mehr gescheut wird, um Emotionen und Tränenflüsse zu provozieren, ragt das Werk der niederländischen Autorin heilsam heraus aus dem Nebel der Befindlichkeiten. Es ist ein ehrliches, ein aufrichtiges Werk, das auch Trost spenden kann, ohne zu verschleiern oder zu kleistern. Johan Simons erarbeitete die Uraufführungsfassung 2009 in Gent. Jetzt wurde sie in den Spielplan der Münchner Kammerspiele übernommen.
 
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Elsie de Brauw, Steven van Watermeulen

© Phile Deprez

 
 
Simons Arbeiten sind bekannt dafür, dass er tief lotet, ohne spektakulär oder marktschreierisch zu werden. So auch diese Arbeit, deren Bühnenbild von Leo de Nijs ein wenig an Simons Inszenierung von Heiner Müllers „Anatomie Titus Fall of Rome“ in den Münchner Kammerspielen erinnerte. Der Zuschauer sah sich einigen Sitzreihen gegenüber, einem Raum, in dem Menschen sich etwas anschauen oder in dem sie sich versammeln, um einem Redner zu lauschen. Im Stück füllten sich diese Reihen nicht. Aus gutem Grund, wie der Zuschauer schnell vermutete und bald als Gewissheit erfuhr.

Ein wenig behäbig ging es an, als Steven van Watermeulen auf der Bühne erschien und sich wunderte, dass er der Einzige blieb, obgleich der genannte Zeitpunkt des Zusammentreffens längst überschritten war. Er vergewisserte sich durch das erneute Lesen der Einladung von der Richtigkeit von Zeit und Ort. Seine Ungeduld wurde ihm sichtlich zur Qual. Schließlich erschien die Exfrau. Elsie de Brauw spielte sie vom ersten Augenblick an wie ein waidwundes Tier. Ihre mühevolle Selbstbeherrschung pendelte zwischen Zynismus und gerechten und ungerechten Vorwürfen gegen die Welt und ihren Exmann. Sie war getrieben von dem Wunsch, zu verstehen, und diese Umtriebigkeit hob schließlich die Behäbigkeit aus Schwellenangst und Sprachlosigkeit auf. Regisseur Simons hatte es verstanden, die Geschichte langsam und unaufhaltsam auf einen Höhepunkt zusteuern zu lassen, der unkalkulierbar schien, der in einer Katastrophe hätte enden können. Um so beglückender war es schließlich, eine Auflösung zu erleben, die glaubhaft und darüber hinaus berührend war.

Die Musik spielte in der inneren Bewältigung des (wohl schlimmstmöglichen) Traumas eine Schlüsselrolle. Um dem gerecht zu werden, ließ Regisseur Johan Simons den Sänger Steve Dugardin auftreten. Der lyrische Gesang hob das Geschehen auf eine höhere Ebene und ließ verstehen, warum der Mann in der Musik seinen Ausweg aus der Sackgasse des Lebens fand. Zugleich bereitete die Musik ein Ende vor, das allzu leicht als surreal oder doch wenigstens als kitschig hätte abgetan werden können. So aber wurde es überzeugend und versöhnlich, ohne zum Happy end zu werden, und heilkräftig in Zeiten der Orientierungslosigkeit.

„Gift“ ist eine leise und unaufwendige Inszenierung, die sich allemal gut dazu eignet, den vielfältigen Spielplan der Münchner Kammerspiele um eine sehenswerte Farbe reicher zu machen.

 
Wolf Banitzki

 

 

 


Gift

von Lot Vekemans

Elsie de Brauw, Steve Dugardin, Steven van Watermeulen

Regie: Johan Simons

Kammerspiele Macbeth von William Shakespeare


 

 

Hexenshow

„Seid ihr nur Wahnsinn, oder seid ihr wirklich?“
„Sprecht, was seid ihr!“
„Macbeth. Heil dir, Than von Glamis.“
„Macbeth. Heil dir, Than von Cawdor.“
„Macbeth. Heil dir, König von …“
Der Blick in die Zukunft, der der Ungewissheit vorbeugen und die Hoffnung nähren soll, stärkt den Geist des Feldherrn. Drei moderne Hexen, in bunten hübschen Tanzkleidern traten an die Rampe der Kammerspiele. Sie (Kate Strong, Stefan Merki, Katja Bürkle) posierten, drehten und wendeten sich, eine wie der andere, in gleicher Gestik. Also einstudiert. Getarnt im dekorativen Outfit beschworen sie den Geist, sangen die geheimen Zauberformeln. Es war auch eine der Hexen, die Macbeth und Banquo mit Blut aus der Dose beschmierte, ihnen die weißen Anzughemden, welche die Männer zu grauen Bisnishosen trugen, rot färbte. Machte sie am Ende nur sichtbar, was tatsächlich geschieht? Mit dem verstärkten Auftreten, dem allgemeinen zyklischen Aufkommen von Hexen, neuerdings in Form von heidnischen HeilerInnen und bekannten WahrSagerInnen, und dem Blut an den Händen von Waffenproduzenten, die sich Könige wähnen, und ihren Gefolgsleuten, den Geldschiebern, ist die Frage nach der Aktualität der Inszenierung bereits beantwortet. Und da Heil und Unheil ganz nahe beieinander liegen, einander bedingen, so stehen sich wie überall Gute- und Bösehexen gegenüber. Sie spinnen am Unbewussten der Getroffenen, das als Leitfaden, als Führer im Leben dient. Und so wie Heil und Unheil um den Sieg kämpfen, so kämpfen auch Glaube und Aberglaube um Vorherrschaft. Die sich selbst erfüllenden Prophezeiungen sind ebenso im Unbewussten verankert, wie die Wahlfreiheit des Handelns es im Bewusstsein ist. Womit auch schon das Feld benannt wurde, auf dem die Hexen ihr Un- und Wesen treiben. Also wirklich. Das mit den „Heil“sbotschaften wurde schon immer gründlich missverstanden, wie die Geschichte beweist. Und eben dieses in Machtkämpfen und Waffenverkäufen zu suchen, führt auch zu Blut an den Händen.
Nie erfährt der Mensch das Leben so grausam, wie zu Zeiten eines Krieges. Blindwütiges Töten um einer Idee, eines Machtanspruches oder der Habgier willen, hinterlässt stets nichts als ein Blutbad, verbrannte Erde und Angst. Es bleiben die Bilder lebendig in der Erinnerung, jeder Gedanke weckt diese. Die Angst vor Wiederholung der Vorgänge führt zu Nachrüstung, wie jede Bluttat eine weitere nach sich zieht. Eine Spirale, die sich seit Beginn der Menschheit dreht und immer gigantischere Mittel hervorbringt. Die Bilder der Toten haften wie Geister im Unbewussten der Schlächter. (Siehe auch Programmheft)

Ein großes schwarzes Zelt nahm den hinteren Teil der Bühne ein, an dessen Rückwand ein Bett stand. Schlafender Raum. So teilte Muriel Gerster (Bühne) die Aktionsfläche in zwei Bereiche. Also Tag und Nacht. Im Dunkel, unter der blutverschmierten Decke, fanden Duncan und der König den Tod. Hierhin flüchtete Macbeth, wenn die Geister ihn einholten. Hier schlief König Macbeth auf dem Boden, wenn sie neben Banquos Geist im Bett keinen Platz mehr fand. Hier drang der Wald von „Birnam“ ein und füllte den Raum, erstickte Macbeth. Die Hexen in den bunten Cocktailkleidern beobachteten sein Ende.

Die Übersetzung von Thomas Brasch greift vor allem jene Zeilen des Shakespeareschen Textes auf, welche Handlung und Gedanken tragen. Seine Sprache ist knapp, prägnant, gewohnt. Karin Henkel und Dramatur Jeroen Versteele kürzten, durchsetzten den Text mit Alltagssprache und schnoddrigen Bemerkungen, suchten dazwischen nach verbalen Ventilen. Also flapsig. „Drei Mal hin, drei Mal her, drei Mal … das ist nicht schwer.“

Die Mehrfachbesetzung der Akteure führte zu einem abwechslungsreichen Reigen, in dem jeder Darsteller auch jede Figur hätte sein können, ausgenommen Macbeth, der von Jana Schulz konsequent weibisch und transzendierend gegeben wurde. Also androgyn. Der Kostümwechsel, der für den Figurenwechsel stand, wurde sichtbar vollzogen. Die Handhabung von Blut und Messern erfolgte von Lady Macbeth (Katja Bürkel) ebenso emotionslos, die die von Mikrofonen und Beleuchtung oder das Wechseln der Kleidung. Während die äußere Rolle des Malcom dieser Akteurin, mit männlich anmutendem trainiertem Körper, entsprach. Neben der gequälten Macbeth, die sichtlich litt, entwickelte allein die weibliche Hexe (Kate Strong) erkennbares Spiel oder für Sekunden fassbare Zauberkraft. Banquo (Benny Claessens) spielte freundschaftlich kindliche Verbundenheit zu Macbeth und Stefan Merki wirkte als Hexe ebenso umgänglich, wie er es auch als pumpsbeschuhter Duncan tat.

Die Auflösung der Geschlechterrollen, welche in früherer Zeit vor allem auch als Hilfestellung zur Entwicklung von Persönlichkeit verstanden wurden, voranzutreiben, scheint ein ernstzunehmendes Anliegen zu werden. Manche Spezies der Natur erfuhr im Laufe der Zeit eine Mutation. Warum sollte folglich nicht ein Dasmensch möglich sein. Also freundlich wie Banquo, umgänglich wie Duncan, transzendent wie Macbeth, anpassungswillig wie Malcom und emotionslos berechnend wie Lady Macbeth.

Die Inszenierung von Karin Henkel baute auch auf Bilder, wie sie im Comic Style verwendet werden. König Macbeth trug eine ihr zu große Krone auf dem Haupt, diese rutschte über die Stirn, die Ohren. Verloren stand sie am Mikrophon, der König, die Schultern hängend, das Hemd blutverschmiert. Nachts trug der Geist Banquos die Krone, wenn er es sich im Bett bequem gemacht hatte oder er, eingewickelt in ein Steppbett, am Zeltrand stand. Dazwischen stakste Lady Macbeth im roten sexy Kleidchen und forschem fast militärischem Habitus ans Mikrophon, an die Rampe. Macduffs Frau und der Sohn erschienen hinter dem Fenster des Schlafenden Raumes wie Marionetten im Puppentheater und das Blut spitzte sichtbar in hohem Bogen. Und Kommissar Macduff fragte vergeblich nach Sohn und Frau. Die Bühne wurde ein Experimentierfeld, zwischen Wachendem und Schlafendem Raum, das Möglichkeiten und Wechselwirkungen vor Augen führten wollte, sowie die Besetzung und der Spielgestus die Weiterführung bereits angelegter und beschrittener Pfade veranschaulichte. Die Geschlechterrollen wurden angekippt und die bürgerlichen Formen von Haltung, Benehmen und Ausdrucksweise kamen ja bereits aus der Mode. Die Auflösung der Form und das Aufgreifen verschiedenster, von kindischen bis aus anderen Medien geläufiger Ausdrucksmittel, wurde vielleicht gewählt, um auf das Groteske manchen Geschehens deutlicher aufmerksam zu machen, oder aber, weil es für mittlerweile einige Generationen zum Selbstverständnis gehört. Also zeitgemäß. Und ob die Aktion, welche Karin Henkel mit der Aufführung formte, für den Zuschauer aufgeht, liegt vor allem auch in den Sehgewohnheiten des einzelnen und seiner Bereitschaft sich irritieren oder einzulassen.


 
C.M.Meier

 

 


Macbeth

von William Shakespeare

Deutsch von Thomas Brasch (Die Tragödie des Macbeth)
In der Fassung von Karin Henkel und Jeroen Versteele

Jana Schulz, Katja Bürkle, Benny Claessens, Stefan Merki, Kate Strong

Regie: Karin Henkel

Kammerspiele E la nave va nach Federico Fellini


 

 

Bestandsaufnahme

Ein Jahrhundert später und doch scheint die Zeit still zu stehen. An den Beginn des 1. Weltkrieges, die Zeit unmittelbar nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo, legte der bekannte italienische Filmemacher Federico Fellini die Geschichte von der Bestattung der großen Diva Edmea Tetua. Um eine letzte große Geste ringend, bat sie ihre Asche vor der Insel auf der sie geboren, ins Meer zu streuen. Der Film „E la  nave va“ erschien 1983 und orientierte sich am Untergang der Donaumonarchie, in menschlicher wie in geschichtlicher Weise. Das Schiff fährt immer noch und auch heute befinden wir uns in einer Zeit, in der man sich in sogenannten großen Gesten gefällt, von Spenden und Wohltätigkeit, bis zum Produzieren von Biografien. Auch herrschen zunehmend kriegerische Konflikte, die Waffenproduktion steigt, die Luxusschiffe werden immer luxuriöser, die abgehobenen Kreise blicken pikiert auf den Rest der Gesellschaft herab. Das „Traumschiff“ stampft über die Ozeane, durch die Fernsehkanäle, und läuft die Wunschziele der Produzenten an. Die Kluft zwischen Oberdeck und Maschinenraum scheint unüberbückbarer denn je.

Die Oper, als die umfassende theatrale Bühnenwelt, bildete den Mittelpunkt um den sich eine illustre Gesellschaft versammelt hatte. Vereinen sich doch in ihr Schicksale, Musik und Text mit überzeugenden Gesten und menschlicher Kunstfertigkeit. Hier findet der Ausdruck der Gefühle über die Arie seinen hörbaren Höhepunkt. Die Oper kann als Gipfel der Kultivierung eines Rollenverständnisses, einer Maske, aber auch von Manieriertheit stehen. Die Masken der Darsteller verdeutlichten diese Form von Erstarrung in einer Pose. „Gesichter sind die Lesebücher des Lebens.“, meinte Fellini. Es ist eine Gratwanderung, zwischen Ideal und Persiflage zu changieren.

Die Zeichnung eines Passagierschiffs nahm den Platz des Vorhangs ein. Orlando (Stephan Bissmeier), ein Journalist, welcher die Reise als Berichterstatter begleitete, trat auf den Pier. Markant prägten die übergroßen Augen sein Gesicht. Nachdem er sich vorgestellt und auf den Ton der Nebelhörner verwiesen hatte, erklang Musik. Verdi. Der Beginn mit „Lacrymosa dies illa“. An diesem Tag mit Tränen genoss man im Salon nach dem Ablegen das gute Leben. Prosit – Aufbruch im Triumph. Der Stil der Commedia dell`Arte diente als Vorlage für den Spielgestus der Künstler im schwarz/weiß dekorierten Salon und an Deck. Im Hintergrund tobte der Ozean. Männer (Stefan Merki, Pierre Bokma) übernahmen perfekt die Rollen von Frauen – Theater wie zu Shakespeares Zeiten – findet doch zunehmend Rollentausch statt, auch in der Realität. Der Kapitän (Stefan Hunstein) wurde seekrank, die Gemeinschaft verging sich verbal an der toten Diva, Ricotin (Kristof Van Boven) wurde Mittelpunkt einer Seance und der Großherzog (Oliver Mallison) stellte lakonisch fest: „Mir fällt nichts ein ... Alles ist so kompliziert.“ Monika (Brigitte Hobmeier) schwebte als weißer, das Leben suchender Engel durch die Szenen. Die schiefe glatte, den Untergrund überdeckende, Ebene des Oberdecks stand nur gerade, wenn es galt zeitweilig den Blick auf das Innere, den Eingang zum Maschinenraum frei zu geben.
Aus dem Kreis der Darsteller trat Edmund Telgenkämper (Heizer Yank) hervor. Das lag zum einen an der Gestaltungskraft des Darstellers, zum anderen daran, dass er die einzige Bühnenrolle, die dem Theaterstück „Der haarige Affe“ von Eugene O`Neill entstammt, innehatte. Wenngleich er kaum erkennbare Unterstützung erfuhr, so unterschied sich sein Part doch durch klassische Auseinandersetzung mit einem Gegenüber - die blasse Tochter der reichen Sängerin und die besitzende Klasse - von den Rollen der kunstvollen Selbstdarsteller. Darüber hinaus ging Yank ebenso in seiner Tätigkeit auf, wie die Opernsänger, der Direktor und der Kapitän, wenngleich die öffentliche Wahrnehmung und Bewertung doch deutlich unterscheidet. Die Bühnenfassung der Geschichte durch Johan Simons und Matthias Günther folgte weitgehend der Filmvorlage, setzte aber auch eigene Akzente. So bestand der Text aus Erzählung und Beschreibung, wurde der Sängerwettstreit im Maschinenraum kurzerhand verboten, aus dem mitfahrenden Nashorn wurde ein Affe und ein serbischer Terrorist zerstörte das Kriegsschiff durch eine kleine Handbombe. Die Inszenierung gefiel sich in großen Gesten, agierte in verschiedenen Facetten und Ansätzen, ohne einem Faden, einer eigenen Handschrift zu folgen. Allein die musikalischen Einlagen wirkten uneingeschränkt bewegend.

Kunst allein überdauert die Zeiten. In ihren Werken und mit ihren Werken, unterschiedlichster Ausprägungen, überdauern einzelne Künstler ihre Lebenszeit. Sie dienen auch als „Masken“ für neue Arbeiten, befördern Einzigartiges und Klischees.

Manieriertheit und Selbstgefälligkeit beherrschen die Bühnen und das Zusammenleben. Ein Man(n) zog im Theater die Schuhe aus, streckte die Beine und legte die Füße in den Socken dicht neben den vor ihm Sitzenden. So wurde der Zuschauerraum, ein ehemals öffentlicher, also gemeinschaftlicher Raum zur Kunstbetrachtung, zum persönlich gemütlichen Wohlfühlraum.

Das Schlussbild gestattete verschiedene und doch nur eine Betrachtungsweise: Das übergroße Tier wurde im Käfig an Deck gebracht – „Es braucht frische Luft“, wie der Kapitän bemerkte. Und der ehemals wilde Heizer Yank betrat die nun verlassene Fläche, öffnete den Käfig und ließ die Äffin frei, die ihn in umarmte, erdrückte. Das Bild konnte durchaus unter dem Aspekt verstanden werden, in dem ein „Über-Muttertum“  die Szene beherrscht und den Rest Männlichkeit in falsch verstandener „Liebe“, Besitzergreifung tötet. Oder: Der wilde Mann, welcher die technische Entwicklung vorantrieb, fällt seinem Alter Ego, dem eigenen tierischen Trieb zum Opfer, da er ihn nicht im Käfig - in einer entwickelten Persönlichkeit gefangen hält - sondern einfach durch falsches Verständnis von der Rolle befreit, ihn ins Tierische entlässt und somit durch ihn zu Tode kommt.

Der Versuch, das Ideal „Mensch“ in der Welt voran zu bringen und die errungenen Ansätze zu erhalten, scheiterte. Das ist keine Frage mehr, sondern allseits bekannt und akzeptiert. Es verbleiben verschiedenste Tiergattungen, welche die Erde behorden. Unter diesem Gesichtspunkt beispielsweise konnte die Inszenierung als aktuell und hochinteressant betrachtet werden. So gab es für jeden Geschmack, für jede Einstellung die passenden erkennbaren Bilder. Es blieb dem Zuschauer überlassen, wie er den Auftritt aller Mitarbeiter des „Schiffes Kammerspiele“ im Chor der Heizer auffasste. Die zeitgemäße comedyhafte Darstellungsform und die Alltagssprache ließen es zu, die Aufführung auch als bloße Unterhaltung wahrzunehmen. Eine Aufsehen erregende Inszenierung.

 
C.M.Meier

 

 

 


E la nave va

nach Federico Fellini

In der Fassung von Johann Simons & Matthias Günther unter Verwendung von Eugene O’Neills Der haarige Affe

Stephan Bissmeier, Stefan Hunstein, Marc Benjamin, Stefan Merki, Brigitte Hobmeier, Benny Claessens, Kristof Van Boven, André Jung, Pierre Bokma, Walter Hess, Oliver Mallison, Katharina Hackhausen, Niko Holonics, Edmund Telgenkämper,
Affe: Adiran Huber / Nicolai Huber / Pierre Bokma
Serben: Schüler der Otto-Falckenberg-Schule – Helene Blechinger, Anika Herbst, Susanne Lemke, Regina Speiseder, Isabel Thierauch, Dan Glazer, Ilja Rossbander, Sven Schelker, Anton Schneider,Johannes Sima
Chor der Heizer: Mitarbeiter der MK

Regie: Johann Simons

Kammerspiele/Bayern-Kaserne Die Perser von Aischylos | Wiedergegeben von Durs Grünbein


 

 
Die Perser und kein Ende

Das erste (erhaltene) Theaterstück ist ein Antikriegsstück. Aischylos wagte das Unerhörte. Er versetzt sich in die geschlagenen und aufgeriebenen Gegner Athens, also auch in seine eigenen Gegner, und beklagte deren Leid, das sie durch ihre Aggression erlitten hatten. Die Rede ist von den Persern, das seinerzeit mächtigste asiatische Reich, unter Xerxes. Der, angespornt von seiner eigenen Hybris, drängte darauf, die Schlappe seines Vaters Dareios, Großkönig des persischen Achämenidenreichs, wettzumachen. Dareios war 490 v.Chr. in der Bucht von Marathon von dem Heer der Athener vernichtend geschlagen worden. Darüber hinaus gierte Xerxes nach dem Gold der Athener. 480 v.Chr. startete er seine Expedition und erlag der um zwei Drittel kleineren Seemacht Athens in der Schlacht von Salamis. Die Flotte wurde größtenteils vernichten. Xerxes entkam dem Tod oder der Gefangennahme nur um Haaresbreite.

Mit seinem Handeln hatte Xerxes auch den Gott Poseidon herausgefordert, denn er hatte mit seinem Brückenschlag am heiligen Hellespont das Meer in Ketten zu legen versucht. Diese Passage ist durchaus bedeutsam, denn letztlich betrachteten die antiken Bürger ein tragisches Schicksal immer als einen göttlichen Ratschluss. Nur gottgefälliges Tun kann gutes Tun sein. Hier werden die Grenzen der antiken Dichtung deutlich.

Dennoch zeugt es von wahrer menschlicher Größe, wenn ein Dichter, der an beiden Kriegen beteiligt war, der bitteren Klage seiner Feinde Ausdruck verleiht. Angesichts aktueller Vorgänge mag man meinen, wir seien weit hinter das demokratischen Denken der Menschen des perikleischen Zeitalters zurückgefallen. Also ist die Aufführung dieser Tragödie mehr als sinnfällig, um einige humanistische Werte wieder in das heutige Denken zu integrieren, die selbst der deutschen Kanzlerin abhanden gekommen zu sein scheinen.

Es ist zugegebenermaßen nicht einfach dieses Stück wirkungsvoll auf die Bühne zu bringen, denn es stammt aus der Entstehungszeit der Dramatik (472 v.Chr. uraufgeführt) und zeugt von Unvollkommenheit. Dramaturgisch wurde in diesem Stück der dramatische Konflikt noch nicht im Zwiegespräch, im dramatischen Streit ausgetragen. Es gab nur jeweils einen Protagonisten, der berichtete, und es gab den Chorführer, der im Namen der Bürgerschaft moralisch (gemäß den Vorgaben der Götter) reflektierte. Es war reines Deklamationstheater. Trotzdem reichte diese epische Form des Theaters aus, um eine Katharsis beim Betrachter auszulösen. Dass dies auch nach 2500 Jahren noch funktioniert, bewies die Inszenierung von Johan Simons in der Bayern-Kaserne.

Regisseur Simons wählte für seine Umsetzung der von Krieg erzählenden Tragödie einen adäquaten Spielraum, die ehemalige Bayern-Kaserne in Freimann, deren Geschichte von der Wehrmacht bis zur Bundeswehr reicht, und der heute als Flüchtlingsunterkunft für z.T. von Kriegen (Irak, Uganda und Bosnien) vertriebenen Menschen dient. Wenn er in seine Inszenierung eben diese Mitmenschen als Chor mit einbezieht, schafft das unbestritten Authentizität, kann aber nicht unwidersprochen hingenommen werden, da über den Verdacht einer Instrumentalisierung gemutmaßt werden kann, dieser vielleicht sogar nahe liegt.

Das Stück begann mit dem Monolog der Chorführerin über den Auszug des multiethnischen Perserheeres, über erste Siege und die Bezwingung des Hellesponts. Hildegard Schmahls Bericht donnerte, Gänsehaut erzeugend, als könnte sie allein mit der Wucht der Sprache und der Stimme das Heer der Griechen in die Knie zwingen. Unterschwellig, stimmlich sehr differenziert gestaltet, schwang die Sorge der zurückgebliebenen Frauen und Kinder um die kriegerischen Väter, Söhne und Brüder mit.

Hildegard Schmal wurde abgelöst von Sylvana Krappatsch, die als Königinmutter Atossa vibrierend und in ihrer Standfestigkeit erschüttert, von einem Traum berichtete. Darin waren zwei Frauen gleichen Stammes, eine persisch, die andere dorisch gekleidet, in Streit geraten. Ihr Sohn Xerxes versuchte den Streit zu schlichten, indem er beide ins Joch spannen wollte. Während die eine dies geschehen ließ, bäumte sich die andere auf und schleifte den Wagen unter den Augen von Dareios zügellos davon. Xerxes stürzte vom Wagen und der Vater riss sich schamerfüllt die Kleider vom Leib. Als Atossa in ihrem Traum den Göttern für die Unversehrtheit ihres Sohnes opfern will, muss sie mit ansehen, wie sich ein Adler einem angreifenden Habicht ergibt. Diesen Traum, der Zuschauer ahnte bereits Schlimmes, zu deuten, beauftragte Atossa den Ältestenrat.

Eine Deutung erübrigt sich, denn ein Bote trat auf, um von der Niederlage zu künden. Stefan Hunstein berichtete, das Unfassliche nicht fassen könnend, das Grauen auf dem Antlitz tragend, von der totalen Vernichtung des Heeres und damit Persiens. Ein Hoffnungsschimmer blieb. Xerxes hatte überlebt und war auf dem Weg nach Susa, der Residenz und Hauptstadt des Reiches Elam. Atossa forderte die Chorführerin auf, den Geist Dareios zu beschwören, um mit ihm zu beratschlagen.

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Wolfgang Pregler

© Andrea Huber

 

Wolfgang Pregler zeigte sich als toter Dareios entsetzt. Hatte er seinen Söhnen doch einzuschärfen versucht, nicht nach Athen zu greifen. Den Hellespont zu überqueren würde Poseidon herausfordern. Das Orakel hatte ihm den Untergang geweissagt. Nun hatte es sich erfüllt. Pregler gab seinen toten König weitestgehend nüchtern resümierend, doch immerhin fassungslos der Tatsache gegenüber, dass Persien in Schutt und Asche versinken würde. Ganz Asien war vom Reich abgefallen. Der Untergang, dessen war er sich sicher, war göttlicher Ratschluss.

Das Finale bestritt der Chor und Xerxes. Nico Holonics erschien, physisch völlig am Ende, geistig im Taumel, um sich selbst zu zerfleischen. Ihm blieb nur der Jammer, den er mit dem Chor gemeinsam bestritt. Chor: „Ich will dir zur Seite stehen, untröstlich, bereit zur Klage.“ Damit, und mit archaisch anmutenden Klängen der Musiker Carl Oesterhelt, Salewasi und Mathis Mayr verhallte die wuchtige und aufwühlende Tragödie.

Die von Durs Grünbein 2001 erstellte übersichtliche, wortgewaltige und eindringliche Fassung entfaltete in der Einrichtung durch Johan Simons eine mythische Kraft, die den Betrachter erschauern ließ. Zweifelsohne hinterließ der Abend eine kathartische Wirkung. Er stellte allerdings auch die Frage, warum der Mensch, warum wir, nachdem die Wahrheiten seit 2500 Jahren festgeschrieben sind, nicht daraus lernen und immer wieder von Menschenfängern in Kriege oder zumindest zur Zustimmung zu Kriegen getrieben werden?
Während sich die antiken Völker hernach in Klage ergingen, sollten wir eigentlich auf einer höheren Kulturstufe angelangt sein. Was hält uns nur davon ab? Wir selbst.

 
Wolf Banitzki

 

 


Die Perser

von Aischylos | Wiedergegeben von Durs Grünbein

Rania Abdulkarim, Reyhan Abdulkarim, Isra Haitham Hussein, Afra Haitham Hussein, Chenar Hamid, Peter Hartel, Nico Holonics, Walter Hub, Stefan Hunstein, Bruno Jäger, Barbara Klipstein, Sylvana Krappatsch, J. L., Rosemarie Leidenfrost, A. M. M., Mathis Mayr, Adnan Mujic, Dzana Mujic, Kalikedan Mulugeta, Carl Oesterhelt, Angelika Pietrzik, Wolfgang Pregler, Anis Puhovac, Salewski, Hildegard Schmahl, Jasmina Taric, Jürgen von Salisch, Theodora Winter, Christof Yelin

Regie: Johan Simons
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