Residenztheater Lehman Brothers. von Stefano Massini


 

Sehenswert

Lehman Brothers. Das Stück erzählt die Lebensgeschichte der drei, aus dem bayerischen Rimpach stammenden Brüder Henry, Emanuel und Mayer Lehmann. Ihre Erlebnisse und Entscheidungen bilden den roten Faden durch das Werk, das zwischen Film und Erzählung changierend, auch als geschichtlich informativer Rückblick auf die Entwicklung des Geldverkehrs verstanden werden kann. Vom mittellosen Einwanderer über den Tuchhändler in Montgomery/Alabama, bis zum Finanzier vom Hollywoodstreifen werden die Protagonisten und die Zeit und eines American Dream aufbereitet.

Stefano Massini, Jahrgang 1975, gilt als wichtigster Autor des italienischen Theaters. Sein Opus „Lehmann Brothers.“ wurde mittlerweile auf vielen deutschen Bühnen aufgeführt und mit großem Beifall gefeiert. Nach jahrelanger akribischer Recherche schuf er seine Vision von real überlieferten Ereignissen und durchtränkte die Situationen mit Vorstellungen und psychologischen Beschreibungen. Übergangslos springt der Text von Aussage zu Aussage, von Schauspieler zu Schauspieler, poetische Sprache im wirtschaftlichen Kontext und doch kein Satz, der in Erinnerung bleiben wird. Im Programmheft erklärte er u.a. sein Anliegen: „... Das Stück folgt dem Rhythmus des Theaters und bezieht das Publikum mit ein.“  Das ist zweifelsohne gelungen. Doch was löst Bewegung per se aus?

Regisseur Marius von Mayenburgs gestaltete die Inszenierung überaus opulent. Die große Bühne des Residenztheaters in München konnte dem Stück und dem Inhalt den entsprechenden Raum bieten. In der rechten vorderen Ecke stand eine Sitzgruppe in welcher sich die Schauspieler zum Einstieg trafen. „Business as usual“ vermittelte die Szene und startete mit: „Super.“ ... „Super.“ ... „Toll dass du da bist.“ ...

Die Phrase, mehr oder weniger gehaltvoll oder abgenutzt, beherrscht die Kommunikation. Die Luft in Besprechungsräumen ist ebenso voll mit ihnen, wie die sozialen Medien. Sie gleichen Billigprodukten, die Wortbilder in entwerteter Masse. Man verhält sich, als wäre kultivierte reichhaltige Sprache unerwünscht geworden, oder einfach der allgemeinen Eile wegen auf der Strecke geblieben. Auch die Theaterbühne eroberten die Worthülsen.

Vom Titel des Songs „I have a dream“ berauscht, erfolgte im 20. Jahrhundert zunehmend die Abkoppelung des Geldes von der Realwirtschaft, und verband sich mit der Idee der Konsumfinanzierung und der Tradingabteilung einer Bank. Hier kreierte man eine neue Dimension des Geldwesens. Wertschöpfung jenseits des bereits erfahrenen. Und das versprach, verspricht allemal Spannung. Das Fieber grassiert weiter uneingeschränkt im Digitalen. Und doch ist es nicht mehr und nicht weniger als Handel nach urgeschichtlichem Muster, inklusive Feilschen und Abkassieren. Lukas Turtur stand als Moderator neben dem roten Startknopf an der Rampe, allein im Scheinwerferlicht überzeugte er, fabelhaft.

Nicht minder fabelhaft waren die Leistungen der anderen Darsteller. Allein die Bewältigung und der Vortrag der enormen Menge von Text (250 Seiten Skript), der oft unzusammenhängend von Figur zu Figur sprunghaft wechselte, war außergewöhnlich. Schwarmerzählung – so könnte die dafür passende Bezeichnung lauten. Diese Herausforderung von ‚Theater anders‘ meisterten sie ebenso souverän, wie die Präsenz, die es brauchte, die Aufmerksamkeit immer wieder zu fokusieren und mit verspielten witzigen Einlagen den Zuschauern ein Lächeln zu entlocken.

Eine überdimensionale Leinwand nahm den Hintergrund der Bühne ein. Der Zeit und der Geschichte entsprechend gab sie die Bilder des Hafens von New York, der Baumwollfelder Alabamas und der im Börsencrash in sich zusammenstürzenden Skyline um die Wall Street wieder. Die Zusammenarbeit von Nina Wetzel (Bühne und Kostüme) und Sébastien Dupouey (Video) war uneingeschränkt sehenswert. Grandiose Bilder – ein künstlerisch ausgefeilter, vielfältig überzeugender Materialeinsatz – beherrschten die Spielfläche von der ersten bis zur letzten Minute.

  Lehmanbrothers  

 

 

Michele Cuciuffo, Lukas Turtur, Philip Dechamps, Katrin Röver, Thomas Gräßle

 © Andreas Pohlmann

 

So wie der Glaube an einen Gott vollzogen wird, so wird der Glaube an die Macht des Geldes vollzogen. Absolutistisch. Das Gefühl von Macht und Ohnmacht beherrscht das Geschehen – das körperliche des Einzelnen, das Gemenge in der Gemeinschaft. Der Tanz um das Goldene Kalb (zeitgemäß auf der Leinwand die überdimensionale Goldene Puppe als Inbegriff von Luxus) wurde bereits vor über tausenden Jahren thematisch festgehalten, interpretiert und doch gerät die Geschichte immer wieder in Vergessenheit, ist Mensch unfähig sich davon zu befreien und bedient unterwürfig diverse Mechanismen.

Ein Werk, eine Geschichte und die Konsequenzen von Handlungen klingen wie ein spannendes Abenteuer. Wenn diese Szenenfolge jedoch keine dialektische Auseinandersetzung ist, so wird daraus zu leicht ein Selbstbestätigungsritual, das einer geistigen Einbahnstraße, einer Unterwerfung gleichkommt. Entwicklung findet kaum statt, meist erfolgt Rückfall in uralte Tradition bzw. Anschauung, wie es am Ende des Stücks über das jüdische Totenritual demonstriert wurde. Ob Rückschritt Fortschritt in anderer Weise zulässt, oder lediglich Obskurantismus befördert, bleibt als Frage im Raum. Schließlich spiegelte das Bühnengeschehen die aktuelle Gesellschaftssituation.  

Die Inszenierung von Marius von Mayenburg war eine erschreckend schöne. Mit diesen Attributen zog sie die Zuschauer unmittelbar in Bann und vermittelte dem Zeitgeist entsprechendes Miterleben, wie es in den sozialen Netzwerken praktiziert wird. Die morphe Struktur des Werkes bot zahllose Anknüpfungspunkte für Sinne und Denkstrukturen, berauschte geradezu mit einem vorgeführten unübersichtlichen Reichtum. Davon zeugte der begeisterte Applaus des Premierenpublikums!

C.M.Meier




Lehman Brothers. Aufstieg und Fall einer Dynastie

von Stefano Massini

Katrin Röver, Michele Cuciuffo, Philip Dechamps, Gunther Eckes, Thomas Gräßle, Lukas Turtur

Regie: Marius von Mayenburg

Residenz Theater Iwanow von Anton Tschechow


 

Agonie und Tod

Alle Stücke von Anton Tschechow sind Komödien? Bei „Iwanow“ drängen sich ernsthafte Zweifel auf. Vieles ist in diesem Stück anders als bei den übrigen, ernsthafter, existenzieller. Während in den anderen Dramen die erschöpfte dekadente Gesellschaft das Paradies verliert und weiterzieht, manchmal ins Elend, zumeist aber doch in andere dekadente Paradiese, geht Iwanow in den Tod, und zwar ohne zu zögern und unvermittelt. Die knappe Einsicht, die seinem Suizid voran geht, ist keine tiefschürfende Erklärung der Sinnlosigkeit seiner Existenz. Es trifft Iwanow, der eben noch heiraten wollte, wie ein Blitzstrahl: „Lange genug bin ich auf der schiefen Ebene abwärts geglitten, jetzt halt! Man muss wissen, wann man abzutreten hat!“ Iwanow wendet sich ab und erschießt sich.

Bis zu diesem Punkt ist sein Leben geprägt vom Versagen. Er hatte große Pläne, ähnlich wie Oblomow (1859 erschienener Roman von Iwan Gontscharow), doch hat er wie dieser nur darüber geredet, bis das Leben den Punkt setzte. Er hat seine Liebe zu Anna Petrowna verloren, die seinetwegen den Kontakt zu ihren Eltern aufgeben musste und die während der Handlung der Schwindsucht erlag. Er kann seine Schulden nicht bezahlen und er macht der zwanzigjährigen Sascha Hoffnung auf ein erfülltes gemeinsames Leben. Doch unmittelbar vor der Eheschließung ereilt Iwanow die Einsicht und er macht sich davon und aus dem Leben. Der Weg dahin wird begleitet von Müßiggängern und Schmarotzern, die ein ebenso sinnentleertes Leben führen wie Iwanow. Allein, sie haben es sich darin behaglich gemacht. Einziger Reizpunkt ist das Geld, Geld, das man nicht hat, das man verdienen möchte, das man anderen schuldet oder das man von Schuldnern zu bekommen hat. Wann immer Bewegung ins Geschehen kommt, ist zumeist Geld oder die Aussicht darauf der Auslöser.

Nun könnte man Iwanow einen schwachen Menschen nennen, der unter seiner Umgebung litt und der keinen Ausweg fand. Damit würde man Iwanow die Verantwortungslosigkeit sich selbst gegenüber verzeihen. Das wäre dann doch zu viel des Mitgefühls. Iwanow ist am Ende ein hartherziger, liebloser und egomanischer Mensch, der den einzigen Ausweg nimmt, zu dem er noch imstande ist. Es braucht unter derartigen Umständen keinen Mut, sich das Leben zu nehmen, sondern viel Mut bräuchte es, das Leben zu leben. Auch findet sich im ganzen Stück keine Figur, die man als Hoffnungsträger bezeichnen könnte, keinen Utopisten, keinen Umweltschützer oder einen gesunden Menschen, der aufsteht und an die Arbeit geht, wie es die „Drei Schwestern“ tun. Iwanow ist ein illusionsloses Drama, das sich darauf beschränkt eine scheintote Gesellschaft zu beschreiben.

  Iwanow  
 

Sophie von Kessel, Thomas Loibl

© Matthias Horn

 

Martin Kušejs Inszenierung war karg ausgestattet, hatte zwei Spielorte, die identisch sein könnten, wäre Iwanows Wohnsitz nicht vom Verfall gezeichnet. Die Wände waren grauschimmelig und auf den etwa zwanzig Stühlen und dem Boden hat sich Sand angesammelt, als wäre eine Düne hindurch gewandert. Das Gut Lebedews, dessen Tochter Sascha das Objekt Iwanows Begierde ist, war baugleich, allerdings rein, intakt und sauber. (Bühne Annette Murschetz) Wenn überhaupt eine Figur sympatisch war, dann die Lebedews, von Oliver Nägele als ein von den Umständen gehetzter und dabei doch zu Empathie und tiefer Liebe zu seiner Tochter fähiger Familienvater gegeben. An seiner Seite eine megärenhafte Juliane Köhler, deren ausschließliches Interesse auf das Geld reduziert zu sein schien, das sie bewahren wollte vor der Großzügigkeit ihres Mannes oder das ihr Iwanow schuldete. Iwanow als unsympathisch und abstoßend zu empfinden, fiel schwer, denn Thomas Loibl verkauft diese Figur als so gejagt und von den Umständen tyrannisiert, dass Mitleid wider die Vernunft kaum ausbleiben konnte. Zwischendrin irrlichtert Genija Rykovas Sascha, ein bezauberndes und unbedarftes Mädchen, das sich bestens für das Opfer eignet.

Und natürlich gab es auch in diesem Figurenensemble die lächerlichen und komischen Menschen, die Tschechows Dramen so unwiderstehlich machen. So gestaltete René Dumont einen lächerlichen Matwej Semjonowitsch Schabjelski in Unterhosen, Onkel von Iwanow mütterlicherseits, der stets mit seinen Skrupeln kämpfte, den Grafentitel gegen eine gute Mitgift zu tauschen. Paul Wolff-Plottegg spielte den Steuereintreiber Dmitri Nikititsch Kosich, dessen ganzer Part darin bestand, gebetsmühlenartig über ein Kartenspiel zu jammern. Hanna Scheibes reiche Jungwitwe Marfa Jegorowna Babakina im push-up-Kostüm war beängstigend überdimensionierte Weiblichkeit, etwas, was Ulrike Willenbachers alte Awdotja Nasarowna (mit undefinierbarem Beruf – Tschechow) nie gehabt zu haben schien. Alfred Kleinheinzs Dienerrollen Gawrila und Piotr grenzten fast schon an Kabarettnummer, wirkungsvoll eingestreut. Einen echten Kontrast zu diesen Figuren waren der Arzt Jewgeni Konstantinowitsch Lwow, von Till Firit mit echter Sorge und ernster Anteilnahme ausgestattet, und Marcel Heupermans Michail Michailowitsch Borkin dessen zumeist unlautere Ideen, wie man an Geld kommen könnte, die Agonie aufrührte wie einen dicken Brei.

Agonie war auch das Schlüsselwort für das Verständnis von Martin Kušejs Inszenierung. Vielleicht sollte man den Tod noch ins Spiel bringen, denn manchmal ließ sich schwer unterscheiden ob es noch Agonie oder schon Tod war. Martin Kušej legte es darauf an, beide Komponenten der menschlichen Existenz so nah wie möglich aneinander zu rücken. Das führte dazu, dass Sprach- und Spiellosigkeit nicht selten das Zepter zufiel. Dann passierte im wahrsten Sinne des Wortes nichts, lange, sehr lange nichts. Die ganze Vorstellung dauert immerhin drei Stunden und zwanzig Minuten. Das Nichts, oder besser der Ausdruck des Nichts, wurde in der Premiere gelegentlich durch das Publikum lautstark beanstandet, denn die wenigen Sätze, die noch gesprochen wurden, erreichten die Ohren der Zuschauer kaum. Selbst als der Ruf ertönte: „Geht’s noch leiser?“ trat Marcel Heuperman den Beweis an. Es ging noch leiser. So sehr die Empörung im Publikum auch brodelte, war es doch eine radikale künstlerische Idee, die Martin Kušej ästhetisch schlüssig und konsequent umgesetzt hat. Und irgendwie wurde das Publikum durch den Schluss, in dem plötzlich so viel Bewegung aufkam, dass die scheintoten Figuren gerade einmal zu offenen Mündern fähig waren, versöhnt. Der Applaus war mehr als lebhaft. Zu Recht, denn diese Iwanow-Inszenierung hatte couragierte Ansätze, die nicht in Halbherzigkeit versandeten wie das Leben Iwanows, sondern die die Qualen gnadenlos über die Rampe ins Publikum brachten und sie spürbar werden ließen. Ja, Theater kann auch weh tun und es macht trotzdem Sinn. Es gab einmal eine Zeit, da hatte der Theatergänger sein Reclam-Heftchen vorab gelesen und wusste, was geschehen würde. Dergestalt präpariert konnte man sich auf die Ästhetik konzentrieren und musste nicht fürchten, die Handlung nicht zu verstehen.

Wolf Banitzki

 


Iwanow

von Anton Tschechow

Thomas Loibl, Sophie von Kessel, René Dumont, Oliver Nägele, Juliane Köhler, Genija Rykova, Till Firit, Hanna Scheibe, Paul Wolff-Plottegg, Marcel Heuperman, Ulrike Willenbacher, Arnulf Schumacher, Alfred Kleinheinz, Max Koch, Jeff Wilbusch, Pauline Fusban

Regie: Martin Kušej

Residenztheater Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg nach Jaroslav Hašek


 

Švejk trinkt Coca Cola

Es hatten sich einige Zuschauer in die Premiere von „Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg“ verirrt, die wohl noch Heinz Rühmann als Švejk und heimelige, von Pfeifenqualm geschwängerte Wirtshausromantik, in der der Prager Schelm sein Unwesen trieb, vor Augen hatten. Dabei dürfte nach drei Inszenierungen Frank Castorfs am Residenztheater geklärt sein, dass „lustig und heimelig“ nicht stattfindet. So war es auch nicht verwunderlich, dass der Exodus bereits nach dreißig Minuten begann, also recht früh, angesichts der fast fünfstündigen Spieldauer. Allein, nach der einzigen Pause, in den verbleibenden zwei Stunden, verließ niemand mehr den Zuschauerraum und der Schlussapplaus war geradezu frenetisch. Das nennt man Polarisation des Publikums, wobei es Castorf sicherlich nicht darauf anlegt. Es passiert halt immer wieder, insbesondere, wenn nicht unbedingt drin ist, was draufsteht. Hier sei angeraten, den Untertitel zu lesen: Szenen aus einem unvollendeten Roman nach Jaroslav Hašek. Die Betonung liegt auf „nach“ Hašek. Der radikale Bruch mit der verklärten Švejk-Figur hat einen guten Grund, denn die ursprüngliche Übersetzung aus dem Jahr 1926 war nicht die beste und verzerrte Hašeks Humor bisweilen. Castorf beruft sich auf die 2014 erschienene Neuübersetzung von Antonín Brousek, die einiges richtig stellt: „Man lacht nicht, um die Welt zu entlarven, man muss letztlich lachen, um in dieser Welt nicht vor die Hunde zu gehen. Lachen ist also zugleich Heilmittel und Gegengift.“ (Programmheft)

Švejk ist ein radikaler Verweigerer, der seinen vermeintlichen Opportunismus soweit treibt, dass der brave Mann immer wieder in der Katastrophe endet. Seine Freiwilligenmeldung in den Krieg, der nach dem Attentat in Sarajewo unweigerlich kommen muss, so Švejk, bringt ihn ins Irrenhaus. Er war im Rollstuhl angetreten und ihm wurde vollkommene Blödheit attestiert. Doch Švejk gibt nicht auf, wird Ordonanz von Oberleutnant Lukáš. Er bringt seinen Dienstherren in so arge Bedrängnis, dass dieser samt Ordonanz an die Front verschickt wird. Auf dem Weg nach Budweis geht Švejk verloren und muss sich zu Fuß durchschlagen. Er gerät in Kampfhandlungen und in eine russische Uniform, wird als Russe von den Österreichern festgenommen und wegen Verrats zum Tode verurteilt. Das Kriegsende kommt der Vollstreckung zuvor und Švejk überlebt.

Das Programmheft nennt diese Überlebensstrategie das Švejk-Prinzip. Nun sind aber selbst so ausufernde Geschichten wie die vom Švejk einfach eine Nummer zu klein für Regisseur Castorf und so nutzt er auch diese Geschichte nicht als theatralisch bebilderte, sich selbst erklärende Fabel, sondern als dramaturgisches Vehikel und erklärt auf seiner Schussfahrt durch die Historie die Welt, ihr Wesen und ihren Zustand. Auch die Zukunft deutet sich an, und die ist alles andere als rosig. Castorf ist Dialektiker. Und so holt er weit aus im Weltgeschehen. Seine konkreten Bilder sind mächtig und zwingend. Da die Geschichte eine Kriegsgeschichte ist, und zwar die des ersten Weltkrieges, der, sehr effizient im Töten, jedoch nur vier Jahre dauerte und von vielen Menschen als ein temporäres Ereignis begriffen wird, zitiert Castorf einen Vergleich, und zwar den permanenten Krieg zwischen Coca Cola und Pepsi Cola. Auch in diesem Krieg hat es Tote gegeben. Jedoch wird an diesem Krieg etwas deutlich, was beim 1. Weltkrieg in der bürgerlichen Geschichtsschreibung wegpalavert wurde. Es geht ursächlich und letztlich immer um materielle Interessen, um Profit. Das steht zwar nie auf den Bannern, unter denen die Kriege stattfinden, doch es ist so. Die eine terroristische Vereinigung, die Kriege anzettelt nennt sich Islamischer Staat und meint damit Eroberung und Unterwerfung ganzer Länder und Völker, eine andere, CIA genannt, nennt es Verteidigung der vitalen Interessen und zerstört selbstbewusste Staatsgebilde, um den Zugriff auf die Ressourcen nicht zu verlieren, oder manchmal nur, um die Preise günstiger zu gestalten.

  Svejk  
 

Jeff Wilbusch, Valery Tscheplanowa

© Matthias Horn

 

Sichtbar wurde diese These im Bühnenbild von Aleksandar Denić, ein babylonisch anmutender, mehr oder weniger transparenter Turmbau über mindestens drei Etagen, mit einem Wachhäuschen als Spitze. Auf dem Dach waren in großen leuchtenden Lettern die Schriftzüge der beiden Getränkehersteller zu lesen. Die Basis des Gebäudes war die Fassade der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin mit der Vorkriegsaufschrift „Die Kunst dem Volke“. Das Haus wird von Frank Castorf seit 1992 geleitet. Auf der Rückseite war ein Bahnwagon eingewachsen. Das meinte, Švejk, der seine Kreise durch ganz Osteuropa zieht, ist in Mitteleuropa hängengeblieben und er trinkt Coca Cola. Wie schon in „Baal“ (2015) und in „Reise ans Ende der Nacht“ (2013) trieb der Regisseur die Darsteller in zum Teil atemloser Hatz durch die Bühnenbildlabyrinthe. Und so chaotisch und bisweilen auch unergründlich, wie viele Bewegungsabläufe waren, gestaltete sich auch der Inhalt.

Und so kommen wir zum Castorf-Prinzip. Grundsätzlich betrachtet Frank Castorf alle Kunst als ein Materiallager, aus dem er sich zusammenklaubt, was taugt, seine Ideen von und über die Welt zu realisieren. Die Gesetze des Raum-Zeit-Kontinuums habe auf der Bühne eine untergeordnete Bedeutung, wenn überhaupt. Kunst, und bei Castorf insbesondere, ist auch Willkür. Die Zitate reichen von Fassbinderfilmszenen über Pete Seeger, Georg Danzer und Bert Brecht Songs, Dokumentarfilmmaterial bis zu jedem erdenklichen geschriebenen Material, ob Literatur oder Sachbuch. Und so mäandert die Geschichte, die für den unkundigen Zuschauer kaum nachzuvollziehen ist, so vor sich hin. Fast möchte man meinen, Castorf lässt sich von jedem zweiten oder dritten Wort inspirieren und schweift hemmungslos ab und umher. Da unterlaufen auch schon mal Erläuterungen zum Geschlechtsverkehr mit Hunden, und das er sich häufiger ausüben lässt, wenn die Kinder erst aus dem Haus sind. Nun ja, immerhin hat Švejk mit Hunden gehandelt. Es wird auch das „Statut der tschechoslowakischen terroristischen Gruppen“ (1917) verhandelt, denn auf der Bühne des Residenztheaters ist aus Švejk längst der Wirtshausanarchist, Kommunist und Rotgardist Hašek geworden, der es in der Roten Armee immerhin bis zum Volkskommissar gebracht hat.

Große Visionen über die Reinigung des Universums von allem Kranken, Schlechten und Untauglichen wurden von Gott persönlich, hier einer engelsgleichen Valery Tscheplanowa, verkündet. Es wurde tschechisch, ungarisch, russisch und wer weiß was gesprochen. Es wurde auf Hebräisch gebetet. Und es wurde immer wieder auch eingestanden, dass man sich verirrt hatte. Dann kamen Sätze wie: „Das hat aber jetzt mit Švejk nichts zu tun!“ oder „…und die Schauspieler fragen sich, wie das Publikum auch, ob das irgendwo hinführt.“ Nach annähernd drei Stunden kommt die Erinnerung auf, dass 1915 auch das Geburtsjahr des Dadaismus in Zürich war und so wurde das Publikum mit „Da-da-da“ von Trio in die Pause entlassen.

Castorfs Theater ist kein bürgerliches Amüsiertheater, es ist aggressivste Aufklärung und Provokation und es ist für das Publikum harte Arbeit. Fünf Stunden vollste Konzentration, die trotzdem Irritationen nicht ausschließen kann, denn es werden intellektuell schwere Geschütze abgefeuert. (Hier wäre es vielleicht anbracht, auch mal über die Leistung des Publikums nachzudenken.) Und damit auch ja kein emotionaler Genuss aufkommt, wird Schauspiel weitestgehend verhindert. Frank Castorf will keine Rollengestalter auf der Bühne, sondern Menschen. Daher sprechen sich die Darsteller über weite Strecken mit ihren tatsächlichen Vornamen an und es geht privat zu wie in der Theaterkantine.

Um jeglichen artifiziellen Gestus zu verhindern, fordert er den Schauspielern physisch und stimmlich so viel ab, dass für bewusste und differenzierte Gestaltung kaum mehr Kraft bleibt. Nicholas Ofczarek, den  Frank Castorf in seiner 2011 entstandenen „Kasimir und Karoline“ - Inszenierung eine zentnerschere Tür herum wuchten ließ, erklärte den Vorgang in einem Interview genau so. Übrigens wurde Ofczarek seither nicht mehr am Residenztheater gesehen. Castorf will das menschliche Antlitz sichtbar machen. Dieses Prinzip hat durchaus seinen Sinn und funktionierte auch gut, erspart aber dem Kritiker eine Reflexion der schauspielerischen Leistungen. Die physischen Leistungen sind unbestritten und fordern unbedingt Respekt ab, ebenso die gesanglichen. Singen ist, und das lässt sich nicht verhindern, unbedingt ein artifizieller Vorgang.

Frank Castorf genießt mit seinem Theater inzwischen seit Jahrzehnten große Anerkennung, aber ebenso harsche Ablehnung. Langsam, nach vier Inszenierungen, beginnt sich auch das Münchner Publikum an dieses Theater zu gewöhnen. Lieben muss man es nicht, aber aushalten können schon.

Wolf Banitzki


Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg

Szenen aus einem unvollendeten Roman nach Jaroslav Hašek

Aurel Manthei, Bibiana Beglau, Franz Pätzold, Katharina Pichler, Götz Argus, Nora Buzalka, Arthur Klemt, Jürgen Stössinger, Valery Tscheplanowa, Jeff Wilbusch, Marcel Heuperman, Paul Wolff-Plottegg

Regie: Frank Castorf

Residenztheater Vor dem Ruhestand von Thomas Bernhard


 

Der Schoss ist fruchtbar wieder

7. Oktober. Es ist der Geburtstag des Reichsführers SS Heinrich Himmler. Wie jedes Jahr steigt Rudolf Höller nach getaner Arbeit, er steht kurz vor dem Ruhestand, in seinen Keller hinab, wo er von seinen Schwestern Vera und Clara erwartet wird, um seine SS-Uniform anzuziehen und dem „genialen“ Geistesgenossen zu huldigen. Nach dreihundertvierundsechzig Tagen ideologischer und emotionaler Enthaltsamkeit ufern die Rituale aus. Da schwelgt man in nationalsozialistischem Kitsch, in Erinnerungen an die Begegnung mit dem Reichsführer SS im Lager, in dem Höller Dienst tat, und wenn der Sektkonsum fortgeschritten ist, geht’s richtig zur Sache. Dann muss die linksbolschewistische, an den Rollstuhl gefesselte Schwester Clara die gestreifte KZ-Uniform anziehen, während Vera sie kahl schert. Das erregt Rudolf dermaßen, dass er nicht an sich halten kann und er besteigt Schwester Vera.

Tina Laniks Inszenierung von Thomas Bernhards „Rachekomödie“, die 1979 am Staatstheater Stuttgart uraufgeführt wurde, feierte im Residenztheater eine Wiederauferstehung. Nicht nur, dass die Ideen des Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft eine Renaissance erleben, der Zuschauer kann mit Erstaunen feststellen, dass die braune Mentalität gar keine temporäre Erscheinung, sondern, wie der rechte Ideologe Götz Kubitschek beteuert, deutsche Wesensart ist. Diese, sich aller rationalen Argumentation entziehenden Aussagen werden in Bernhards Stück und vor allem in Tina Laniks Lesart durchaus gespiegelt. Damit hat Bernhard etwas vorweggenommen, was vor vierzig Jahren, als das Stück entstand, kaum vorstellbar war. Gemeint ist das „Wiedergängerhafte“ der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Protagonisten, und zwar in durchaus neuem Gewand. So zeigt sich, dass die „Übermacht der Erinnerung“, wie Kubitschek das zwingende Moment der deutschen Geschichte nennt, ein Gespenst ist, das quicklebendig und entwicklungsfähig ist.

  Vor dem Ruhestand  
 

Charlotte Schwab, Götz Schulte, Gundi Ellert

© Andreas Pohlmann

 

Frau Laniks Inszenierung begann mit der Auferstehung der drei Figuren des Stücks, die staubbeladen an der Rampe lagerten. Sie sind historische Untote, die von der Rede Götz Kubitscheks auf einer Legida-Kundgebung, gehalten am 21. Januar 2015 in Leipzig, erweckt wurden. Der eiserne Vorhang hob sich bis zur Hälfte und gab einen schwarzen Raum frei. Eine Leiter zeigte an, dass es sich um einen tief gelegenen Kellerraum handelte (Bühne: Maximilian Lindner). Darin standen zwei große schwarze Kisten, in denen alle die Artefakte, Bilder und Kleidungsstücke fein aufgeräumt lagerten, die für die makabere Gedenkfeier vonnöten waren. Ein großes Porträt von Himmler wurde aufgestellt und die geschwätzige Eva, von einer überaus agilen Gundi Ellert gespielt, schwärmte, erklärte, verklärte und verteidigte die Rituale und auch die Ideen, die dahinter standen. Charlotte Schwabs Clara war eine Gefangene, und zwar in jeder Hinsicht. Sie war an ihren Rollstuhl gefesselt und daher jeglicher eigenbestimmter Bewegung beraubt. Zudem hatte sie sich von der geschwisterlichen Ideologie losgesagt, was sie zum Feind schlechthin machte. Dementsprechend ging man mit ihr um. Selbst eine Hinrichtung war denkbar. Charlotte Schwab schüttete immer wieder ihr homerisches Lachen über die Erbärmlichkeit Rudolfs und der in inzestuöser Notgemeinschaft gefangenen Schwester Eva aus. Clara wurde nicht nur verbal traktiert. Götz Schultes Rudolf wurde schnell und ohne Vorwarnung handgreiflich. Er war längst an seinen, zum Selbstschutz errichteten Grenzen, angelangt und drohte permanent, die Kontrolle zu verlieren. Der bekennende SchutzStaffler lobte einerseits seinen noch immer beträchtlichen Einfluss, der allemal ausreichte, um im Stadtrat eine Chemiefabrik vor seiner Haustür zu verhindern. Er lebte andererseits aber auch seinen tiefen Groll gegen Gesinnungsgenossen aus, deren Opportunismus gegenüber den „demokratischen“ Verhältnissen für Rudolf gleichbedeutend mit Selbstverleugnung, mindestens aber Gesinnungslumperei war. Die Erinnerungen wurden allerdings auch sehr konkret, als Eva eine Fotoschau machte. Da wurden Begegnungen mit den Nazigrößen beschworen, Fronturlaube in schönen europäischen Städten, aber auch Judenhinrichtungen auf kleinstädtischen Marktplätzen. Die Verklärung der Geschichte war inzwischen so vollkommen, dass differenzierte Emotionen dazu nicht mehr aufkamen. Nur der Verlust und die Klage darüber blieben übrig.

Gänzlich frei von Schamgefühl und ermutigt durch die unerschütterliche, geradezu mythologische Gewissheit, das Richtige zu vertreten und zu tun, breiteten sowohl Rudolf, wie auch Eva ihre degenerierte Denkungsart aus und der Zuschauer musste erkennen, dass nicht wenige Ansätze im heutigen Polit-Sprech längst wieder geläufig und sogar hoffähig geworden sind. Es drängten sich die Einsichten auf, dass bestimmte, ideologisch gewandete Forderungen des Umweltschutzes, etliche Appelle der Kapitalismuskritik oder viele Ansprüche nach ethnischer Isolation, wie sie heute allzu leicht formuliert werden, deckungsgleich mit den Forderungen der Nazis von vor achtzig Jahren sind. In diesem Augenblick wird deutlich, wie weit der Vormarsch dieser stupiden Gesinnung schon gelungen ist und wie nahe uns die Nazis schon wieder kommen. Wenn Rudolf gegen Ende des Stücks den Tag beschwört, an dem sie sich in ihren geistigen und stofflichen Uniformen in der Öffentlichkeit wieder frei bewegen können, wird deutlich, dass er eigentlich schon gekommen ist.

Als Brecht schrieb, „der Schoss ist fruchtbar noch, …“ nahm man diese Worte als gelungenen poetischen Vers. Wenn Tina Lanik am Ende des Stücks eine große rote Fahne mit Hakenkreuz herabsenkt, wird deutlich, dass Brecht durchaus wörtlich genommen werden kann. Das Premierenpublikum bekannte sich deutlich und überschwänglich zur Botschaft der Inszenierung. Der von zahlreichen Bravos durchsetzte Applaus war fast schon eine Demonstration. Er galt darüber hinaus aber auch der darstellerischen Leistung dreier exzellenter Schauspieler. Vielleicht hätte man sich mehr stimmgewaltige Einsprüche von Seiten Charlotte Schwabs gewünscht. So wäre das Spiel nicht gar so grotesk eskaliert. Doch die sah Bernhards Text nicht vor. Der Aktualität und der Wirkung tat es keinen Abbruch. Bleibt vielmehr zu hoffen, dass die Stimmen des Widerstandes und der Vernunft in der Gesellschaft nicht verstummen. Noch sind sie nicht in der Unterzahl.

Wolf Banitzki

 


Vor dem Ruhestand

von Thomas Bernhard

Gundi Ellert, Götz Schulte, Charlotte Schwab

Regie: Tina Lanik

Residenztheater Hexenjagd von Arthur Miller


Gesunder Realismus

Arthur Miller war Moralist, einer, der daran glaubte, mit Theater und Literatur die Welt verändern zu können. So verfolgen seine Dramen stets eine „Nutzanwendung“ (Friedrich Luft). Diese Haltung verwundert kaum, schaut man sich die Biografie des  Enkels mittelloser österreichischer Einwanderer an. In sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen, arbeitete er als Lehrling in einem Auto-Ersatzteillager. Miller bekam 15 Dollar die Woche, lebte von 2 und sparte 13 Dollar für ein Studium. Neunzehnjährig hatte er genug zurückgelegt, um ein vierjähriges Studium am Theater-College der Universität Michigan zu absolvieren. 1938 kam er nach New York, wo er sich als freier Schriftsteller durchschlug. Im „Dramatic Workshop“ lernte er Tennessee Williams kennen, dessen psychologisch-poetische Dramatik den denkbar krassesten Gegensatz zu den Stücken Millers darstellte. Mitentscheidend für Millers literarische Ausrichtung war der 1938 aus Deutschland emigrierte Erwin Piscator, einer der wichtigsten Vertreter des linken Agitationstheaters der 20er und 30er Jahre, der im „Dramatic Workshop“ lehrte. Mit „Tod eines Handlungsreisenden“ (UA 1949) stieg Miller in die Oberliga der Weltdramatik auf. 1957 wurde der Dramatiker, der freimütig seine Sympathien für den Kommunismus preisgab, vom „Kongressausschuss für unamerikanisches Verhalten“ zu einem Monat Gefängnis und 500 Dollar Geldbuße verurteilt. Er hatte sich geweigert, Aussagen über frühere Bekannte zu machen, die im Verdacht standen, Kommunisten zu sein. Er selbst hatte dem Staatskommunismus russischer Prägung alsbald den Rücken gekehrt. Sein Kommentar dazu: „Ich musste zur Hölle gehen, um den Teufel zu treffen.“

Miller selbst zitierte die stalinistischen Schauprozesse als Anlass für sein Drama „Hexenjagd“. Das war allerdings zum Teil auch eine Schutzbehauptung, denn, sich in dieser Zeit mit Senator MacCarthy anzulegen, der dem „Kongressausschuss für unamerikanisches Verhalten“ vorstand, wäre selbstmörderisch gewesen. Dennoch waren die Parallelen unübersehbar. Als Folie für sein 1953 in New York zur Uraufführung gelangtes Drama waren die Dokumente zu den Hexenprozessen in Salem, Massachusetts, die erst durch Millers Stück zweifelhaften Weltruhm erlangten. Miller weilte an einem kalten Frühlingstag im „Hexenmuseum“ der Historischen Gesellschaft von Salem und betrachtete die Kupferstiche und Holzschnitte, die 1692 während der Gerichtsverhandlungen zur medialen Verbreitung der Ereignisse entstanden waren. „Die Bilder zeigten die Vorgänge in Salem, damit man in Boston und anderen entlegenen Orten eine Vorstellung aus erster Hand davon bekommen sollte, wie wahnwitzig die Menschen sich unter den Einflüsterungen und Versuchungen der Hexen verhielten. Dargestellt waren die betroffenen unschuldigen Mädchen, die voll Entsetzen mit dem Finger auf die Frau eines Farmers deuteten, die sie insgeheim mit ihren Zauberkräften verfolgte, aber den christlichen Anschuldigungen mit stolzer Verachtung die Stirn bot. (…) Die Lichtstrahlen (eines Feuers – W.B.), die die Szene erhellten, standen in scharfem Kontrast zu den dunklen, unheimlichen Schattenzonen.“ (Arthur Miller: Zeitkurven)

Dieses Bild könnte Stefan Hageneier für seine Bühne und auch die Kostüme inspiriert haben. Der gesamte Bühnenraum war in verschlissenem, fadenscheinigem Schwarz gehalten. Säulen deuteten sowohl die Kirche, als auch den städtischen Versammlungsraum an, in dem Gericht gehalten wurden. Transparente Zwischenwände verwandelten die Szene in Wohnhäuser oder auch in einen Folterkeller. Ausgeleuchtet (Licht: Gerrit Jurda) wurde so, dass stets „unheimliche Schattenzonen“ entstanden oder blieben. In einer dieser Schattenzonen hatte Regisseurin Tina Lanik die Musikerin Polly Lapkovskaja (Polly Ester) in archaisch düsterem Gewand platziert. Mit ihrem schaurig-schönen Beschwörungsgesang (Im Stück der Gesang der schwarzen Sklavin Tituba, von einer grandiosen Valentina Schüler gespielt.) machte sie jene abergläubischen Triebkräfte sphärisch hörbar, die Auslöser der Geschichte waren.

  Hexenjagd  
 

Sibylle Canonica, Thomas Loibl

© Thomas Aurin

 

Eine Schar Mädchen hatte sich im Wald versammelt, um zu tanzen, um sich für den Augenblick der Zwänge zu entledigen, die in der schottisch-puritanischen Kirche Neuenglands Gesetz waren. Abigail Williams, von Valery Tscheplanowa als fleischgewordener unbeugsamer Hass gespielt, trachtete Elizabeth Proctor, Sibylle Canonica als ein Sinnbild fast überirdischer Reinheit, nach dem Leben. Abigail hatte mit John Proctor, fulminant von Thomas Loibl gespielt, dessen Ehe gebrochen. Unter Puritanern eine Todsünde. Proctor kann nur um den Preis der Selbstauslöschung verhindern, was kommen sollte. Reverend Parris ertappt die Mädchen bei ihren nächtlichen Ritualen im Wald. Jörg Lichtenstein spielte den Pastor als einen zutiefst bigotter Mann, der in seinem Amt eher die Macht und den Zugang zu materiellen Gütern sieht, als eine göttliche Berufung im Dienst am Glauben. Der Schock bei den Mädchen ist gewaltig. Sie reagieren mit Ohnmacht oder Hysterie. Schnell kommt die Vermutung auf, der Satan hätte seine Hand im Spiel. Reverend John Hale, ein erfahrener Mann in Fragen Exorzismus, wird gerufen. Thomas Lettow gibt einen Geistlichen mit ehrenhaften Absichten, dem Zweifel an seinem Tun nicht unbekannt sind. Als die Mädchen merken, dass ihnen die Vermutungen, sie seien mit dem Teufel im Bund, als wohlfeile Ausrede dienen kann und sie durch ein Geständnis straffrei ausgehen würden, löst sich eine Lawine von Verdächtigungen, Denunziationen und Verleumdungen. Angesichts der Vielzahl derer, die mit dem Teufel um Bund zu sein scheinen, reagiert Kirche und Justiz total hysterisch und Salem wird zum Kreuzzugsort.

Bald sitzen mehr als vierhundert Menschen im Gefängnis; Reverend Parris hat mehr als siebzig Todesurteile unterschrieben, als ihm ernsthafte Zweifel kommen. Doch Staat und Kirche in Person Danforths, Stellvertreter des Gouverneurs, den Norman Hacker ganz und gar als unbeugsamen und zweifelsfreien Machtmenschen gestaltet, und Reverend Parris halten mit despotischer Sturheit an ihrer Aufgabe fest. Selbst als für jedermann sichtbar wird, dass der Wahnsinn regiert, gibt es kein Erbarmen. Es wird deutlich, dass die vermeintlich religiösen Motive der Denunziationen längst umgeschlagen sind in blanke Rache, in die Beseitigung von unliebsamen Mitmenschen und Besitzgier. Ungeachtet dessen wird hingerichtet. Dabei waren es die Opfer, die zur Hölle gingen, um dem Teufel zu begegnen. Der ganze Wahnsinn, in den die Menschheit unter argumentativer Mithilfe von Religionen immer wieder aufs Neue stürzt, und der immer wieder in Blutvergießen gipfelt, wurde in diesem Drama offenkundig. Bei genauerer Betrachtung kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass Religionen im Grunde Geisteskrankheiten sind, die in Intervallen immer wieder ausbrechen und entarten wie Krebsgeschwüre.

Bereits nach der deutschen Uraufführung am Schillertheater 1954, der kalte Krieg tobte seinerzeit, klagte die Kritik über den ideologischen Charakter des „Zeigefinger-Theaters“ von Miller, der sich Mittel bediente, die, wie selbst Friedrich Luft meinte, längst abgedroschen waren. Selbstredend muss zumindest teilweise zugestimmt werden, wenn Millers Stück „Thesentheater“ genannt wird, was bedeutet, dass Ideenträger auf der Bühne unterwegs sind und weniger Menschen aus Fleisch und Blut. Der permanente Zeigefinger würde den Blick auf die menschlichen Wesen verstellen, so der Vorwurf der Kritik. Wenn man aber die Inszenierung von Tina Lanik am Residenztheater erlebt hat, werden diese Einwände nebensächlich. Zugegeben, nur zwei Protagonisten durchlaufen eine echte Entwicklung. Thomas Loibls John Proctor ging einen von Zweifeln gepflasterten Weg in die Wahrheit, die ihm am Ende das Leben kostete. Er war geläutert und nicht bereit, seine Würde vor den Augen der ganzen Welt an die Kirchentür nageln zu lassen. Und Thomas Lettows Reverend John Hale plädierte zuletzt aus reiner Menschlichkeit für den Meineid, um das Leben der Menschen zu retten. Doch es waren eben jene „guten Christen“ die auch um den Preis des Todes ihren Gott nicht verkauften. Die vermeintlich Göttlichen entpuppten sich als satanisch und die Satanisten waren die von Gott beseelten. Wer vermag es, die Parallelen zur heutigen Welt nicht zu sehen?

Millers Wahrheiten, seine Argumentationen sind so zwingend, dass man an ihnen wachsen kann, auch im Umgang mit der Realität, was schlicht und einfach bedeutet, dass Theater uns verändern, klüger und gefestigter machen kann. Wenn wir die Vernunft nach außen hin vertreten, wird die Welt ganz sicher ein stückweit besser. Und vielleicht steckt darin eine Hoffnung, dass irgendwann nicht mehr im Namen Gottes und zu seinem Schutz oder für seinen Glanz und seine Herrlichkeit erniedrigt, gefoltert, verstümmelt oder gemordet wird.
Tina Laniks vom Premierenpublikum zu Recht gefeierte Inszenierung hat große „nutzanwenderische“ Potenzen; Gesunder Realismus, der trotz oder vielleicht wegen seines didaktischen Anspruchs bewegt! Lob und Dank dafür.

Wolf Banitzki

 


Hexenjagd

von Arthur Miller

Jörg Lichtenstein, Friederike Ott, Valery Tscheplanowa, Genet Zegay, Juliane Köhler, Wolfram Rupperti, Valerie Pachner, Thomas Loibl, Ulrike Willenbacher, Michele Cuciuffo, Thomas Lettow, Valentina Schüler, Sibylle Canonica, Simon Werdelis, Norman Hacker, Arnulf Schumacher, Polly Lapkovskaja

Regie: Tina Lanik

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