Kammerspiele Satansbraten von Rainer Werner Fassbinder


 

 

Gestern noch depressiv und heute – genial

Mit „Satansbraten“ gedenken nun auch die Münchner Kammerspiele dem 1982 verstorbenen Rainer Werner Fassbinder. Es heißt, dieser Film sei eines der persönlichsten Werke des Regisseurs. Die Popularität Fassbinders scheint ungebrochen, zumindest in Homosexuellenkreisen, für die Fassbinder eine Ikone war und ist. Zweifellos hat er, der selbst bisexuell war, einige Breschen geschlagen in die gesellschaftliche Klagemauer wider die „sexuellen Abnormitäten“. Als Künstler war Fassbinder eine Ausnahmepersönlichkeit. Der Mann, dessen Leben einer Kerze glich, die an beiden Seiten brannte, war einer der produktivsten Künstler seiner Zeit. Mit Filmen wie „Angst essen Seele auf“ oder „Die Ehe der Maria Braun“ schrieb Fassbinder Filmgeschichte und sich in die Annalen derselben ein.

Doch wer war der Mensch R.W. Fassbinder. Es ist hinlänglich bekannt, wenngleich diese Geschichten eher unter der Hand kursieren, dass seine Eitelkeit kaum Grenzen kannte, dass er ein ausgemachtes Ekel sein konnte, der seine Darsteller, die er gelegentlich auch Huren schimpfte, bei Dreharbeiten bis zu Exzess rücksichtslos quälte, sie finanziell und gefühlsmäßig ausbeutete und auch eiskalt fallen ließ. Einige von ihnen, wie Irm Hermann, Hark Bohm, Gottfried John, Hanna Schygulla oder Brigitte Mira, hat er groß gemacht. Wirft man nun einen Blick auf die Figur des Schriftstellers Walter Kranz in „Satansbraten“, könnte man meinen, hier habe neben der Kritik nach außen, auch ein Outing des künstlerischen Innenlebens stattgefunden. Fassbinder erlaubt uns diese Sicht, in dem er gesteht: „Meine Art zu arbeiten ist für mich auch so was wie eine Selbsttherapie.“

Satansbraten ist der Versuch einer Komödie. Darin geht es um einen Dichter, der für eine gewisse Zeit als „Dichter der Revolution“ begeistert hatte, der nun unter einer Schreibblockade leidet und der über zwei Jahre hinweg Vorschüsse von seinem Verlag kassierte, ohne auch nur eine Zeile zu liefern. Als der Druck von Seiten des Verlags und der Familie übermächtig wird, seine sexuell willigen und hörige Gönnerinnen ihn nach und nach fallen lassen, überkommt es ihn geradezu zwanghaft. Er verfasst in einem Zug und mit den höchsten Gefühlen schöpferischen Glücks das wunderbare Gedicht „Der Albatros“. Dumm nur, dass es von Charles Baudelaire stammt und in der von Kranz erarbeiteten Fassung die Nachdichtung von Stefan George ist.

Die letzten vier Zeilen des Gedichtes geben immerhin Aufschluss über den Beweggrund der Entstehung: „Der dichter ist wie jener fürst der wolke / Er haust im sturm – er lacht dem bogenstrang / Doch hindern drunten zwischen frechem volke / Die riesenhaften flügel ihn am gang.“ Fassbinder Kritik in diesem Film richtete sich gegen den Kulturbetrieb, der sich in seiner Bigotterie als Kunstverhinderer entpuppte. Der Kunstbetrieb reagierte prompt und schnitt Fassbinders „schönsten, ehrlichsten und radikalsten Film“ und drängte ihn aus dem öffentlichen Bewusstsein. So ändern sich die Zeiten und auch die Institutionen. Der heutige Kunstbetrieb hat begriffen, dass es nichts gibt, was sich nicht vermarkten lässt. Die Kunst ist dabei nebensächlich geworden und der Kunstbetrieb hat sich längst von ihr emanzipiert, pflegt seine Eitelkeiten und den Status als Versorgungsanstalt. Und Fassbinder? Er ist Erinnerung und, für Jubiläen, Vorlage für Neuinterpretation.
 
  satansbraten  
 

Wolfgang Pregler, Brigitte Hobmeier

© Arno Declair

 

 

Stefan Pucher besorgte seine Interpretation an den Münchner Kammerspielen und überrollte das Publikum mit einem aufgepeitschten, bisweilen grobschlächtigen, allzu oft wirrem und verwirrendem Comedyspektakel.  Warum auch nicht, denn Kritik, wie sie Fassbinder übte, ist ohnehin nicht mehr angesagt. Wenn Fassbinder mit seinen überaus ordinären und nicht selten gossenhaften und billigen Texten seinerzeit noch schockte, langweilt das Geficke und Gebumse von Frauen, Männern und Fliegen heute. Da braucht es gute Einfälle und exzellente Darsteller, um den Abend zu überstehen. An letzteren mangelte es nicht. Wolfgang Pregler brillierte als hypertropher, selbstsüchtiger und eiskalt verratender Walter Kranz. Wenn er in die Rolle des Stefan George schlüpfte und sich im Kreis seiner (gekauften) Kosmiker wie ein literarischer Bonaparte gerierte, wurde es vollends lächerlich. Annette Paulmann gab eine penetrante und sehr bodenständige Ehefrau. Ihrem konterkarierenden Spiel verdankte Pregler letztlich seine wahre Größe als furioser Dichterwicht.

Brigitte Hobmeier überraschte wieder einmal durch ihre Wandlungsfähigkeit. In der Rolle der Freundin von Kranz erinnerte sie an Hanna Schygulla in ihren besten Zeiten, lasziv und scheinbar nicht mehr von dieser Welt. Als Verehrerin Andree kolportierte sie grandios das Prinzip des Fantums. Genija Rykova gab die ehrbare Sekretärin ebenso evident wie die hart arbeitende Prostituierte oder sie sexuell willige Gönnerin Irmgart von Witzleben, deren Tod auch nur ein Witz war. Und weil der Tod ein Witz war, war der untersuchende Polizeibeamte Lauf auch nur ein Fälschung. Edmund Telgenkämper war in dieser Rolle allenfalls eine Marginalie zum Thema. Lustig anzuschauen war er jedoch als tumber Stricher in römischer Toga und göttlicher Pose zu den Füßen von Kranz/George. Ein wirklich schweres Los hatte allerdings Thomas Schmauser als geistig behinderter Bruder Ernst. Er fühlte sich in seiner Rolle, die eigentlich gar keine war, sichtlich unwohl und bei der Verbeugung am Ende hatte man das ungute Gefühl, er würde unmittelbar nach seinem Abgang Harakiri machen.

Regisseur Pucher hatte sich von Stéphane Laimé eine Bühne bauen lassen, die sich als nicht sonderlich praktisch erwies. Offene Räume, sie schwebten aus dem Bühnenhimmel herein oder wurden herein geschoben, wurden bei offener Bühne zu einem geschlossenen Raum zusammenmontiert, aus dem per Video auf die Außenhaut übertragen wurde. Bühnenwände, eine mit dem Bildnis von Friedrich Nietzsche, ergaben in der Bewegung größere oder kleine Räume. Und schließlich konnten die Innenräume gegen den Blick des Publikums durch eine, die gesamte Bühnenbreite durchmessende Außenwand abgeschlossen werden, die gleichsam als Projektionsfläche für die Übertragungen aus dem Innern herhalten musste. Es war alles recht unübersichtlich und holprig. Auch wurde viel umgebaut bei laufender Handlung, wobei sich der Zuschauer endlich auch einmal ein konkretes Bild vom Beruf des Bühnearbeiters machen konnte. Selbst der Maskenbildner Norbert Baumbauer erschien auf offener Szene und verwandelte Wolfgang Pregler in den Dichterfürsten George. Damit war auch er ein Darsteller.

Es ging nicht allzu viel zusammen und am Ende konnte das wüste Treiben kaum als zwingend bezeichnet werden. Irgendwie entsprach es dem Schlüsselsatz von Walter Kranz: „Gestern noch depressiv und heute – genial.“ Allerdings, nicht weil der Satz inhaltlich stimmte, sondern weil er absolut unbegründet war. Aber wenn etwas unverständlich bleibt, kann man es getrost genial nennen. Es war den Darstellern zu danken, dass sie punktuell einige gute Gags sehr komödiantisch verkaufen konnten. Walter Kranz war sicherlich nicht der Prototyp eines Künstlers, ebenso wenig wie Rainer Werner Fassbinder es war. Das Publikum applaudierte geradezu tumultartig. Zwischendrin gab es aber auch ratlose Gesichter.

 
 
Wolf Banitzki

 

 


Satansbraten

von Rainer Werner Fassbinder

Justin Bond, Julius Dattenberger, Hannes Heinrich, Brigitte Hobmeier, Nikolai Huber, Benjamin Jorns, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, Genija Rykova, Ute Schall, Ryan Scheerlink, Thomas Schmauser, Edmund Telgenkämper, Maximilian von Rossek, Moritz Windloff

Regie: Stefan Pucher

Kammerspiele John Gabriel Borkmann von Henrik Ibsen


 


Unter Tage

Wer war die John Gabriel Borkman eigentlich? War er ein Visionär oder nur ein Wolkenschieber? Ibsen gibt darüber nicht mit letzter Bestimmtheit Auskunft. Er lässt Borkman sich selbst erklären: „Ich hatte die Berufung gespürt und ich hatte die Macht, das zu erwecken, was schlafend in den Bergen lag.“ Im Ergebnis seines Handelns hatten viele Menschen, sogar Freunde, ihre Existenz verloren. Borkmann selbst hatte fünf Jahre im Gefängnis und acht Jahre in der von ihm selbst gewählten Isolation im Obergeschoss des Wohnhauses verbracht. Letztlich entlarvte er sich als hypertropher Phantast, denn noch immer glaubt er an ein Comeback. Er glaubte tatsächlich, dass man ihn noch einmal in allerhöchste Position auf den Geldmarkt berufen würde, um sein vermeintlich visionäres Potenzial auszuschöpfen. Dabei war das Leben schon längst über ihn hinweg gegangen. Vermutlich ging es dem romantischen Individualisten Ibsen gar nicht darum, Borkman anzuklagen oder zu entschuldigen. Ibsens eigener Vater, Henrik war sieben Jahre alt, hatte einen desaströsen Bankrott hingelegt, der die ganze Familie in die niedrigste soziale Schicht stürzen ließ. Die Ausgangssituation, das Hinabsteigen in den ungeschönten Urgrund, auf den Nullpunkt, erschien ihm vermutlich als dramaturgischen Dreh- und Angelpunkt reizvoll, um das Thema Bezogenheit und Liebe abzuhandeln.

Ausgelöst wird der Diskurs durch das Auftauchen von Ella, Schwägerin Borkmanns und Zwillingsschwester von dessen Ehefrau Gunhild. Ella möchte Erhard, Sohn der Familie Borkman, mit sich nehmen, denn sie ist todkrank und sehnt sich nach liebvoller Sterbebegleitung. Doch Gunhild Borkman lebt ihre eigene Illusion, die sie zur Mission für Erhart erklärt hat. Erhart soll die Familienehre wieder herstellen. So ist Gunhild nicht gewillt, den Sohn abzutreten. Ellas Anwesenheit stört die acht Jahre andauernde Agonie und eine Entwicklung beginnt. John Gabriel erkennt, dass sein Warten sinnlos ist. Er selbst kann nichts mehr reißen, doch vereint mit Erhart ließe sich noch alles ins Lot bringen. Erhart avanciert zum vermeintlichen Allheilmittel. Allerdings hat niemand auch nur einen Gedanken darauf verschwendet, dass Erhart eigene Vorstellungen von seinem Leben haben könnte, in denen Arbeit auf keinem Fall vorkommt. Er zieht es vor, das Leben zu genießen, vorerst mit der um einiges älteren Frau Fanny Wilton. Zurück bleiben drei vereinsamte, gescheiterte Menschen, denen die Erfüllung ihrer Sehnsüchte nach Liebe und Bezogenheit versagt bleiben.

Armin Petras, der das Ibsensche Stück für seine Inszenierung eigens bearbeitet hatte, setzte dennoch auf den ökonomischen Part im Stück. In seiner Lesart geht es um Ressourcen, denen der Natur und der Liebe. Ressourcen der Liebe? Nun gut, in einer Welt, in der inzwischen alles ausgepreist wird, lässt sich auch schon mal die Liebe in ökonomische Kategorien pressen, und sei es auch nur zum besseren Verständnis. Tatsächlich wird im Stück deutlich, dass der Bankdirektor Borkman, die Liebe seiner Schwägerin als Kapital und Trumpfkarte gegen seinen Widersacher behandelt hatte, wodurch er Ella zutiefst verletzt und aus dem Haus getrieben hatte. Vornehmlich ging es aber um natürliche Ressourcen, von denen Borkman noch immer schwelgerisch träumte: „Ich liebe euch, die ihr da scheintot liegt in euren dunklen Klüften, ihr silbernen Ader, ihr Bäuche voll von rotem Erz.“ Bühnenbildner Olaf Altmann setzte diesen Gedanken eins zu eins um und schuf eine Bühne, die einen Schnitt durch die Erde zeigte, die von Bergwerksstollen durchzogen war. Darin wuselten die Darsteller gebückt oder kriechend auf und ab, gefangen in einer Welt unter Tage. Das Bild beeindruckte. Es war sehr ungewöhnlich, stellte sich aber auch als sehr sinnfällig heraus, innere Zustände zu karikieren und gleichsam zu konterkarieren.
 
  johngabriel  
 

André Jung, Wiebke Puls, Lasse Myhr, Christin König, Hildegard Schmahl

© Julian Röder

 

Armin Petras, der gelegentlich auch schon mal zu szenischen Kapricen neigt, konnte in den Münchner Kammerspielen auf Darsteller zurückgreifen, deren bloße Präsenz schon trägt. Allen voran André Jung, dessen Borkman narzisstisch daherkam und der zugleich auf groteske Weise unkritisch gegen sich selbst agierte, selbst dann, wenn er Selbstkritik anmeldete. Jung war die Spiellust anzusehen, insbesondere dann, wenn er mit dem Publikum privatisierte. Derartige Verbrüderungen mit dem Publikum waren einstmals undenkbar und verpönt auf der Bühne. Heute sind sie allemal gut für Lacher, ob sie auch gut sind für das Theater, mag jeder Zuschauer mit sich abmachen. Nicht selten lenken diese Vorgänge ab, reißen den Betrachter emotional aus dem Kontext der Gefühle, die das Stück aufzubauen versucht. Vielleicht begreift es der eine oder andere ja auch als Brechtschen Verfremdungseffekt. Befremdlich war allerdings auch das Sprachtuning in Richtung Alltagssprache. Das hat die Ibsensche Sprache nicht nötig, wohnt ihr doch ausreichend Komik inne. Komisch muss es heutigentags einfach zugehen (hat man so das Gefühl) und auch in der Inszenierung von Armin Petras blödelte man sich allzu häufig kollektiv durch eine große menschlich Tragödie.

Wiebke Puls und Cristin König gaben das Schwesterpaar Ella und Gunhild. Beide bliesen sich, angestachelt zu fast artistischem Spiel, gelegentlich auch zu Karikaturen auf. Die Neigung zum Absurden wäre einleuchtend gewesen, wenn es sich um ein Stück des Absurden handeln würde, dabei war Ibsen jedoch ein Hauptvertreter des Naturalismus. Aber so mag sich erklären, warum es einer eigenen Fassung durch den Regisseur bedurfte. Lasse Myhr fühlte sich sichtlich wohl im grotesken Treiben, dessen Begehren sein Erhart eigentlich war. Weder die verbalen, noch die physischen „Zipfelklatscherein“ bereiteten ihm Probleme.

Ohne Frage war die Komödiantik aller Darsteller sehenswert, wenn man einmal von Hildegard Schmahl absieht, deren zurückhaltende Fanny Wilton mehr einer gespielten Prämisse glich, als einer Kollaboration in der ästhetischen Scheinextase. Fraglich, ob die wohltuende Verweigerung von Frau Schmahl ausging oder Plan der Regie war. Allzu willig fügte sich Michel Tregor als Wilhelm Foldal in das Panoptikum menschlicher Zerrbilder ein. Lustig war er anzuschauen als hingebungsvoller Freund Borkmans, als skurriler Dramendichter und als völlig verblödeter Vater, der seinen Zustand als Krüppel pries. Immerhin hatte seine Tochter in dem Schlitten gesessen, der ihn überfuhr und die Beine zertrümmerte. Bei Hanna Plaß, die Foldals Tochter Frieda spielte, hatte man den Eindruck, sie sein nur sporadisch herbeizitiert, um am Spiel teilzunehmen. Ihre musikalischen Beiträge waren allerdings hörenswert.

John Gabriel Borkmann ist ein „Master of the World“, der die Liebe seinem Machtanspruch und dem Besitz geopfert hat. Seine Frau hasst ihn und seine Geliebte nennt ihn einen „Seelenmörder“. Ungebrochen betrachtet er sich als einen Herrenmenschen, frei von Unrechtsbewusstsein. Am Ende zerbricht er an dem Mangel an Liebe und Zuneigung. Er geht in eine Eislandschaft um ein „tiefes, endloses unerschöpfliches Reich“ zu erschaffen. Georg Hensel schrieb über die Figur des Borkman: „Das Komödiantische in der Rolle des verbitterten alten Mannes ist so stark, dass es mit dem Altern des Stückes die geheime Komödie, die in ihm verborgen ist, zum Vorschein gebracht hat.“

Es drängt sich im Nachhinein die Frage auf, warum es all der Vordergründigkeiten, Gags, Plattitüden, privaten Ein- und Auslassungen und Entblößungen bedurfte, um aus dem Drama, das eigentlich schon eine Komödie ist, eine Komödie zu machen. In der in den Kammerspielen dargebotenen Form blieb eines mit Sicherheit auf der Strecke, das tiefe rationale und emotionale Verständnis für die Figuren und somit auch die Katharsis. Hat Armin Petras die Ibsensche Vorlage transponiert und transportiert oder vielleicht nur ausgebeutet? Und um welchen Preis? Er selbst hatte im Zusammenhang mit dieser Arbeit gesagt: „Man kann nichts ausbeuten, ohne selbst schweren Schaden zu nehmen.“

 
Wolf Banitzki

 

 


John Gabriel Borkmann

von Henrik Ibsen

André Jung, Cristin König, Lasse Myhr, Hanna Plaß, Wiebke Puls, Hildegard Schmahl, Michael Tregor

Regie: Armin Petras

Kammerspiele Gesäubert / Gier / 4.48 Psychose von Sarah Kane


 


Requiem für Sarah Kane

Sarah Kane war eine große Begabung; sie war hypersensibel und sie war denkbar ungeeignet, in einer Welt, dessen Grundgesetz heißt: Survival of the Fittest, zu überleben. Mit 28 Jahren nahm sie sich das Leben, fast folgerichtig, möchte man meinen. Ihr Werk ist ebenso eine Anamnese der eigenen Leidensgeschichte, wie ein großartiges literarisches. Die eigene Anamnese fiel dabei so gänzlich anders aus, als die der Ärzte in den Psychiatrien, in denen Sarah Kane wegen Depressionen behandelt wurden. Sie konnte ihren Platz in einer Gesellschaft nicht finden, die ihresgleichen verachtete, wie sie im eigenen Werk immer wieder betonte. Dennoch war die Leidende nicht devot oder leise. Zwischen 1995 und 1999 schuf sie fünf Theaterstücke, die zu Lebzeiten Kanes europaweit gespielt und honoriert wurden. Dabei spielte gewiss auch die Tatsache eine große Rolle, dass ihr erstes Stück „Zerbombt“ (Royal Court Theatre) eine skandalöse Uraufführung erlebte.

Sarah Kane avancierte bereits mit ihrem ersten Stück zu einer wichtigen Vertreterin des „In-Yer-Face Theatre“. Salopp formuliert könnte man sagen, dass dieses Theater das Publikum beim Genick packt und es so lange schüttelt, bis es die Botschaft verstanden hat. Abgeleitet von „in your face“, aus dem amerikanischen Sportjournalismus der 70er Jahre hervorgegangen, definiert das New Oxford Englisch Dictionary diese Art des Theaters als „unverhohlen aggressiv oder provozierend, unmöglich zu ignorieren oder zu vermeiden“. Das Collins English Dictionary fügt dieser Definition noch das Adjektiv „konfrontativ“ hinzu. Dieses Theater will nicht nur frech und provozierend sein, es fordert darüber hinaus, Grenzen zu überschreiten. Das sollte jeder Theaterbesucher schon vorab wissen, wenn er vorhat, sich auf das Wagnis Sarah Kane einzulassen. Und das es ein Wagnis ist, bewies die Inszenierung der drei Dramen Kanes an den Münchner Kammerspielen unter der Federführung von Johan Simons.

Eva Veronica Borns Bühne für alle drei Dramen war dominiert von großen weißen Leuchten, oder besser Lichtsäulen, die gestaffelt aus dem Bühnenboden herabhingen und sich in den Zuschauerraum fortsetzten. Durch diese Anordnung der Leuchtkörper wurde der Zuschauerraum teilweise mitbeleuchtet, was zur Folge hatte, dass der Zuschauer sich nicht dauerhaft in der Dunkelheit zurückziehen konnte. Auf der Bühne ein paar Stühle. Mehr brauchte es auch nicht.

„Gesäubert“ erzählt, wie die anderen Stücke übrigens auch, von der Liebe. Ort der Handlung ist eine nicht endgültig definierte Institution, die einer Psychiatrie ähnelte. (In der Regieanweisung von S. Kane ist der Ort eine Universität.) Beherrscht wird diese Institution von Tinker (Psychiater, Folterer, Drogendealer). Die Insassen bilden Paare, einer ist in den anderen verliebt und Tinker testet diese Liebe vermittels Folter und Verstümmelung. Im Verlauf der Handlung verlieren sich die Personen, werden transzendiert, denn sie tragen die Gliedmaßen, Haut, Kleidung oder Genitalien des Geliebten. Die jeweiligen Körper für die Liebe sind Fehlbestzungen, funktionieren nur im Wunsch, nicht in der Realität. Die Selbstaufgabe geht einher mit dem Werden des Anderen, der sich jedoch auch nicht als lebensfähig entpuppt. Zerstörung allenthalben. Dahinter steht neben der gesellschaftlichen Erfahrung Sarah Kanes auch das eigene Scheitern in Beziehung und Liebe. In dieser Phase der Selbsterkundung weist sie dem eigenen Körper alle Schuld zu. In diesem Drama gibt es noch vergleichsweise viele deutliche Realitätsbezüge (Drogensucht, Selbstverstümmelungsrituale, psychischer und physischer Verfall), was naturgemäß in der Umsetzung drastische Bilder erzeugt. Johan Simons ersparte dem Publikum zwar weitestgehend platten Realismus, er entschärfte die schmerzhaften Vorgänge, die am Ende in einem langwierigen Zählen (bis 100) kulminierte, nicht. Die Folge (in der zweiten Vorstellung) war: Einige Besucher verließen, ihren Frust lautstark Ausdruck verleihend, den Zuschauerraum. Schade, bleibt da nur anzumerken, denn wer die drei Stunden und zwanzig Minuten aushielt, wurde belohnt.
 
  gesaubert  
 

Stefan Merki, Sachiko Hara, Annette Paulmann, Gertrud Schilde, Jörg Widmoser, Juan Sebastian Ruiz, Sandra Hüller, Nancy Sullivan, Jost-H.Hecker, Thomas Schmauser

© Julian Röder

 
 
„Gier“, das in der Entstehungsgeschichte vierte und auf „Gesäubert“ folgende Stück, ist qualitativ ein künstlerischer Quantensprung. Sarah Kane verzichtete darin auf eindeutige Identitäten, nannte die Figuren C., M., B., und A und ließ sie scheinbar ohne erkennbaren Zusammenhang sprechen. Die Adressaten, an die die Fragmente, Sprachbrocken, Gemeinplätze und auch Sottisen gerichtet sind, wechseln. Sprachlich erklomm Sarah Kane mit dieser Arbeite eine hohe Ebene starker Bildhaftigkeit und situativer Poesie. Neben autobiografischen Einlassungen (Figur A) finden sich auch Zitate aus Werken von Beckett, T.S. Eliot und Shakespeare. Die kommunikative Beziehungslosigkeit hinterlässt eine dekonstruierte Sprache, die sich in Sinnentleerung verliert. Alle Figuren streben gierig nach Erlösung. Dabei bleibt immer unentschieden, wodurch die Erlösung eintreten könnte. Die Liebe und der Tod bleiben legitime Alternativen. Am Ende der Inszenierung des Stückes an den Kammerspielen begann es zu regnen. Der Regen zerstörte die Lichtschächte, die tot und nass auf die Bühne fielen. Die Figuren suchten gemeinsam Schutz und drängten sich, Intimität suchend, aneinander. Trotzdem blieb jeder für sich allein. Schlüsselsatz dieses Stückes: „Warum kann keiner mit mir Liebe machen, so wie ich geliebt werden will?“

„4.48 Psychose“ war das letzte Stück aus der Feder der todgeweihten Autorin. Der Titel bezeichnet den Moment der größtmöglichen Klarheit, der eintrat, als Sarah Kane jeden Morgen um 4.48 Uhr im Hospital erwachte, und unbeeinflusst von ruhigstellenden Medikamenten war. Was sie in Monologen, Wortreihen, Zahlenketten und Dialogen offenbarte, beschreibt zum Einen den Zustand geistiger Ungetrübtheit, zum Anderen aber auch den Zustand höchster Wahnhaftigkeit. Dabei entsteht das tragische Bild einer Person, nämlich Sarah Kanes selbst, die in einem Netz der „Ordnung“, das von Ärzten geknüpft worden war, gefangen ist. Sie fordert sinngemäß, dass man ihr nicht die Fähigkeit zum Empfinden und Denken nehmen möge, indem man sie „heilt“. Depression ist für sie in diesem Augenblick keine Krankheit, sondern ein legitimer Seinszustand. Das erschütternde an diesem Stück ist die erkennbare Klarheit im Resümee der Autorin bezüglich ihrer eigenen Ausweglosigkeit. Dem Zuschauer in den Kammerspielen wurde ein direkter Einblick in die Psyche einer Frau und Künstlerin gewährt, die zu ihren unumstößlichen und letzten Wahrheiten gelangt war. Johan Simons ließ die Texte größtenteils von einem großartigen Thomas Schmauser sprechen/lesen. Unterlegt wurde die hochverdichtete und poetische Sprache durch die Musik von Carl Oesterhelt, die live von einem aus sechs MusikerInnen bestehenden Orchester eingespielt wurde. Die Wirkung war frappierend, ja, erschütternd. Der Zuschauer erlebte den bewussten Abschied eines Menschen aus dem Leben und Johann Simons machte daraus ein faszinierendes Requiem für die Dichterin.

War Sarah Kane Nihilistin? Sie selbst sah sich anders: „Wahrscheinlich sind alle meine Figuren auf die eine oder andere Art hemmungslos romantisch. Ich glaube, dass Nihilismus die extremste Form von Romantik ist. Und wahrscheinlich ist es dieser Punkt, an dem meine Stücke missverstanden werden. Ich fürchte, ich bin eine hoffnungslose Romantikerin.“ Aber egal, wie sie jeder für sich nach der Lektüre ihrer Werke einzuordnen wird, sie ist der Aufschrei, der nicht überhört werden kann. Leider hat bereits die emotionale Vermarktung begonnen und Sarah Kane ist zu einer Ikone der Nekrophilie geworden, deren Reiz insbesondere darin besteht, dass ihr Tod sich wie ein zauberhafter Schatten über ihre Stücke gelegt hat. Die Inszenierung von Johan Simons wehrt sich gegen solche Tendenzen, bleibt ideologiefrei.

Die Inszenierung polarisiert. Wenn sie am Ende positive Einhelligkeit im Publikum schaffen kann, liegt das nicht zuletzt an der herausragenden Leistung aller Schauspieler, für die die Darstellung ein Gradwanderung gewesen sein muss. Wie schwer und wie gefährlich muss es sein, sich emotional auf diese Texte einzulassen. Das sollte im Publikum vielleicht bedacht werden, ehe man lautstark verkündet, dass man glaubt, vorsätzlich „verarscht“ (Pardon, Zitat mehrer Zuschauer) zu werden. Da fragt man sich doch, woher nehmen einige Theatergänger den Mut zu derartigen Unterstellungen? Zugegeben, vielleicht war der ganze Abend über fast drei und einer halben Stunde eine Überdosis Sarah Kane, und vielleicht waren einige Bilder zu drastisch für manchen Geschmack, doch sollte auch hier nicht vergessen werden, dass es sich um Kunstwerke handelt, die aus der Realität inspiriert waren, einer Realität, vor der wir allzu gern die Augen verschließen, weil es schmerzt. Sarah Kane hat nichts anderes getan, als diesem Schmerz eine Stimme zu verleihen.

 
Wolf Banitzki

 


Gesäubert / Gier / 4.48 Psychose

von Sarah Kane

Marc Benjamin, Stefan Hunstein, Sandra Hüller, Sylvana Krappatsch, Stefan Merki, Annette Paulmann, Thomas Schmauser


Regie: Johan Simons

Kammerspiele Wassa von Maxim Gorki


 

 

Musealer Exkurs

In kaum einem Land der Welt waren die sozialen Widersprüche so ausgeprägt, so quälend, wie im vorrevolutionären Russland. So darf es nicht verwundern, dass es einem Mann wie W.I. Uljanow, genannt Lenin, gelang, eine proletarische Revolution zu entfesseln, obgleich es kaum ein Proletariat gab. Das dumpfe Zarenregime hatte bis in das späte 19. Jahrhundert hinein feudalistische Verhältnisse konserviert, die die gesellschaftlichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten nicht einmal ansatzweise befriedigten konnten. In diese Verhältnisse hinein, wurde Aleksej Maksimovic Peskov als Sohn eines Leibeigenen, eines Wolga-Treidlers geboren. Er wuchs in Nischnij-Nowgorod unter Industrie- und Hafenarbeiter, unter ehemaligen Sibirien-Sträflingen, aber auch unter revolutionären Studenten und marxistischen Verschwörern auf. Bereits zehnjährig musste er für seinen eigenen Unterhalt sorgen.

Er war ein überaus intelligenter junger Mann, der noch mehr, als unter den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter der eigenen Unwissenheit litt. Eine höhere Ausbildung war ihm unerschwinglich und so schoss er sich neunzehnjährig voller Verzweifelung eine Kugel in die Brust. Er überlebte, legte aber mit der Verletzung den Grundstein für seine Tuberkuloseerkrankung. Bald schon begann der junge Mann zu schreiben und legte sich den Namen Gorki, der Bittere, zu. Inhalt seiner anfänglich noch recht dilettantischen Texte war die kompromisslose Spiegelung der unmenschlichen Verhältnisse. Er lernte sie auf seinen Wanderungen durch das russische Reich aus eigener Anschauung kennen. Auf die Bühne kam als erstes die Romanadaption „Fomá Gordéjew“, die im Jahr 1901 auf zahlreichen Theatern gespielt wurde. Mit seinem ersten Drama „Kleinbürger“ (1901) bereitete Gorki seinen Ruhm vor. Der Durchbruch gelang ihm 1902 mit „Nachtasyl“ am Moskauer Künstlertheater. Regisseur war kein Geringerer als Stanislawski.

Gorki avancierte zum literarischen Prediger der Revolution, wurde gegen seinen Willen zur Ikone des sowjetischen „Sozialistischen Realismus“ und entschied für sich selbst, dass er mit dieser, seiner Literatur die „Froschpoesie von Impotenten“ herausgefordert hatte. Er selbst hatte es vorgezogen, im Ausland zu leben. 1928 kehrte er schließlich als gefeierte Dichter und scheinbar unantastbar nach Russland zurück. Als 1936 die stalinistischen Schauprozesse begannen, er selbst um sein Leben fürchten musste, wurde ihm ein Ausreisevisum verweigert. Am 18. Juni 1936 starb der Dichter an den Folgen einer Lungenentzündung. Stalin ließ es sich gemeinsam mit Molotow nicht nehmen, die Urne des bedeutenden Dichters der Revolution eigenhändig zur letzten Ruhestätte, der Kremlmauer, zu tragen.

Das Drama „Wassa“ entstand in der Folge der gescheiterten Revolution von 1905, an der Gorki im sozialdemokratischen Lager teilgenommen hatte. Er wurde nach der Niederschlagung inhaftiert. Als er auf Kaution freikam, floh er nach Deutschland, wo ihm zu Ehren von Max Reinhardt eine triumphale Sondervorstellung von „Nachtasyl“ gegeben wurde. „Wassa“ ist die kompromisslos-böse Abrechnung Gorkis mit der russischen Gesellschaft nach der fehlgeschlagenen Revolution. Das Drama atmet lyrisch lang die Melancholie des Untergangs, wie wir es von Tschechow und Ostrowski kennen, und dekuvriert dabei nicht nur die menschenverachtenden Züge der halbfeudalistischen Ökonomie, sondern auch die grenzenlose moralische Verwahrlosung ihrer Protagonisten. Allen voran Wassa Schelesnowa, deren Mann, der Ernährer der Familie, im Sterben liegt. Sie leitet die Geschicke der Reederei schon seit Jahren, da das Familienoberhaupt dem Suff und einer wüsten Lebensart verfallen ist. In Gorkis Werk hatte das Familienoberhaupt eine Minderjährige vergewaltigt. Als sich die Gerichte nicht bestechen lassen, empfiehlt sie dem Gatten Selbstmord. Der lehnt ab, stirbt aber dann doch sehr überraschend. Diese Hintergründe erfährt der Zuschauer in der Spielhalle der Kammerspiele allerdings nicht. Ebenso wenig erfährt der Theaterbesucher etwas von Rachel, einer Schwiegertochter, deren revolutionärer Geist das positive Pendant zur skrupellosen Hausherrin darstellt. Gorki hatte sie im Jahr 1935 im Stück installiert. Regisseur Alvis Hermanis bevorzugte die ursprüngliche Fassung. Darin will die resolute Wassa dem unaufhaltsamen Verfall der Verhältnisse zumindest in der eigenen Familie in den Arm fallen. Das Familienvermögen muss zusammengehalten werden. Eine revolutionäre Dimension hat diese Fassung nicht.

Wassa, von einer kantigen, durchaus mütterlichen, aber auch brutal agierenden Elsie de Brauw gestaltet, erkannte in ihrer Brut keinen legitimen und fähigen Nachfolger. Sohn Pawel ist verwachsen, larmoyant und von seiner Ehefrau gehörnt. Benny Claessens brachte zwar die Behinderung zum Ausdruck, von seinen inneren Kämpfen, oder sollte man besser Krämpfen sagen, blieb vieles hinter der blonden Perücke und der körperlichen Fülle verborgen. Katja Herbers hingegen bestach als nüchterne, beobachtende und schließlich eindeutig und kompromisslos für Wassa Partei ergreifende Tochter Anna. Ebenso überzeugen konnte Çigdem Teke als Schwiegertochter Natalja, die glaubhaft und nicht unkomisch Verwirrung und Entsetzen spielte, angesichts von Mord und Totschlag. Als Ehemann Semjon, weichlich und ohne Entschlusskraft, aber ansatzweise mit den wüsten sexuellen Begierden des Vaters ausgestattet, schwamm Oliver Mallison auf der Welle des Opportunismus mit. Brigitte Hobmeier hatte ihren großen Auftritt während der Ermordung Prochor Shelesnows. Alle Abgründigkeit dieser Szene spiegelte sich in ihrem Gesicht. Der von Stephan Bissmeier gespielte Onkel schien die letzte Hürde zu sein, die Wassa nehmen musste, um den Bestand des Familienvermögens zu sichern. Diese Szene war zugleich auch der Showdown der Geschichte, auf die alles mit der Behäbigkeit eines Echtzeitspiels hinsteuerte. Als Wassa dann unerwartet von einer Herzattacke heimgesucht wurde, war klar, dass alles Bemühen untauglich gewesen war. Der Verfall, innerlich längst besiegelt, nahm Gestalt an.

Kristine Jurjane hatte für das Spiel eine Bühne gebaut, die ein detailgetreues Abbild eines russischen Großbürgerhauses war. Abgerundet wurde das Bild durch realistische Kostüme der Wendezeit des 19. zum 20. Jahrhundert. Der Anblick verblüffte nicht nur wegen der Detailtreue, sondern auch wegen der Opulenz. Auf nichts wurde bei der Ausstattung verzichtet. Der erste Eindruck, den man gewann, suggerierte: Hier erlebt das Theater Stanislawskis eine Wiederauferstehung. Selbst der Spielduktus, in jeder Hinsicht einem konsequenten Realismus verschrieben, ließ die Illusion entstehen, man erlebe eine Uraufführung.

Regisseur Alvis Hermanis vermied es, dieses historische Bild durch die Spielweise der Darsteller zu brechen. Dabei ging es dem Regisseur gar nicht darum, die Wirkungsweise des kathartischen bürgerlichen Theaters a la Stanislawski oder Reinhardt wieder zu erwecken. Vielmehr zog er sich auf diese historisierende Sicht zurück, um das Lebensgefühl einer untergehenden, und dabei um sich schlagenden Schicht fühl- und sichtbar zu machen. So war der Versuch, die Figuren Gorkis und seiner ganz konkreten Zeit in ihrer Vielschichtigkeit auferstehen zu lassen, gleichsam ein musealer Exkurs in die Theatergeschichte. Bürgerliche Lebensweisen und ihre Rituale wurden zelebriert. Ankleiden, Aufräumen, Betten machen, Tisch decken, Speisen auftragen, Essen, Blumen gießen etc. wurden in Echtzeit, ungekürzt und nicht verknappt, gespielt. Mehr Realismus war nicht möglich. Echte Tauben taten für die Atmosphäre das Ihrige. Hermanis gelang, was er selbst als Ziel definiert hatte. Die banalen Vorgänge, die sich vor den Konflikten bildhaft gruppierten, verstärkten dieselben, unterstrichen ihre existenzielle Bedeutung. Bleibt abschließend die Frage, warum dieses Stück gespielt hier und heute wurde.

Die Aktualität liegt auf der Hand. Der Markt bestimmt die Methoden. Das Kapital duldet kein Mitgefühl, es frisst die Herzen der Menschen ebenso wie deren Besitz. Darin liegt eigentlich die Aktualität des Werkes von Gorki begründet. In der Inszenierung von Alvis Hermanis, die durch ihre detailverliebte, fast fotorealistische Umsetzung verblüffte, wurde auf eine deutliche ästhetische und letztlich auch inhaltliche Neudeutung verzichtet. Es war interessant anzuschauen, wie Gorki und seinen Theaterzeitgenossen ein Museum errichtet wurde, in das man beeindruckt hineinschaute und dachte: Aha, so war das damals…


 
Wolf Banitzki

 

 


Wassa

von Maxim Gorki

Stephan Bissmeier, Peter Brombacher, Benny Claessens, Elsie de Brauw, Katja Herbers, Brigitte Hobmeier, Angelika Krautzberger, Oliver Mallison, Clara-Marie Pazzini, Çigdem Teke

Regie: Alvis Hermanis

Kammerspiele Atropa von Tom Lanoye


 

 

Plädoyer gegen Krieg und seine Macher

Atropos war die älteste Schwester der drei Schicksalsgöttinnen. Sie war die Zerstörerin, die den Schicksalsfaden, den die Schwester Klotho gesponnen und den die Schwester Lachesis bemessen hatte, durchtrennen musste. Das war ihre Aufgabe. Nun gab es in der Geschichte der Menschheit immer wieder Personen, die diese schicksalhafte Rolle für sich reklamierten. Es waren zumeist Menschen, die zu Narzissmus neigten, mittelmäßig oder sehr einseitig begabt und darum nicht in der Lage waren, sich durch besondere Fähigkeiten oder Fertigkeiten Anerkennung zu verschaffen. In diese Kategorie fallen beinahe alle Diktatoren und Potentaten. Diese Menschen haben allerdings alle eines gemein, den Willen zur Macht. Die mythische Figur des Agamemnon war ein solcher Mensch. Seine mangelnden intellektuellen Fähigkeiten ließ er sich durch Odysseus ersetzen, seine kriegerischen durch Helden wie Achilles. So konnte er letztlich als bedeutender Herrscher durch die Mythologie wandeln, denn so unersetzlich seine Eingeweideleser und Vollstrecker auch waren, die Entscheidungsgewalt gab er nie aus der Hand.

Dabei vereinte Agamemnon alle denkbaren Untugenden auf sich. Er war machtbesessen, gierig, eitel, skrupellos und gefühlskalt. So stellt sich seine Person zumindest in der Literatur dar, und nichts anderes ist die Mythologie. Doch mythologische Figuren haben ihren Ursprung in der Realität. Und sie sind literaturtauglich, solange sie ihre Entsprechung in der Realität finden. Wie grandios ist ein Werk, das beinahe dreitausend Jahre lang den Beweis erbringen kann, dass es wahrhaftig ist? Wie entsetzlich ist es hingegen, dass die Menschheit seit beinahe dreitausend Jahre Bescheid weiß (wissen kann) und sie nichts daraus lernt? Tom Lanoye erzählte die Geschichte des Agamemnon und seines trojanischen Krieges aus zwei Perspektiven, der des Kriegstreibers und der der Opfer. Er tut das auf so konsequente und intelligente Weise, dass wir den trojanischen Krieg getrost beiseite lassen und uns auf die aktuellen Kriege besinnen können. Traurig aber wahr, es gibt keinen Unterschied.

Tom Lanoye bedient sich einer Sprache, die an die großen Tragödiendichter (Aischylos, Sophokles und Euripides) erinnert. Er lässt die Schönheit der antiken Dramensprache auferstehen und schafft es gleichsam, den Zuschauer durch grandiose Brüche auf den Boden der (heutigen) Realität zurück zu bringen. Plötzlich hört man durch die Figur des Agamemnon alle Potentaten (zu denen auch die Oberhäupter vermeintlicher Demokratien gehören) der Neuzeit sprechen. Tagtäglich melden sie sich zu Worte und ihre Machtrhetorik stößt kaum mehr auf Widerspruch. Gleichsam bekommen durch die Klage  Klytämnestras, Helenas, Hekabes, Andromaches und Kassandras die Opfer aller Kriege eine Stimme. Lanoye manipuliert nicht, er wählt nicht einmal manipulativ aus, sondern er gibt in entlarvender Weise wieder, was in der „Staatskunst“ zu tradierten Floskeln gerann, was seit Anbeginn die großen Verführungslügen sind. Wenn Politiker Metaphern benutzen, dann sind sie völlig ratlos. Wenn Politiker sich in die emotionale Begrifflichkeit des Schicksalhaften versteigen, dann ist Gefahr in Verzug. Tom Lanoyes dramatischer Entwurf ist ein grandioses Antikriegsstück, dessen Wahrheiten so einfach sind, dass man am erstaunten Lachen zu ersticken droht.

Stephan Kimmig brachte fast auf den Tag vor drei Jahren Lanoyes „Mamma Medea“ auf die Bühne der Münchner Kammerspiele. Bereits mit dieser Arbeit erbrachte er den Beweis, dass er sowohl mit Texten Lanoyes als auch mit den Themen der Antike hervorragend umgehen kann. Selbst die Entscheidung, Steven Scharf mit der Hauptrolle (Jason/Agamemnon) zu besetzen, zeugt von ausgezeichnetem Instinkt. Bühnenbildnerin Katja Haß, auch sie war am Erfolg von „Mamma Medea“ beteiligt, entwarf einen groben Bunkerbau, dessen weiße Tore wehrhaft wie genietete Stahlplatten wirkten. Einzig ein umlaufendes ornamentales Band erinnerte an das antike Griechenland. Das Spiel begann auf der Vorderbühne. Katja Bürkle gab eine erwartungsvolle Iphigenie, tanzte ausgelassen und angestrengt mit zwei Fahnen, als bereitete sie sich auf einem Wettkampf in sportlicher Gymnastik vor. Die Heirat mit Achilles stand ins Haus und ihr Überschäumen war Ausdruck der freudigen Erregung. Wiebke Puls trat als wissende Klytemnästra auf, vom ersten Augenblick an von einem mütterlichen Entsetzen gezeichnet, dass sie bis zum Ende des Dramas nicht mehr ablegte. Die Tochter sollte geopfert werden, damit der griechischen Flotte unter Agamemnon, Vater Iphigenies, endlich Wind beschieden sei. Steven Scharf, ein Darsteller, der aufgrund seiner physischen Erscheinung und seiner Stimmgewalt den zu groß geratenen, naiven Knaben ebenso geben kann wie den martialischen Bösewicht, verteidigte in der Rolle des Agamemnon die Unausweichlichkeit des Opfers. Er war an diesem Abend der Protagonist der Lüge und des Verrats, und er war großartig darin.

Der Grundtenor der Inszenierung war hochdramatisch und tragisch. Sämtliche Darsteller spielten mit enormem Einsatz und erhitzten das Thema bis zur Unerträglichkeit. Stephan Kimmig behandelte das Sujet blutig. Es wurde zwar kein Blut verspritzt, aber es trat anstelle der Kleidung von Mördern und Opfern. Kimmig gelang ein antikes Drama in modernstem Gewand. Walter Hess gab einen Namenlosen, der, wie der antike Chor, die Geschichte sprachgewaltig und eindringlich erzählte und kommentierte. Gundi Ellerts Hekabe und Katharina Hackhausens Andromache waren Monumente der Anklage, archetypische Opfer, und bei alledem sehr menschlich. Anna Maria Sturm gab eine Helena, der endlich einmal eine eigene Persönlichkeit zugestanden wurden. In den großen Tragödien war sie zumeist Spielball. Bei Lanoye/Kimmig wurde erstmals auffällig, dass es sich hier ebenfalls um eine menschliche Figur mit einem ureigenen Gefühlsspektrum  und Anschauungen handelte.

Tom Lanoye wich in seinem Werk vom Mythos ab. Doch tat er es nicht, um einen spannenderen Plot zu entwickeln, sondern einen höheren Grad an Authentizität zu erreichen. Die Inszenierung von Stephan Kimmig ging weit über das hinaus, was man schlechthin als Diskussionsangebot bezeichnet. Es war eine Anklage, die in ihrem Plädoyer schlüssig war und dabei kompromisslos. Dass dieser Grad an künstlerischer Meisterschaft erreicht wurde, hängt ohne Zweifel damit zusammen, dass sowohl der Autor als auch der Regisseur noch deutliche Haltungen haben und die Kunst als ein Vehikel sehen, diese Anschauungen zu transportieren. Nun könnte man meinen, jeder Potentat versucht mit seiner Rhetorik dasselbe. Einen entscheidenden Unterschied gibt es allerdings: Dieser Abend war der Wahrheit geschuldet. Es war ein Plädoyer gegen den Krieg und seine Macher, wie man es selten zu sehen bekommt.

 
Wolf Banitzki

 

 


ATROPA. DIE RACHE DES FRIEDENS. DER FALL TROJAS

von Tom Lanoye

Florian Burgkart, Katja Bürkle, Gundi Ellert, Johannes Geller, Katharina Hackhausen, Walter Hess, Wiebke Puls, Steven Scharf, Anna Maria Sturm

Regie: Stephan Kimmig
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