Kammerspiele Plattform von Michel Houellebecq


 


 Emotionale Wrestling-Veranstaltung

 

Würden die Helden aus Houellebecqs Texten beim Psychiater vorstellig werden, wäre die Diagnose voraussichtlich: Hypersexualität. So aber, verpackt in skandalträchtigen Zeilen und Bildern, die man nicht so leicht wieder aus dem Kopf bekommt, nennt man es Kunst. Sätze, die eigentlich für jeden „normalen“ Menschen schmerzhaft wären, werden bekichert, beklatscht und gefeiert. In was für einer Welt leben wir eigentlich, in der das Krankhafte die Dramaturgie schreibt? Klar, in einer krankhaften! Michel Houellebecqs Vorschläge sind durchaus ernst gemeint, wenn er einen Stab für den Sextourismus bricht und darin ein fabelhaftes Tauschgeschäft sieht. Zwar gibt er verschämt zu, dass er durchaus Skrupel hat bei dem Gedanken, doch diese überwindet er geschickt, in dem er sich gern als Tauschobjekt zur Verfügung stellt. „Ich werde auch gern mal benutzt. Ich wäre gern öfter Sexobjekt. In meinen Romanen erfülle ich mir diesen Traum.“ Und noch etwas erfüllte sich Michel Houellebecq mit seinen Romanen, er wurde reich und unabhängig von fremdbestimmter Arbeit. Für Houellebecq, selbst bekennender (oder kokettierender?) Kommunist, spielt das Geld eine große Rolle und prägt ganz sicher auch die Ästhetik seiner Werke. Der Skandal bringt Quote.

Eine vergleichbare Erscheinung, weil in der Charakteristik der Kunst in vielen Punkten deckungsgleich, ist die Malerin Tracey Emin. Mit „My Bed“ präsentierte sie 1998 ihr eigenes Bett „in seinem ganzen peinlichen Ruhm“. Umgeben von leeren Flaschen, verschmutzten Schlüpfern und bedeckt von einem befleckten Laken, präsentiert sich die Künstlerin über ihr (authentisches!) Bett als eine verdammte, als eine unsichere und unvollkommene Frau. Ihr Credo hat dabei wenig mit künstlerischen Inhalten zu tun: „Nie wieder arm sein!“ Das hat sie geschafft. Künstler wie Michel Houellebecq und Tracey Emin sind Apologeten des Neoliberalismus und deren schärfste Kritiker zugleich. Ihre Werke sind gleichermaßen abscheuerregend und anziehend, denn vom Voyerismus des Betrachters, der irgendwann die Neugier abgelöst hat, lebt es sich gut. Er ist eine Sucht, die nach der Droge Skandal schreit. Und wie bei allen Drogen muss die Dosis unaufhörlich erhöht werden.

In „Plattform“ beschreibt Houellebecq das ereignislose Leben des Beamten Michel, der zwischen Kulturministerium und Peep-Show pendelt, stets in der unberechtigten Hoffnung, der Tristesse seines Lebens und seiner Persönlichkeit zu entkommen. Der Erotomane entschließt sich, nach dem (vermutlich) gewaltsamen Tod seines Vater einen Urlaub zu machen. Er reist nach Thailand und wandelt auf den Pfaden des Sextourismus. Dort lernt er Valérie kennen, in die er sich nach seiner Rückkehr nach Paris verliebt. Tatsächlich erfährt er durch Valérie, was wirkliche Liebe ist. Bestandteil dieser Liebe ist auch eine weitestgehende sexuelle Befriedigung. Valérie ist erfolgreiche Tourismusmanagerin und mit diesem Thema konfrontiert, entwickelt Michel die Idee zu einer touristischen Plattform des Glücks. Als Valérie einem moslemisch motivierten Attentat zum Opfer fällt, stürzt Michels Leben wie ein Kartenhaus zusammen.

Stephan Kimmig brachte das düstere Werk über Einsamkeit und emotionale Verelendung auf die Bühne der Münchner Kammerspiele. Dabei bediente er sich nicht nur der Romanvorlage, sondern auch eines Interviews von André Müller mit dem Autor aus dem Jahr 2002. (Dramaturgie: Matthias Günther) Katja Haß schuf für die psychologische Vivisektion ein Bühnenbild, das eine psychiatrische Klinik vorstellte, ein Ort, an dem sich Houellebecq in seiner Jugend häufig aufhielt. Ein schicker weißer, transparenter Raumkubus auf der Drehbühne war in vier Räume aufgeteilt, die sich durch lichte Vorhänge nach außen, wie auch gegeneinander abgrenzen ließen. Diese Vorhänge waren zugleich Projektionsflächen für Videos und der direkten Videoübertragung aus dem Innern der jeweiligen Räume. (Video: Julian Krubasik) Die Bilder waren, je nach Beleuchtung deutlich und klar, oder diffus und gedoppelt, wenn die Projektionen in den Raum eindrangen und auf den hintereinander liegenden Flächen sichtbar wurden. Die Effekte waren von bemerkenswert bis erstaunlich.

In dieser „Klinik“ ereigneten sich die Szenen aus der Erinnerung, wie sie Michel auferstehen ließ. Er reflektierte sie aus seinem Bewusstsein heraus, oder in Befragungen mit der Ärztin und einem Interviewer. Getragen wurde der Abend vom Spiel Steven Scharfs, der den Michel gab. Scharf brillierte mit einem ganzen Kaleidoskop an Gefühlsregungen, wobei seine nüchtern-zynischen bis sehnsuchtserfüllten Regungen nie eine gewissen Komik entbehrten. Diese Komik entsprang seiner direkten, unideologischen Haltungen zu den Wahrheiten unserer Zeit. Warum sich mit Moral und Ethik aufhalten, wenn das Leben und die sexuelle Potenz begrenzt sind? Diese Bloßstellungen Michels richteten sich nicht nur gegen sich selbst, sondern gegen jeden, auch gegen das Publikum, und auch das stellte sich bisweilen in seinen Reaktion bloß. Das ist durchaus eine Qualität des Abend gewesen, wenngleich man als Zuschauer nicht wissen konnte, ob es beabsichtigt war oder nur einfach passierte.

Das Elend eines einzelnen Mannes wurde zum gesellschaftlichen Schleiertanz. Assistiert wurde Steven Scharf von Katja Herbers, die die Ärztin und auch die Valérie gab. Wenn Michel glaubhaft von Liebe sprechen konnte, dann wohl auch, weil Katja Herbers ein liebenswertes Frauenbild schuf. Aber sowohl Frau Herbers, als auch Wolfgang Pregler als interviewender Arzt blieben letztlich Nebenrollen, Stichwortgeber oder Fragensteller. Dass der Abend dennoch interessant und auch überraschend geriet, war neben der ausgefeilten Regie Stephan Kimmigs, der schauspielerischen Leistung Steven Scharfs geschuldet. Kimmigs Ästhetik war doppelbödig, ließ das Wesentliche immer durchscheinen und verließ sich nie auf Plattitüden. Vor der Leistung Steven Scharfs konnte man nur den Hut ziehen.

Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass gute Kunst sich durch ein stimmiges Verhältnis von Inhalt und Form auszeichnet. Den Inhalt auf den Prüfstand gebracht, wird sich keine einheitliche Diagnose stellen lassen. Hier tun sich weltanschauliche Klüfte auf. Sich dem Weltbild Michel Houellebecq anzuschließen, dürfte manchem Besucher schwer fallen. Um so bedenklicher war, dass die Inszenierung zu einer enormen, fast frenetischen Zustimmung verführte. Gezeigt wurde doch immerhin eine menschliche Hölle, die keinen Grund zur Hoffnung ließ und die zudem übermäßig mit abstoßenden Vulgarismen gespickt war. Wer da glaubte, zu einem psychologischen Geschlechterspiel aufzubrechen, fand sich alsbald in einer aggressiven emotionale Wrestling-Veranstaltung wieder. Die entsetzlichste Einsicht des Abends, vorausgesetzt man hatte sich mit dem Autor auseinandergesetzt und kannte ihn als Menschen, war, dass Michel Houellebecq aufrichtig und wahrhaftig ist. Er meint, was er sagt, und er sagt, was er in der heutigen Gesellschaft fühlt. Die polarisierende Literatur Houellebecqs liebt man oder man hasst sie. Dazwischen gibt es wenige Möglichkeiten. Würde man den Theaterapplaus, wie beim Eiskunstlauf in Pflicht- (Inhalt) und Kür- (Form) Noten aufschlüsseln, hätte es das Publikum, vor allem aber der Kritiker leichter, sich beim Applaus eindeutig zu verhalten. So blieb nur oder immerhin die Hoffnung auf eine kathartische Wirkung des Abends.

 

Wolf Banitzki

 

 

 


Plattform

von Michel Houellebecq

Aus dem Französischen von Uli Wittmann

Katja Herbers, Wolfgang Pregler, Steven Scharf

Regie: Stephan Kimmig

Kammerspiele Onkel Wanja von Anton Tschechow


 

 

Tschechow trifft Beckett

Was wäre, wenn Lenin nicht gelebt hätte? Der russische Adel wäre trotzdem untergegangen und es wäre gekommen, wie Tschechow es in „Kirschgarten“ beschrieb. Die aufkommenden bürgerlichen Kapitalisten, hätten dem Adel die Konkursmasse ihrer (Kultur-) Geschichte abgekauft, zerstört und freie Fahrt für die freie Wirtschaft geschaffen. Immerhin hatte Lenin der Welt durch den Kampf der Systeme, neben zahllosen Opfern, auch eine kulturelle Verantwortung beschert. Mit dem Fall des Ostblocks ‚endete die Geschichte und der reine Geldverkehr begann’. (Heiner Müller)

Professors Serebrjakow war Wissenschaftler, umstritten, wie Onkel Wanja behauptete, denn immerhin „blockierte“ er ein Viertel Jahrhundert lang einen Lehrstuhl. In dieser Zeit schrieb der fleißige Mann über Kunst, ohne eine blasse Ahnung davon zu haben. Das ist in der Wissenschaft keine Seltenheit, auch heute nicht. Allerdings ist die Wissenschaft heute, wenn auch nicht unbedingt wahrhaftiger, so doch immerhin effizienter geworden, seit die neoliberalisierte Wirtschaft mehr und mehr die Finanzierung übernimmt. Da kann man auch schon mal die (für die Wirtschaft) passenden wissenschaftlichen Erkenntnisse in Auftrag geben. Vielleicht ist die Erde ja doch eine Scheibe? Alles nur ein Frage des Geldes.

Doch in Tschechows „Onkel Wanja“ geht es weniger um die gesellschaftliche Bedeutung im politischen Sinn, auch wenn die Frage nach der Existenz Lenins aus der Kammerspiel-Inszenierung stammte, sondern vielmehr um die Psychologie einer Epoche. Es herrscht allenthalben Agonie. Es gibt keine Visionen mehr und man gefällt sich in der Betrachtung des Untergangs. Arbeit? Wozu? Kommt einem irgendwie bekannt vor, oder? Besagter Professors Serebrjakow ist emeritiert worden, konnte sich das Leben in der Stadt ausschließlich mit den Einkünften aus seinem Gut, oder besser dem Gut seiner verstorbenen Frau, nicht mehr leisten und war gezwungen, auf eben dieses Gut zu ziehen. Der Ankunft des Professors und seiner jungen und schönen zweiten Ehefrau Jelena Andrejewna hatte man noch entgegengefiebert, denn die Verehrung des berühmten Mannes war ungebremst. Doch schon nach kurzer Zeit kam die Wahrheit ans Licht und sein Schwager Wanja, der mit der Tochter des Professors aus erster Ehe, Sofia Alexandrowna, das Gut verwaltet hatte, war völlig desillusioniert. Man verabscheute sich, quälte sich gegenseitig und teilte die Qualen, die man sich bereitete. Man aß und trank, und aß und trank, und ... 

Es gibt auch im Stück „Onkel Wanja“ die üblichen Tschechowschen Verdächtigen: den verarmten Gutsbesitzer Telgin, der sich durchschmarotzt, wo er nur kann. Und es gibt den obligaten Idealisten. In diesem Fall der Arzt Michail Lwowitsch Astrow, ein Vorkämpfer der ökologischen Bewegung. Doch auch er ergibt sich schließlich dem Alkohol und Oblomow-Krankheit. Auch wenn er am Ende Onkel Wanja wissen lässt: „In diesem Landkreis gab es nur zwei anständige, intelligente Männer: du und ich“, reihen sie sich doch ein in die Kategorie der lächerlichen Menschen. Sie sind allesamt so lächerlich, dass es sich geradezu anbietet, ein Feuerwerk an Komik auf der Bühne zu zünden. Gute Regie zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie eben dies nur in Maßen tut, denn es sind allesamt auch tragische Menschen, weil hilf- und kraftlos.

So geschehen auf der Bühne der Münchner Kammerspiele. Es war unbedingt eine bemerkenswerte Arbeit von Karin Henkel, die Johan Simons wegen Erkrankung der Regisseurin zu Ende brachte. Simons hatte die Inszenierung zweieinhalb Wochen vor der Premiere übernommen. So kann man davon ausgehen, dass das ästhetische Konzept aus der Feder von Frau Henkel stammte, und das war erstaunlich. Wenn man bedenkt, dass das Tschechowsche Theater in der Umsetzung durch Stanislawaski sehr stark dem Naturalismus verhaftet war, überrascht doch, wie wirkungsvoll ein absoluter Gegenentwurf sein kann. Henkel verzichtete gänzlich auf Interieur, das an ein Gut erinnert. Lediglich ein kleiner schwarzer Guckkasten (Bühne: Muriel Gerstner) war den Darstellern gegeben, darin zu agieren. Gänge waren kaum möglich, ebenso große und ausladende Gesten. Die Charaktere mussten aus sich selbst heraus gestaltet werden, ohne Einbeziehung von effektvoller Theatermaschinerie. So blieb den Schauspielern kaum mehr, als die wunderbaren Texte mit minimalistischen Haltungen, Gesten und Mienen zu kommentieren. Das war hochkonzentriert, spannend und raumgreifend. Musikerin Pollyester sorgte mit wunderbarem Gesang russischer Weisen, begleitet von ihrer Bassgitarre für slawische Melancholie. Überflüssig, und angesichts der Formvollendung der Inszenierung  auch ärgerlich, war die eingespielte Leuchtschrift mit in englischer (?) Sprache verfassten Fragen. Z.B.: „What if Lenin Hadn’t lived?”

Sämtliche Darsteller liefen dabei zu großer Form auf. Der Corona der lächerlichen Menschen stand Stephan Bissmeier als aufgeblasener, hypochondrischer und egomanischer Mensch vor. Als er am Ende den Verkauf des Gutes vorschlug, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, brachte das Wanja, gespielt von Benny Claessens, derart in Rage, dass er auf den Schwager schoss. Bissmeiers Flucht vor der Rache denunzierte den Professor zudem auch noch als einen ausgemachten Feigling. Sein Abgang war chaplinesk. Benny Claessens gab einen ebenso lächerlichen Menschen, der, bereits am frühen Morgen schon alkoholisiert, seinen trägen Körper längst nicht mehr hochbekam und die meiste Zeit auf der Bühnenrampe saß. Stefan Merkis Telgin war die typische positivistische Ordnungsmacht. Seine Kommentare verliefen sich immer wieder unerhört in den Wirrungen des Absurden. Dennoch war er, der es als Glück bezeichnet, ‚sich dort kratzen zu können, wo es juckt’, unverzichtbar für den Kosmos der Lächerlichkeiten. Wiebke Puls gab die schöne und begehrenswerte, aber doch uninteressierte und mit wenigen Talenten ausgestattete Ehefrau des Professors. Sie war im Stück die Figur, die die Verzweifelung und den Konflikt vorantrieb, denn sowohl Wanja, als auch der Arzt Iwan, wuchtig und sensibel zugleich durch Maximilian Simonischek gestaltet, hatten sich in sie verliebt. Hans Kremers Mutter des Professors, schwarz gewandet und erinnyenhaft, hatte das eigentliche Leben schon ausgehaucht. Sie (er) war vornehmlich dekorativ, aber das unbedingt mit Effekt. Die Entdeckung des Abends war Anna Drexler. Die Tatsache, dass sie Studentin der Falckenberg-Schule ist, lässt angesichts ihres schauspielerischen Repertoires und der Sicherheit, mit der sie das hässliche Entlein, die Tochter Sonja, gab, auf eine großartige Zukunft hoffen. Selten sah man so schräge und zugleich erfrischende Jugendlichkeit.

Der frenetische und nicht enden wollende Applaus des Publikums war gerechtfertigt und wohlverdient. Karin Henkel hatte Tschechow auf das Wesentliche reduziert und ihn in die Nähe von Beckett gerückt. (Das könnte durchaus auch hilfreich für das Verständnis von Beckett sein.) Das Zitat aus Becketts „Murphy“ trifft auf den Tschechowschen Kosmos ebenso zu, wie auf das Werk des Iren: „Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“ Wanja mag vorbei geschossen haben, Karin Henkel hatte es nicht getan!

 

Wolf Banitzki



 


Onkel Wanja

von Anton Tschechow

Stephan Bissmeier, Benny Claessens, Anna Drexler, Hans Kremer, Stefan Merki, Wiebke Puls, Maximilian Simonischek

Regie: Karin Henkel / Johan Simons

Kammerspiele Fegefeuer in Ingolstadt von Marieluise Fleißer


 

 

Jedem seine Hölle

Olga ist schwanger. Das ist beinahe gleichbedeutend mit einem besiegelten Schicksal, zumindest in Ingolstadt. Roelle, der schlecht riechende Junge aus der Nachbarschaft nähert sich ihr immer wieder erfolglos an und wird als Abgewiesener zum Spielmacher. Doch er bleibt der von Olga verschmähte. Dabei ist er ein Besonderer, ein Heiliger. Er steht mit Engeln in Kontakt. Das seltsame Duo Gervasius und Protasius zwingen ihn, eine öffentliche Engelerscheinung herbeizuführen. Das Ergebnis ist ein Platzwunde an Roelles Kopf und seine Flucht ins Haus Berotters, Olgas und Schwester Clementines Vater. Olga geht in ihrer Verzweifelung in die Donau, doch Roelle rettet sie. Am Ende will Roelle beichten, doch er weiß nicht, wie er das anstellen soll und isst schließlich seinen Beichtzettel auf.

Es ist die Geschichte zweier ausgestoßener Menschen, die sich im Fegefeuer der Gesellschaft wiederfinden. Diese Gesellschaft zeichnet zwei Eigenschaften aus, die Gefangenheit in sich selbst und ihre inbrünstige Religiosität. Diese Religiosität führt jedoch nicht in die Erlösung, sondern ins Fegefeuer. In diesem Fegefeuer sind nicht nur die beiden Protagonisten Olga und Roelle, sondern die ganze Gesellschaft. Jedem ist seine Hölle gewiss und das nicht im Jenseits, sondern bereits im Diesseits. In ihrer Sehnsucht nach Liebe, Verständnis und ein Leben im Stand des Wohls kommunizieren sie nicht, sondern verletzten sich gegenseitig, wann und wo immer sie können. Und eben das bezeichnet das Fegefeuer.

Die Großartigkeit des Textes von Marieluise Fleißer resultiert aus dem unverstellten Blick auf die menschlichen Wesen, die gänzlich ungekünstelt und direkt unter die dramatische Lupe der großartigen Fleißer geraten waren. Obwohl alle Literatur mehr oder weniger fiktiv ist, lässt dieser Text vermuten, dass Frau Fleißer das Fegefeuer (in Ingolstadt) kennen gelernt hat. Die 1977 geborene Regisseurin Susanne Kennedy brachte dieses Fegefeuer auf die Bühne der Münchner Kammerspiele. Das ist nicht ohne Risiko, denn die sprachliche Gestaltung und auch das Sujet werden erst dann schlüssig, wenn deutlich hingewiesen wird auf Zeit und Raum des Geschehens. Nicht, dass das Thema nicht mehr aktuell wäre, doch heute würde Olga nicht mehr in die Donau gehen, sondern sich in einer Nachmittagstalkshow für bildungsferne Schichten mit Reolle auseinandersetzen und sich von neumalklugen Moderatorinnen die Welt erklären lassen. Doch Susanne Kennedy startete gar nicht erst den Versuch, dem Publikum die Modernität des Themas weiszumachen. Sie brachte einen konsequent artifiziellen Bilderreigen in einen Guckkasten und der wurde philosophisch verhandelt.

 Konsequent artifiziell sollte hier unbedingt im Sinn des Wortes verstanden werden. Das Bühnenbild von Lena Müller bestand aus einem Guckkastenzimmer, meist gänzlich leer und mit einem weiß-bläulichen Anstrich, inklusive Gebrauchsspuren. Das Licht (Jürgen Kolb ) war häufig gleißend. Es war heiß (vom Fegefeuer). Die große Deckenlampe setzt knisternd immer wieder aus. Die Rückwand des Raumes vibrierte und ließ das kleine, aber gut sichtbare Kruzifix bedrohlich zittern. Es war, als tobte hinter der Wand eine gewaltige Feuersbrunst, die jeden Augenblick durch die Wand oder das einzige Fenster in der Rückwand zu brechen drohte. Das war kein konkreter Wohnraum, sondern so etwas wie ein Vorhof zur Hölle.

Gespielt wurden keine Szenen, sondern es wurden Bilder ausgestellt, in denen gesprochen wurde. Die Darsteller bewegten sich fast nie, verharrten in Posen und der Text wurde Playback gesprochen. Die getragene, langsame und introvertierte Sprechweise der Texte, die eingespielt wurden und zu denen die Darsteller mit großer Präzision die Lippen bewegten, waren scheinbar vom Körper abgekoppelt. Die Texte klangen, als würden sie aus dem tiefsten Innern der Figur, aus der „Seele“ heraus, aufsteigen, wie von einer Hefe getrieben. Damit erreichte Susanne Kennedy eine extreme Intensität und eine verblüffende Intimität. Die Szenen - „Bilder“ wechselten jeweils nach einem atmosphärischen Kurzschluss mit den dazugehörigen Geräuschen (Sounddesign: Richard Janssen), bei dem alles Licht verlöschte. Härtere Schnitte waren kaum denkbar.

Da es den Darstellern untersagt war, äußerlich zu spielen, von Hand- oder Kopfbewegungen einmal abgesehen, mussten innere Vorgänge sichtbar gemacht werden. Einmal mehr konnte der Zuschauer erleben, welche Klasse die Darsteller an den Kammerspielen haben. Sie alle waren in ihren Kostümen (Lotte Goos), in ihren Frisuren und in ihren Masken stark, aber immer noch maßvoll überzeichnet. Sie waren Kunstfiguren, hinter denen das menschlich Antlitz nicht verschwand. Schon die Bühne und die Ausstattung der Darsteller machte den Abend sehenswert.

Çigdem Tekes scharfkantige Olga war bereits von einem Bauch gezeichnet, wie man ihn frühestens im siebenten oder achten Monat hat. Anna Maria Sturm gab im schwarzen Minikleid und langen schwarzen Haaren die verbiesterte Schwester. Der Berotter von Walter Hess hätte in seinem schwarzen Anzug, mit schwarzer, dickrandiger Brille und kurzer schwarzer Mönchsfrisur dem Büro in einer Kafkaerzählung entsprungen sein können. Heidy Forster spielte eine unentwegt Gebete brabbelnde, essende oder fütternde, gänzlich in katholischem Schwarz gekleidete Mutter Roelle. Ihren Spross verkörperte Christian Löber in Netzhemd und beigefarbenen, knappen Hotpants. Mit seinem langen Haupthaar und seiner gelegentlich auf Kreuzigung hinweisende Haltung, verkörperte er tatsächlich etwas Messianisches. Marc Benjamin und Edmund Telgenkämper, zwei propere, stramme Buschen, ebenfalls in kurzen Hosen, gaben das seltsame Paar Protasius und Gervasius.

Drei Szenen ließ Susanne Kennedy mehrfach spielen. In der ersten, kurzen Szene schilderte Marc Benjamin/Protasius drei Mal die Rettung Olgas aus den Wassern der Donau, wobei er am Ende immer wieder drauf hinwies, dass er auf den letzten Metern Hand anlegte und sich so Menschlichkeit leistete. Die zweite, etwas längeren Szene handelte von den Selbstzweifeln Roelles, der beichten wollte, aber nicht mehr wusste wie er das anstellen sollte, und schließlich drei Mal seinen Beichtzettel aufaß. Und die dritte, lange Szene war zugleich das Schlussbild, in dem alle Beteiligten beteten. Diese inständigen Gebete wurden von Mal zu Mal in einer höheren Tonlage gesprochen und kulminierten schließlich in hysterischer, religiöser Entrückung.

Doch dieses letzte und wichtige Bild wurde bedauerlicherweise vom Premierenpublikum zerstört. Es waren einige Zeitgenossen im Saal, denen diese Wiederholungen auf die Nerven gingen, die sich bei mangelnder Sensibilität und wohl auch mangelnden Respekts den Darstellern gegenüber zu lautstarken, wenig qualifizierten Äußerungen hinreißen ließen. Eben dieses letzte Bild rundete diese schauspielerisch erstklassige, künstlerisch herausragende Inszenierung, die rundherum in Erstaunen und auch in Begeisterung versetzte, schlüssig ab. Über die Frage, warum diese hochpotente Inszenierung so stark polarisierte, zu so starken Unmutsäußerungen führte, kann nur spekuliert werden. Vielleicht lag es ja daran, dass der eine oder andere unbewusst von seiner eigene Hölle heimgesucht wurde? Verletzend waren die Äußerungen, wie die der Figuren im Stück, allemal.

Es bleibt zu hoffen, dass Frau Kennedy und ihren Mitstreitern vornehmlich die frenetische Begeisterung des Großteils des Publikums im Ohr geblieben ist. Mit „Fegefeuer in Ingolstadt“ schufen sie eine der ungewöhnlichsten und wertvollsten Inszenierungen dieser Spielzeit. Chapeau!

 

Wolf Banitzki

 

 

 


Fegefeuer in Ingolstadt

von Marieluise Fleißer

Marc Benjamin, Heidy Forster, Walter Hess, Christian Löber, Anna Maria Sturm, Çigdem Teke, Edmund Telgenkämper

Regie: Susanne Kennedy

Kammerspiele König Lear von William Shakespeare


 

 

König Lear auf dem Dorfe

Ländliche Gerüche schlugen einem schon beim Betreten des Zuschauerraums entgegen. Und dann glaubt man seinen Ohren nicht zu trauen: Grunzten da etwa Schweine? Ganz recht, wie sich später herausstellen sollte. Schnell ein Blick auf das Programmheft: König Lear von William Shakespeare. Also doch nicht im falschen Stück. Dann ein Blick ins Programmheft: „Stellen Sie sich vor: Die Einwohner eines Bauerndorfes beschließen, einen Bus zu mieten, um sich in der Stadt eine Aufführung von KÖNIG LEAR anzugucken. Auf dem Heimweg fassen sie den Entschluss, das Stück selber aufzuführen...“ (Koen Tachelet: Lear auf dem Bauernhof) Aha, ...

„König Lear“ ist ein maßloses Stück. Es berichtet von der Maßlosigkeit menschlichen Handelns, oder, wie Jan Kott bemerkt: „In König Lear zerbrechen beide Werteordnungen, die des Mittelalters und die der Renaissance. Am Schluss dieses gewaltigen Pantomime bleibt nur die blutige und leere Erde zurück“. Und weil alles so maßlos ist, fällt es schwer, alles das auch zu verstehen. Es beginnt völlig absurd und dabei doch recht harmlos, als Lear, des Regierens müde, sein Reich unter seinen drei Töchtern aufteilt. Die soll den größten Teil erhalten, die auch die größte Liebe für den Vater hegt und dies auch glaubhaft zu vermitteln weiß. Cordelias Erklärung lautet: „Ich lieb Eur Hoheit, wie’s meiner Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder.“ Der eitle und selbstgefällige Lear begreift nicht, dass hier Aufrichtigkeit von wahrer Liebe kündet, enterbt die Tochter und verweist sie des Landes. Immerhin wird sie noch die Gattin des Königs von Frankreich.

Der eigensinnige und leicht erregbare Lear will fortan mit einhundert Rittern im Gefolge, wechselweise Quartier bei den beiden anderen Töchtern nehmen. Als die Töchter beginnen, ihm, der das Königtum für ein idealistisches Prinzip hält und nicht für ein Amt, und seiner Hybris die Zähne zu ziehen, wendet er sich von ihnen ab und landet verwirrt auf der Straße. Einzig der Narr ist ihm geblieben. Parallel zu dieser Geschichte muss Graf Gloster erleben, wie sein unehelich geborener Sohn Edmund gegen ihn intrigiert und die Familie nachhaltig zerstört. Gloster wird geblendet und zieht, nicht wissend, wer ihn begleitet, mit seinem ehelich gezeugten Sohn Edgar durch das wüste Land. Cordelia kehrt mit dem französischen Heer nach England zurück und wird geschlagen. Am Ende sind alle wichtigen handelnden Personen tot.

Es gibt im Stück die klassischen Schurken, die integeren Getreuen und die ignoranten Ahnungslosen. Lear muss der letzten Kategorie zugeordnet werden. Obgleich er Auslöser des Infernos ist, kann schwerlich der Stab über ihn gebrochen werden. Es braucht alle anderen Charaktere, um die Komplexität Lears und seiner Geschichte verstehen zu können. Friedrich Gundolf schrieb in seinem 1928 erschienen Werk „Shakespeare, sein Wesen und Werk“: „Die Zurückführung seines (Lears – W.B.) Jammers auf eine menschliche Eigenschaft heißt das weggeworfene Zündholz mit dem Waldbrand zu verwechseln.“ Dieses Stück zu inszenieren bedeutet, sich entscheiden zu müssen zu Gunsten oder Ungunsten eines Aspektes. Zu widersprüchlich ist das Stück, zu spannungsgeladen, zu wahnwitzig. Die „Old Vic Company” brachte 1952 eine Inszenierung mit John Gielgud in der Titelrolle auf die Bühne, die so actionreich und fabulös war, dass der absurde Ansatz der Macht- und Landverteilung gar nicht wahrgenommen wurde. 1959 besorgte Glen Byam Shaw eine Inszenierung, in der Lear, gespielt von Charles Laughton, ein leicht seniler und herrischer König war, dem man den absurden Ansatz, ohne zu hinterfragen, freiweg glaubte. In Deutschland setzte Rudolf Sellner am Landestheater Darmstadt Maßstäbe. Er trieb den Lear deutlich in die Abstraktion und schuf ein „Symbol für den schuldlosen Jammer der Kreatur, die erst im Tod den Frieden findet“. (Georg Hensel)

Warum diese unseligen Ausflüge in die Theatergeschichte, denken sie vielleicht? Einzig und allein, um aufzuzeigen, welche Dimensionen menschlichen Denkens und Empfindens hier verhandelt werden, denn es geht um eine objektive (oder weitgehend objektivierte) Betrachtung der Inszenierung von Johan Simons an den Münchner Kammerspielen. Regisseur Simons sieht in Lear einen Menschen, der „mehr leiden muss, als er verdient.“ Er leitet daraus seine Aufgabe ab, „diese großen Themen zu menschlichen Proportionen zurück zu bringen“. Sein Konzept: Lear auf dem Bauernhof. Ging es auf? Ganz entschieden: Nein, denn die Zuschauer sahen ein gewaltiges Königsdrama in den Rahmen eine Bauernhofes gepfercht. Darunter litt das Shakespearesche Drama (Übersetzung Frank Günther) und wohl auch mancher Schauspieler. Mehr noch, es ist schwer vorstellbar, dass irgendjemand den Vorsatz Simons von allein wahrgenommen hätte, wenn er nicht durch das Programmheft informiert worden wäre.

Bert Neumanns Bühne bestand aus einer hölzernen Brücke im Hintergrund und einer mittelgroßen, leicht angeschrägten Drehbühne im Vordergrund, die mit Rollrasen bedeckt war. Eingangs des Stückes war die Brücke mit längsgestreiftem, weiß-rotem Tuch verhängt, das bald heruntergerissen wurde. Königliche oder höfische Pracht wurde durch einen kreisrunden Lamettavorhang um die Drehbühne herum signalisiert, mit dem einige Darsteller im wahrsten Sinn des Wortes zu kämpfen hatten. Der Rollrasen auf der tortenplattenartigen Drehbühne ging bald den Weg alles Irdischen und erklärte die fortschreitende Verwüstung der (auch inneren) Welt. In der skelettartigen Kargheit erinnerte das Bühnenbild an ein Wochenendseminar für Heimwerker bei Obi. Motto: Wie baue ich ein Pergola!

Der Lear ist für reife Schauspieler ebenso ein Traum, wie Romeo für junge Darsteller. Nicht selten krönt diese Rolle ein Schauspielerleben. Wenn dem so ist, bleibt nur zu hoffen, dass André Jung eine weitere Chance bekommt. Er hätte es verdient. Zum „Symbol für den schuldlosen Jammer der Kreatur“ konnte er nicht avancieren. Er war ein Bauern-Lear, ganz wie es das Konzept von ihm verlangte, sprunghaft, gelegentlich mit Furor, auch beängstigend, doch nie der Staatenlenker. Es war die Umgebung, die ihn drückte, die Kleinlichkeit der Umstände, in die er hineinversetzt wurde.

Selten blieben die Darstellerinnen Marie Jung, Sylvana Krappatsch und Annette Paulmann so farb- und konturenlos wie als Töchter König Lears. Kristof Van Boven gab den Edgar, der sich als Bettler und Irrer tarnen musste, um sein Leben zu schützen. Er zappelte in tätiger Selbstzerfleischung durch die Szenerie und war dabei alles, nur kein Hoffnungsträger. Ähnlich erging es Oliver Mallison und Lasse Myhr als Herzöge von Albany und Cornwall. Viel mehr als Stichwörter konnten sie nicht geben. Auch sie blieben Opfer einer sehr kleinkarierten Quadratur im Kreis um Lear. Walter Brombacher spielte seinen Part als Graf von Gloucester artig herunter. Ihm gelang es immerhin noch, aufrichtiges Mitleid mit seiner Figur zu erzeugen. Wolfgang Pregler aber spielte als Graf von Kent den fleischgewordenen Verdruss. Dabei blieb unklar, ob dieses Gefühl nur der Rolle geschuldet war.

Nur zwei Schauspielern gelang es, prägnante Figuren zu schaffen, die über den Abend hinaus in der Erinnerung bleiben werden. Stefan Hunstein, ein Mann der intellektuellen, der differenzierten Töne, brachte einen pragmatischen Edmund auf die Bühne, der frei von Skrupeln stets gradlinig und auch tumb zu Gunsten Edmunds entschied und handelte. Das war nicht frei von Komik, denn so wie Hunstein diesen Typus Mensch spielte, entlarvte er ihn und verankerte ihn gleichsam in der menschlichen Gesellschaft. Für einen Großteil der Komik und der Druckentlastung des drei Stunden und 45 Minuten langen Abends sorgte Thomas Schmauser als Narr. Schmauser war in dieser Rolle ganz bei sich selbst und darum überzeugte auch die kleinste Geste oder der leiseste Seufzer. Er spielte, obgleich ihm viel physischer Aufwand abgefordert wurde, äußerst differenziert und spitzfindig.

Ästhetisch ging eigentlich nichts wirklich zusammen. Das uninspirierende Bühnenbild mit Lichttafel, die stocknüchtern den jeweiligen Ort der Handlung bezeichnete, wurde kontrastiert von den ambitionierten und zum Teil aufwendigen Kostümen von Nina von Mechow. Irgendwie ließen sich Bilder aus Dostojewski-Erzählungen, die jenseits vom Ural angesiedelt sind, nicht verdrängen. Orientierungslosigkeit allenthalben. Sinnlose Gänge, geschrieener Text, unverständliches Wahnsinnsgestammel, Biomulch, Staub ... Und dann kamen da noch die Schweine, schöne, dicke Schweine. Eine Kuriosität, die in die Geschichte eingehen wird: Die Kammerspiele als Schweineweide, - mehr aber auch nicht. Tiere haben auf der Bühne noch nie getaugt, einen Ort zu definieren oder eine Suggestion im Sinn der Geschichte zu erzeugen. Tiere lenken ab und bringen den Betrachter unwillkürlich weg von der Handlung. Eigentlich weiß man das schon seit langem.

Erstaunlich war am Ende der frenetische Beifall für die Darsteller, unterlegt mit einigen unüberhörbaren Buhs für die Regie. Nachgefragt, hieß es: Johan Simons habe vergleichsweise nur wenig Zeit für die Inszenierung gehabt. Immerhin, zum Schweintreiben reichte sie aus.

 

Wolf Banitzki


 

 


König Lear

von William Shakespeare

Peter Brombacher, Stefan Hunstein, André Jung, Marie Jung, Sylvana Krappatsch, Oliver Mallison, Lasse Myhr, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, Thomas Schmauser, Kristof Van Boven

Regie: Johan Simons

Kammerspiele Judas von Lot Vekemans


 

 

Die Wehklage ist Programm

„Judas handelt von einem Mann, dessen Name für Verrat steht.“, so beginnt die Ankündigung des Stückes auf dem Programmblatt. Er steht nicht nur für Verrat am Leben Jesus Christi und damit für Verrat an Gott. Fast alle Priester zeigen mahnend mit dem Finger auf ihn und es gibt zahllose, die Figur und ihre Handlung verdammende Schriften. Der Name Judas ist dicht, ja unverzichtbar verbunden mit dem von Jesus, half er diesem doch bei der Realisierung seines größten Wunsches, der Erlangung der Unsterblichkeit. Zwei Freunde und ein Deal - und waere da nicht die angenommene Bestechungsabgabe, die dreissig Silberlinge, so waere es eine unschuldige Tat - doch so statuierten die nachfolgenden Bigottisten ein Exempel daraus, eine Vorteilsnahme. Und, die damit die Chancen von Judas auf eine Erlösung mathematisch gesehen in den Minusbereich, in den der Schulden drückten. Eine Aussicht für auf Entkommen aus dieser Position wäre sicherlich erst nach einem umfassenden Weltenbrand oder aber nach der Erkenntnis Gottes möglich.

Das Publikum wartete ungeduldig im Foyer. Wie Parolen verlautete es aus den Mündern der Angestellten: „Freie Platzwahl. Bitte schalten Sie die Handys total aus.“  Einlass war eine Minute vor Neun, in dunkler Stunde. Wer dabei sein wollte, drängte auf den Balkon. Es schien wie das unsichtbare Ringen in einer kultivierten Gemeinschaft um die besten Plätze. Und dann, die reservierten, mit Zettel versehenen Sitze. Ich nahm ein meiner Position entsprechendes Blatt und wählte „meinen“ Platz - am Rand der Reihe, rechts, und mit freier Sicht auf den Darsteller vor dem eisernen Vorhang, der Zuschauerraum und Bühne voneinander trennt. Vor mir zwei Stühle mit dem Vermerk „reserviert“, leer ... bis Lot Vekemans vor mir Platz nahm.

Die Rampe der Bühne lag im Dunkel, eine Leiter, kaum wahrnehmbar am oberen Ende die Umrisse einer Gestalt. In der Stille des ersten Augenblicks drängte sich die Frage auf: Ist der entblößte Mensch in der Tat so interessant? So interessant, dass man ihm ständig begegnet, man konfrontiert wird, dass er Marktwert vorstellt und nur durch den Verrat an sich überlebt. Die Gestalt wendete dem Publikum den Rücken zu, drehte gelegentlich den Kopf.
Steven Scharf artikulierte mit unüberhörbarer Kraft und Präsenz, grandios, überdeutlich - zwischen Angst und Rechtfertigung, zwischen Freundschaft und Verrat, zwischen Hoffnung und Resignation. Er verkörperte Judas, der in verschiedenen angemessenen Körperpositionen seine Geschichte erzählte, hinterfragte, darlegte und somit ins Licht rückte. Die Kristallisierung einer völlig sinnlosen Selbsthinterfragung, ja geradezu Selbstzerfleischung wurde sichtbar gemacht. Das in sich sensible Wesen Mensch ringt um Aufrichtigkeit, verzweifelt, wirft es den Blick auf sich, seine Taten und diese Haltung hält es fest, zwingt es zu Boden. Der Text häufte „.... eine Geschichte ... was glauben Sie ... die Zeit zurück drehen ... wir handeln aus Zweifel, weniger aus Glauben ...ist mein Leben eine Sammlung aus Fußabdrücken ... begreifen zu wollen ... warum kann es nicht einfach sein ...“ Fragen über Fragen, verblieb im bekannten Allgemeinen. Nun denn, die Antwort ist einfach. Doch sie darf nicht erkannt werden, damit lässt sich kein Geschäft machen, lässt sich keine Machtposition aufbauen. Betätigten sich, wie Judas erzählte, doch die Priester der Tempel auch als Taktierer und Manipulanten in eigener Sache, nutzten den Moment seiner Schwäche zum eigenen „Gut“-dünken. Somit: Jede Handlung, auch die sogenannte aufrechte Tat, kann als Fehler gewertet werden – eine Frage des Standpunktes. Was sonst. Alles Handeln führt zum eigenen Untergang. Kalkulieren, schachern, spekulieren, sich winden und seinen Schwächen anhängen ... „das ist menschlich“ ... heißt es dazu heute erklärend, noch nicht mal entschuldigend, sondern bestätigend. Äußert sich so das Prinzip Judas?

 Die artifizielle Inszenierung von Johan Simons baute überdies auf ein im Ausdruck starkes Bild, welches an Kraft kaum zu überbieten ist. Gleich dem Gekreuzigten „klebte“ Steven Scharf an der schwarzen Wand, den Rücken dem Publikum zugewendet. So stand dieses für das bislang Unausgesprochene, das Verborgene. Dazu erklang unüberhörbar und doch permanent zwischen Vorder- und  Hintergrund der Ton von lautem Herzschlag. Der Herzschlag trug einen Teil der Spannung, so wie der lebendige Herzschlag das Leben trägt.

War es Zufall, dass ich den rechten Eingang auf den Balkon der Kammerspiele wählte, dass ich im Rücken der Autorin saß? Die Sicht vom gegenüberliegenden Platz war die gleiche unverstellte gewesen, hat den gleichen freien Blick ermöglicht. Ist es doch das Schicksal der Kritiker von anderen Standpunkten aus auf das Werk der Autoren und Schaffenden zu schauen, zu bemerken und ihren Beitrag zu Erweiterung persönlicher Welten anderer zu leisten. Dazu braucht es den Spiegel, die Geschichte, das Theater. Es braucht den anderen Menschen, um sich selbst und die Aspekte seines Tuns zu erkennen, denn dafür taugen weder Gott noch sein Sohn, die beiden gnadenlos stillen Dulder, überlassen sie doch jede Handlung einem lebendigen Wesen. Es liegt in der Zeit darauf hinzuweisen, wie bereits ... erkannte, dass die Bezeichnung Gott lediglich für eine Bewusstseinsebene (die umfassende Wahrnehmung und Verbindung mit der Umgebung) des Menschen steht. Diese als Projektionsfläche zu benutzen, gar zu personifizieren, führt zu Verwirrung, Verirrung und damit ins Jammertal. Denn: „Die Projektion von Illusion ist das Geheimnis der Manipulation.“, wie Peter Greenaway es formulierte. Wer mit sich selbst „handelt“ und/oder handeln lässt, ist Spielball fremder Mächte, liefert sich zur Hinrichtung aus. Doch eben damit ist Geschäft zu machen. Es ist das Geschäft der Priester (bzw. der Psychologen), die sich Vermittler nennen und den Handel mit Gott betreiben. Ein einträgliches Geschäft, besonders in einer Gesellschaft mit sich selbst entfremdeten Menschen, einer Gesellschaft, in der das mechanische Ticken der Uhr den Pulsschlag bestimmt und die Handyfrequenz leitet, in der Jenseits des eigenen Herzschlages vegetiert wird.

Mit der Inszenierung wurde der Versuch unternommen die geschändete Figur Judas in ein zeitgemäßes Bild zusammenzufassen und den Zuschauer „dahin zu führen, wo er lieber nicht sein möchte: zu dem Judas in sich selbst.“ , so lautet die Intention Lot Vekemans. Es waren Glaube und Zweifel, Jammer und Selbstzerfleischung, welche programmatisch, im Spiegelbild einer Gesinnungsgemeinschaft zelebriert wurden - adäquat auf künstlerisch wohldurchdachte Weise. Der anhaltende, wie kräftiger Herzschlag anmutende, Applaus bestätigte ein tatsächlich gelungenes und preisverdächtiges! Unterfangen. Die dreißig Silberlinge sind ...



C.M.Meier

 

 


DEA Judas

von Lot Vekemans

Steven Scharf

Regie: Johan Simons
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