Residenztheater Macbeth von William Shakespeare


 

Die dunkelste Seite des Menschen

Es fällt schwer zu glauben, dass ein Mensch, abgenabelt von allen moralischen Werten und Verpflichtungen, gänzlich dem Bösen verschrieben ist. Die Gesellschaft sucht unentwegt nach Gründen, warum der konkrete „böse“ Mensch so geworden ist und steigt dabei tief in dessen seelische Gründe hinab, den Moment aufzuspüren, in dem das „Gute“ den Todesstoß empfing. Wir glauben ihn in Kindheit und Jugend, manchmal auch schon in der Ahnenreihe zu finden und erklären, ja, rechtfertigen und entschuldigen sogar. Dabei lassen wir häufig außer Acht, dass es grundsätzlich eine viel simplere Veranlassung gibt, warum das „Böse“ in der Welt ist, nämlich die Freiheit der Entscheidung. Als „moralische Menschen“ haben „wir“, die Urteilenden, diese Freiheit nicht, denn wir sind in der Moral des „Guten“ gefangen. Es ist die Möglichkeit und die Freiheit, die junge Menschen dazu treibt, sich auf die Seite des „Bösen“ zu schlagen, z.B. auf die Seite des so genannten „Islamischen Staates“, um endlich „gute Gründe“ zu haben, um „guten Gewissens“ für eine „gute Sache“ dreidimensional, nach zweidimensionalen PC-Animationen, zu töten. Ja, der Wahnsinn hat Methode und er ist alt; älter als die Werke Shakespeares.

Wenn Macbeth die drei Hexen erscheinen, ist das nur ein dramaturgischer Trick, denn irgendwie muss die Geschichte des siegreichen schottischen Kriegsherrn ja glaubhaft erzählt werden. Tatsächlich sind es innere Stimmen, die, ausgelöst durch den Adrenalinrausch der letzten Schlacht, den Mann befeuern, seinen Machtfantasien freien Lauf zu lassen. Wer kann ihn aufhalten? Er schlug die Norweger und den tückischen Than von Cawdor. Der Titel stünde eigentlich ihm zu! Und nicht nur der, denn er schlug die Schlacht für den König. Warum sollte ihm nicht auch dieser Titel gebühren? Macbeth nimmt es als ein Zeichen, als König Duncan ihn noch vor seiner Rückkehr zum Than von Cawdor macht. Anfangs stört auch nicht die Prophezeiung, die Banquo, der Waffengefährte, zum Stammhalter des kommenden Königsgeschlechtes erhebt.

Lady Macbeth ist mehr als angetan von der Idee, schürt ihrerseits seinen Ehrgeiz. Sie hat, was ihm fehlt: Skrupellosigkeit und Kaltblütigkeit. Das Morden beginnt und bald schon setzt sich Macbeth die Krone auf das Haupt. Doch dann erinnert er sich daran, dass Banquos Nachkommenschaft auserkoren ist für das Amt und er wittert überall Verrat. Der Tyrann ist jetzt im Zenit, sein Wahnsinn allumfassend und je mehr er versucht, durch das Beseitigen seiner vermeintlichen Feinde, Sicherheit zu schaffen, umso instabiler wird seine Lage. Längst hat sich in England ein Heer seiner Widersacher formiert. Die Weissagung, dass keinerlei Gefahr besteht, solange sich der Wald von Biram nicht auf das Schloss zubewegt, noch getoppt von der Prophezeiung, dass Macbeth nie von einem Mann getötet wird, der von einem Weib geboren wurde, war zuletzt noch ein genialer Dramaturgiestreich, um der Geschichte einen starken Plot zu geben.

  Macbeth Residenztheater  
 

Thomas Gräßle, Thomas Loibl (Macbeth), Jeff Wilbusch

© Thomas Dashuber

 

Andreas Kriegenburg setzte das blutige Drama als psychologische Studie in Szene. Harald B. Thors Bühne bestand aus einem großen waffenstarrenden Plateau, das gehoben, gesenkt gedreht und gekippt werden konnten. Kriegenburg stellte die Geschichte, ihre Wendungen und Kapriolen im wahrsten Sinn des Wortes aus wie auf einem Tablett. Die Geografie der Geschichte war weitestgehend bedeutungslos; die Zeiten ertranken im Blut und von Belang waren nur die geschundenen Seelenlandschaften. Davon gibt es etliche im Stück und so mutete das Spiel, von dem jedermann weiß, wie es enden wird, wie eine psychologische Achterbahnfahrt an. Sämtliche männlichen Rollen waren in schwarzen Anzügen gewandet. (Kostüme: Andrea Schraad) Das machte es nicht unbedingt leichter, die Figuren (von der 14. Reihe aus) auseinander zu halten. Doch es war ein Spiel der Männer, die, ob Tyrann oder nicht, erst einmal sehr ähnlich tickten. Als aber Macbeth zu schwächeln begann, stieg auch Lady Macbeth in so ein maskulines Gewand, um in ihren Untergang zu schlittern.

Die Zeit spielte ebenso wenig eine Rolle, wie die Orte, an denen die Handlung stattfand, denn sie war total aus den Fugen geraten. Im Dampf des Blutes ging keine Sonne mehr auf und alles versank in fiebrig-düsterem Aktionismus der nur noch ein Ziel hatte, den Aderlass zu enden. (Licht: Gerrit Jurda)

Qualvoll war die Handlung allemal und es war sehr beeindruckend mit anzuschauen, wie Thomas Loibl seinen Macbeth in den physischen und vor allem psychischen Ruin trieb. Sophie von Kessel war die geborene Lady Macbeth, unbarmherzig und ohne Rücksicht auf die eigenen Verluste. Beide verloren einander im ekstatischen Rausch der Negation, bis sie sich zuletzt noch selbst verloren. Um sie herum gab es wenige deutliche Schicksale, die in ihrer katartischen Wirkung dem tyrannischen Paar das Wasser reichen konnte. Eines war das der von Hanna Scheibe gestalteten Lady Macduff, die durchgängig blutüberströmt wie ein antiker Chor agierte, die Vorgänge kommentierte und sie entlarvte, bis sie sich selbst dem Zynismus ergab. Immerhin hatte sie der eigene Mann verraten und sich nach England abgesetzt. René Dumonts Macduff war es schließlich auch, der Macbeth zur Strecke brachte und mit seinem Dolch der fruchtlosen und mörderischen Ära ein Ende setzte. Er konnte dies wider die Prophezeiung tun, denn er war vor der Zeit aus dem Leib seiner Mutter geschnitten worden. Man nennt das Kaiserschnitt. Die Sterbeszene hatte allerdings etwas bedauerlich Opernhaftes und zog sich peinlich in die Länge.

Die Düsternis, mit der Andreas Kriegenburg das Drama zelebrierte, war gänzlich der Interpretation Peter von Matts geschuldet, der dieses Drama die „Geburtsstunde des europäischen Nihilismus“ nannte. Trotz aller blutigen Schwere, die das Publikum wie eine Dampfwalze überrollte, verzichtete Kriegenburg nicht auf Shakespearsche Komödiantik. So hatte Alfred Kleinheinz als Pförtner eine skurrile „Torwächterszene“.  Jeff Wilbusch und Thomas Gräßle gaben Mörder, die in ihrer menschlichen Schlichtheit etwas Kleinganovenhaftes hatten und doch eiskalte Vollstrecker waren.  

Andreas Kriegenburg, die Erwartungen an ihn sind ja inzwischen die höchsten, enttäuschte nicht, wenngleich seine Sicht auf das Stück eine stark eingeschränkte war. Aber genau das überraschte und überzeugte auch, denn indem er die dunkelste Seite des Menschen sichtbar machte, und zwar mit sehr beachtlicher Ästhetik, traf er den Nerv der Zeit. Trotz aller Vernunft, an die wir seit der Aufklärung so willig glauben wollen, schießen die Tyrannen wie Pilze aus dem Boden, selbst in alten kultivierten Landschaften. Das mörderische Geschäft der machttrunkenen Wahnsinnigen unter den Fahnen von IS oder Boko Haram ist keineswegs weniger brutal und zynisch. Insofern ist Kriegenburgs „Macbeth“ am Münchner Residenztheater gut für eine Katharsis, ein Erwachen, für die Erkenntnis, dass „starke Männer“, Männer, die glauben, die Geschicke der Welt allein in ihre eigenen Hände nehmen zu können, die Welt nur in den Untergang führen.

Darüber sprach bereits Aischylos im ersten vollkommen erhaltenen Theaterstück „Die Perser“, inzwischen zweieinhalbtausend Jahre alt. Er warnte seinerzeit vor der Hybris und versprach bei Zuwiderhandlung den Untergang.

Wolf Banitzki

 


Macbeth

von William Shakespeare
Übersetzung Thomas Brasch

Thomas Loibl, Sophie von Kessel, Thomas Lettow, Arnulf Schumacher,  Mathilde Bundschuh, Pauline Fusban, René Dumont, Hanna Scheibe, Max Koch, Till Firit, Jeff Wilbusch, Thomas Gräßle, Alfred Kleinheinz

Regie: Andreas Kriegenburg

Residenztheater Antigoone von Sophokles

 

Moral und Menschlichkeit

„Der Krieg ist vorbei. Das Lied der Vögel könnte beginnen.“ Diese beiden Sätze prangten an einem  Himmel, an dem sich die Rauchschwaden des Krieges zu zerstreuen begannen und unschuldiges Blau sichtbar wurde. Hans Neuenfels hatte diese Sätze als Motto für seine „Antigone“-Inszenierung von seiner Bühnenbildnerin Katrin Connan über der strengen schwarz-weißen Kastenarchitektur einarbeiten lassen. Auf den Komparativ „könnte“ kam es dabei an, denn bei dem blieb es schließlich auch, als König Kreon am Ende des zweistündigen Theaterabends verkündete: „Lass keinen neuen Morgen leuchten!“ Er glaubte an keine Zukunft mehr.

Die ist auch schwer vorstellbar, betrachtet man das Schicksal der Labdakiden, Nachkommen des Labdakos, Enkel des Kadmos, der das siebentorige Theben begründete. Labdakos´ Sohn Laios wurde von Pelops mit einem Fluch belegt, nachdem er dessen Sohn Chrysippos, zu dem er in homosexueller Liebe entbrannt war, nach Theben entführte. Der Fluch verhieß, dass Laios, sollte er einen Sohn zeugen, von diesem ermordet werden würde. Er bekam einen Sohn namens Ödipus und eine verheerende Geschichte aus Vatermord und Inzest nahm ihren Lauf. Am Ende des Leidensweges standen die Geschwister Eteokles, Polyneikes, Ismene und Antigone.

Die Brüder Eteokles und Polyneikes teilten sich nach dem Auszug des blinden und schuldbeladenen Königs Ödipus den thebanischen Thron, doch Eteokles konnte sich der eigenen Machtlüsternheit nicht erwehrten und okkupierte diesen dauerhaft. Es kam zum Krieg („Sieben gegen Theben“) zwischen den Brüdern, der für beide tödlich endete. Kreon, Bruder des Laios, Onkel von Ödipus und zugleich auch Onkel von dessen Kindern, da Ödipus mit seinen Kindern auch gleichsam seine eigenen Geschwister gezeugt hatte, bestieg den Thron von Theben. Er verfügte, dass Polyneikes und alle, die mit ihm im Kampf gegen Theben gefallen waren, unbestattet bleiben sollten. Zuwider Handeln sollte mit dem Tod bestraft werden. Antigone, die dem ehernen Gesetz der Götter (oder der Menschlichkeit) folgend, Polyneikes beerdigte, wurde von Kreon lebendig in einer Felsenkammer eingemauert. Kreons Sohn Haimon, der mit Antigone verlobt war, konnte den Vater nicht davon abhalten.

Erst der blinde Seher Teiresias brachte den Tyrannen zur Vernunft, indem er ihm den Groll der Götter und die Unzufriedenheit der Thebaner offenbarte. Kreons Befehl lautete nun: „Die Toten sind zu begraben und die Lebenden sind aus ihren Gräbern zu befreien!“ Als die Grabkammer geöffnet wurde, hatte sich Antigone erhängt. Der verzweifelte Haimon richtete sein Schwert erst gegen den Vater und schließlich gegen sich selbst. Als der geschundene Kreon in den Palast zurückkehrte, vermeldete man ihm den Suizid der Ehefrau Eurydike. Einsam und ohne Hoffnung nahm Kreon die Regierungsgeschäfte wieder auf.


 
  Antigone  
 

Valery Tscheplanowa, Elisabeth Trissenaar, Norman Hacker, Statisterie

© Matthias Horn

 

Norman Hackers Kreon war am Ende ein Geschlagener, einsichtig zwar, aber, wie bereits angedeutet, ohne Hoffnung. Zu groß war sein Werk der Zerstörung. Dabei war er anfangs von der Richtigkeit seines Tuns überzeugt. Das Staatswesen, der Garant für eine stabile Gesellschaft musste über alles gestellt werden, auch über die „ewigen Gesetze“. Make Theben great again. Eines der ewigen Gesetze, der „göttlichen Gesetze“ lautete: Im Tod sind alle gleich und weder gut noch böse. Jedem Toten steht das Recht zu, bestattet zu werden. Es ist ein Ausdruck von Besessenheit oder Wahnsinn, Menschen auch im Tod noch verfolgen zu wollen. Und es ist ein Wesenszug von Diktatoren. Hackers Kreon ist ein Diktator. Hans Neuenfels ließ ihn auf Plateauschuhen wandeln, im antiken Theaterverständnis ein Mittel, Figuren in den riesigen Amphitheatern zu erhöhen oder zu überhöhen. Hackers donnernder Kreon hatte sich selbst überhöht, indem er seine eigene Austauschbarkeit leugnete. Valery Tscheplanowas Antigone schrie ihm sein begangenes Unrecht, die Leichen der Feinde geschändet zu haben, immer wieder ins Antlitz, bis sie endlich ohne Hoffnung auf Leben, Liebe, und Kinder verzichten musste. Sie, die Aufrechte, die als einzige das Menschenrecht gegen das politische Recht verteidigte, fand erst im Hades ihren geliebten Haimon, verstört und ohnmächtig von Christian Erdt gegeben, der in dieser Welt, der Welt seines Vaters, nicht leben konnte oder wollte.

Vermittelnd, verzweifelt erklärend und auch das eigene Schicksal beschwörend, mäanderte die „Frau von Theben“ zwischen den Protagonisten hin und her, die Vernunft bewahrend. In dieser Figur hatten Hans Neuenfels und Philipp Lossau den Chor der Thebaner destilliert. Gespielt wurde sie von Elisabeth Trissenaar, nicht nur kommentierend und resümierend, wie in der antiken Tragödie üblich, sondern aktiv Einfluss nehmend, diskutierend, aber auch tröstend. Als eigenständige konkrete Figur hatte sie dem thebanischen Volk sogar die eigenen Kinder geopfert. Sie war eine Betroffene und Elisabeth Trissenaar verlieh dem mit sehenswerter Präsenz und Gestaltungskraft Ausdruck.

Hans Neuenfels forderte seinen Darstellern äußerste stimmliche Expression ab, und die Zuschauer bekamen einen Eindruck, wie ein antikes kathartisches Werk klingen kann, ohne dabei eine historisierende Inszenierung auf die Bühne zu bringen. Michele Cuciuffos blinder Teiresias, von seiner Begleitung in einem eisernen Laufgitter auf die Bühne gefahren, vermochte das Mystische seiner Weissagungen in eine realistische Klage umzuwandeln, die Kreon mit ihrer Wucht auf sein menschliches Maß zurückstutzte.

Trotz der Schwere des Themas und der Ernsthaftigkeit der Umsetzung gab es auch komische Momente, was die Geschichte vorteilhaft menschlicher machte. Jörg Lichtensteins Wächter war ein Subalterner, bemüht, seinen Job so gut wie möglich zu machen, um nicht in Ungnade zu fallen. Lichtenstein lieferte mit der Zerrissenheit der Figur ein komödiantisches Glanzstück ab. Seine innere Marter machte ihn zu einem spastisch zappelnden Bündel Mensch aus Angst und Verzweiflung. Doch auch Hackers Kreon hatte komische Momente. Wann immer er angesprochen, aus dem Schlaf oder seinen Gedanken gerissen wurde, kam nicht das zu erwartende Fragewort „Was?“, sondern das Verlangen nach „Wasser!“. Das zeigte seine Überforderung und genau das war eine besondere Qualität der ästhetisch und inhaltlich geschlossenen und überaus beeindruckenden Inszenierung von Altmeister Neuenfels.

Diese desavouierende Qualität verwies nämlich darauf, dass Diktatoren bei aller Gefährlichkeit, die von ihnen ausgeht, immer auch lächerliche Figuren sind. Denken wir an Chaplins Hitlerpersiflage und seinem Tanz mit der Welt in „Der große Diktator“. Ganz zu schweigen von Mussolini, dem bis zur Besessenheit selbstverliebten Popanz in Fantasieuniform. Man muss nur genau hinschauen, wenn der kurzbeinige Putin mit apollinischem Gesichtsausdruck gelangweilt darüber redet, dass er auf einem Gipfel nicht eingeladen wurde, um zu sehen, dass es ihn wie Salzsäure zerfrisst; oder wenn Erdogan in seinem Palazzo Prozzo, flankiert von albernen Folklorekriegern, die Treppe hinab und einem neuen Osmanischen Reich entgegen schreitet; oder wenn sich Donald Trump mit spitzem Lutschmündchen und samsonischer Haarpracht zwischen seinen Barbies in einem Wohninterieur schlechtesten Geschmacks als Retter Amerikas geriert. Dagegen wirkt jede Komikfigur geradezu seriös.

Hans Neuenfels suchte nicht den Kurzschluss zur heutigen Problemwelt. Er inszenierte ein 2500 Jahre altes Drama, das noch immer gespielt wird, weil es zutiefst menschliche Grundprobleme und Grundkonflikte bezeichnet und darum immer aktuell ist. Damit sticht diese Inszenierung wohltuend aus den zahllosen dramatischen Zeitkommentaren heraus. Sie war nicht „performativ“, wollte nicht zeitnah sein und bediente nicht die (Alltags-)Sprache unserer Zeit. Es war einfach nur großartige, solide, nachhaltige Theaterkunst, die eine fundamentale Moral, die Menschlichkeit vermittelte. Dank dafür!

Wolf Banitzki


Antigone

von Sophokles
Deutsch von Ernst Buschor in einer Bearbeitung von Hans Neuenfels und Philipp Lossau

Valery Tscheplanowa, Anna Graenzer, Elisabeth Trissenaar, Norman Hacker, Jörg Lichtenstein, Christian Erdt, Michele Cuciuffo, Thomas Huber

Regie: Hans Neuenfels

Residenztheater Glaube Liebe Hoffnung von Ödön von Horváth


 

Am Ende fehlte die Kraft

Was bleibt dem Individuum am Ende eines sozialen Abstiegs? Sein Körper. Das letzte Kapital, mit dem man wuchern kann. Ist man eine Frau, zudem jung und ansehnlich, finden sich leicht Käufer in einer Gesellschaft, die beinahe gänzlich auf das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage reduziert ist. Doch auch dieser Weg hält höchst selten ein befreiendes Licht am Ende parat. In der Regel bleibt der, der nichts weiter anzubieten hat als seinen Körper, auf der Stecke, „bleibt liegen“ in Ermangelung von Kraft, wieder aufzustehen. Auch in Ödön von Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ möchte die Protagonistin Elisabeth ihren Körper verkaufen, allerdings an die Anatomische Gesellschaft zu Studienzwecken und erst nach ihrem Tod. Sie war der Mähr aufgesessen, dass dies Praxis sei und man vorab Geld bekommt. 150 Mark erhofft sie sich. Diese braucht sie, um einen Wandergewerbeschein zu erstehen, den sie benötigt, um das Gewerbe des fliegenden Miederwarenhandels ausüben zu können.

Der Präparator, dem sie ihr Anliegen vorträgt, ist ein gutherziger Mensch. Er leiht ihr das Geld. Als er jedoch erfährt, dass sie das Geld zur Begleichung einer Geldstrafe verwendet hat, fühlt er sich betrogen und zeigt Elisabeth, die sich den gleichen Betrag unter demselben Vorwand bei der Miederwarenhändlerin Irene Prantl geborgt hatte, wegen Betrugs an. Elisabeth wird zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Da sie zuvor bereits zu einer Geldstrafe verurteilt worden war, gab es keine Bewährung. Die Geldstrafe musste sie zahlen, weil sie ohne gültigen Wandergewerbeschein gearbeitet hatte. Sie war in diesem absurden Gesetzesdschungel gestrauchelt und gefallen. Jetzt gab es für sie als Vorbestrafte keinen Weg mehr zurück in die bürgerliche Gesellschaft. An diesem Tiefpunkt erscheint der Schupo Alfons Klostermeyer, der in Elisabeth einen höchst willkommenen Ersatz für seine unlängst verstorbene Verlobte sieht. Die kurze „Liebe“, für Elisabeth verheißt sie soziale Sicherheit, endet abrupt, als Schupo Alfons von ihrer Vorstrafe erfährt. Die Angst um seine kleine, recht bedeutungslose Existenz als Staatsbeamter obsiegt über die zärtliche Zuneigung. Elisabeth bleibt auf der Strecke.

Es braucht nicht unbedingt viel Fantasie, um die gesellschaftliche Aktualität zu sehen. Das Wort Prekariat, im Programmheft benutzt, um die soziale Stellung Elisabeths zu definieren, geistert schon seit längerem durch die alltäglichen politischen Diskussionen. Kurioserweise sehen einige Mitbürger in dieser Bezeichnung eine Diskriminierung der Bezeichneten. Das Substantiv, abgeleitet von dem Adjektiv prekär, sickerte in der napoleonischen Zeit von Frankreich aus in die deutsche Sprache ein. Das französische précaire ist von dem lateinischen precarius/precari abgeleitet, was so viel wie „bittweise erlangt“/„flehentlich bitten“ bedeutet. Im römischen Recht wurde damit eine sozial-ökonomische Existenzform begründet, bei der ein Prekarist, ein Nutzer, von einem Eigentümer bewegliche oder unbewegliche Sachen erbitten und nutzen konnte, allerdings, und das ist der heikle Punkt bei der Angelegenheit, auf Widerruf. Der Prekarist hat also keinerlei Sicherheit. Schaut man sich einmal das Heer der Harz IV-Empfänger an, die in Leiharbeit, in Mini- oder Aushilftsjobs ohne die geringste Sicherheit versuchen, ihren Lebensunterhalt zu sichern, dann ist es wohl nicht vermessen zu behaupten, dass die deutschen Sozialdemokraten mit ihrer Agenda 2010 dem Prekariat als feste Größe in der Gesellschaft zu einer echten Renaissance verholfen haben.

  Glaube Liebe Hoffnung  
 

v.l. Arnulf Schumacher (Oberpräparator), Valerie Pachner (Elisabeth), Markus Hering (Präparator)

© Thomas Dashuber

 

Doch keine Bange, Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ muss in der Inszenierung von David Bösch nicht dazu herhalten, um Realpolitik auf den Prüfstand zu bringen, wie es momentan häufig in den Kammerspielen geschieht. Bösch hat eine poetische Bilderschau auf die Bühne gebracht, die Horváth nicht verrät oder ihn von den Beinen auf den Kopf stellt. Horváth hatte seine Laufbahn als Dramatiker durchaus mit politisch aufgeladenen, zeitkritischen Stücken begonnen, sah sich allerdings zum eigenen Entsetzen mit einer eklatanten Wirkungslosigkeit konfrontiert. Also unterließ er seine „Tragödien“, die auf politischen Effekt zielten, und wandte sich seinen „Komödien“ zu, die er als Volksstücke anlegte. Allerdings verkehrte er die heimelige Idyllenhaftigkeit in psychische und physische Brutalitäten, die umso schockierender erscheinen, weil sie mit den landläufigen Sentimentalitäten gepaart sind. „Ich habe nur zwei Dinge, gegen die ich schreibe, das ist die Dummheit und die Lüge. Zwei, wofür ich eintrete, das ist die Vernunft und Aufrichtigkeit.“ Horváth nannte sein Anliegen die „Demaskierung des Bewusstseins“.

Die Bühne von Patrick Bannwart war fast leer und gänzlich schwarz. Links ein Waschbecken an der Wand, rechts ein Papierkorb mit Aschenbechereinsatz, aus dem Bedürftige sich gelegentlich Kippen klauben können. An der Rückwand prangt ein übergroßes „Hope“, eingeritzt oder hingekritzelt wie ein Graffiti. Darunter ein Tisch und ein Stuhl, im Verlauf des Stückes ein Büro vorstellend. In der ersten Szene schob Markus Hering als Präparator einen Seziertisch auf die Bühne und hantierte an einer sehr realistisch gestalteten Frauenleiche herum. Er wusch sie, sammelte Leichenstücke aus dem Eimer, der das Blutwasser auffing und fütterte damit die Tauben. Hering war in dieser Rolle wahrlich in seinem Element. Wenn er im Blutwasser watend von seinem guten Herzen sprach, wurde deutlich, welcher Natur der Horváthsche Naturalismus ist. Valerie Pachners Elisabeth wirkte zerbrechlich, ihr Überlebenswille war es ebenso. Doch sie war mit keinem der sprichwörtlichen Wassern gewaschen, um zu widerstehen wie Marie, die Kleinkriminellen, deren Skrupel auch bei Prostitution nicht endeten und die ihrem Schicksal ebenfalls nicht entging. Hanna Scheibe, in blonder Plastikperücke, giftgrüner Flokatijacke, Leggins und kniehohen Stiefeln gewandet (Kostüme Cátia Palminha) war das traurige Abziehbild einer verblühenden Vorstadtschönheit. Prachtvoll weiblich indes war Katharina Pichlers Miederwarenhändlerin Irene Prantl. Als sie ihren Auftritt hatte,  schwebten Miederwaren mit Scontoschildern aus dem Bühnenhimmel herab. Sie selbst war die beste Werbung für ihre Produkte. Im Angesicht von so viel Weiblichkeit wurde schnell deutlich, warum die zarte Elisabeth in diesem Gewerbe nicht vom Erfolg verwöhnt wurde.

Regisseur David Bösch hielt fest am Naturalismus und setzte auf düster-brutale Atmosphäre. Doch das funktionierte nur bedingt, denn die poetischen Bilder, die kaum „Unterschichtencharme“ entfesselten, fesselten den Zuschauer nicht wirklich und nicht durchgängig. Behäbig ging die Geschichte dahin und lediglich einem Darsteller gelang es, mit seiner Figur lebendig und verständlich zu werden. Till Firits Schupo Alfons Klostermeyer erinnerte daran, dass Horváths Drama eine „Komödie“ ist, die sich zwar „Totentanz“ nennt, aber durchaus komische Momente hat. Firit legte diese Momente offen und gestaltete sie. Das gelang nur noch Markus Hering, der jedoch einen weitaus kleineren Part hatte.

Das Anliegen, eine Gesellschaft der Brutalität, des Egoismus und der tödlichen Bürokratie als solche zu entlarven, blieb weitestgehend Behauptung. Daher gelang es nicht wirklich, die Kollaboration der Zuschauer an diesem System, das durchaus heutig ist, anzusprechen. Das Bewusstsein der Zuschauer wurde nicht demaskiert. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen gefiel die Inszenierung dem Premierenpublikum. Bravos waren zahlreich, sowohl für Darsteller wie auch für den Regisseur.  

Wolf Banitzki

 


Glaube Liebe Hoffnung

von Ödön von Horváth

Valerie Pachner, Till Firit, Arnulf Schumacher, Markus Hering, Thomas Huber, Katharina Pichler, Hanna Scheibe, Wolfram Rupperti

Regie: David Bösch

Residenztheater Robin Hood von Angela Obst


 

Der Silberstreif am Horizont

Wie groß die Sehnsucht nach Helden sein kann, auf die man seine Wünsche nach Gerechtigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung projizieren kann, beweisen das Alter und die Kontinuität der Legenden von Robin Hood. Bereits seit dem 13. Jahrhundert ist der Name Robin Hood ein Synonym für den vogelfreien Gesetzesbrecher und die Geschichten von seinen (Helden-) Taten kursierten derzeit recht häufig im Volk. Der Name des historisch keineswegs verbrieften Gesellen fand immerhin Eingang in schottische Geschichtsbücher, wo seine Erwähnung, gemeinsam mit der seines Gefährten Little John, den Jahren zwischen 1283-85 zugeordnet wurde. Damit schuf der proschottische Chronist Andrew Wyntoun Realitäten, deren Existenz nach Ausschmückung lechzten, zumal der Historienschreiber Robin Hoods gesetzwidriges Treiben durchaus begrüßte, richtete es sich seinen Berichten nach doch gegen englische Beamte.

Robin Hood, mit großer Wahrscheinlichkeit nur eine literarische Figur, war kein Einzelfall. Ähnlich verhielt es sich beispielsweise mit Wilhelm Tell, dessen Existenz ebenfalls nie schlüssig nachgewiesen wurde, der aber dennoch zum Schweizer Volkshelden avancierte. Und noch ein Hinweis zum aktuellen Thema „Lutherjahr“. Der schlug seine Thesen keineswegs an die Tür der Wittenberger Schlosskirche, sondern legte sie einem Brief an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg bei. Dramaturgisch gibt das natürlich nicht viel her und so hält sich die Mär von den donnernden Hammerschlägen, die die eineinhalbtausend Jahre alte papistische Kirche zum Wanken brachte, unbeirrt. Also, nur wegen der Nebensächlichkeit seiner Nichtexistenz auf Robin Hood verzichten? Wir wären um ein gelungenes Theaterereignis ärmer!

Regisseur Robert Gerloff setzte die von Angela Obst auf das Wesentlichste der 456 vierzeiligen Strophen langen mittelalterlichen Quelle (Gest of Robin Hood) reduzierte Spielfassung im Residenztheater in Szene. Diese Fassung zeichnet sich zuallererst dadurch aus, dass sie beinahe gänzlich unblutig abgeht und dem Publikum der tödliche Aderlass des verratenen Helden und glänzendsten Bogenschützen in der abendländischen Literatur erspart bleibt. Wenn überhaupt etwas auf der Bühne mit Pfeilen perforiert wurde, dann war es leckeres Wildbret oder das Hinterteil der Bösewichter. Ein bisschen weh tun muss es schon! Schließlich handelte es sich bei der Inszenierung um das (seit Martin Kušejs Amtsantritt) obligatorische Familientheater, geeignet für Zuschauer ab 6 Jahren. Und wieder war es ein echtes Theaterfest, bei dem nicht nur die Kinder auf ihre Kosten kamen, und das von Groß und Klein am Ende mit frenetischem Beifall belohnt wurde.

  Robin Hood  
 

Max Koch, Pauline Fusban, Thomas Lettow, Alfred Kleinheinz

© Julian Baumann

 

Maximilian Lindners atmosphärische (Dreh-) Bühne zeigte beinahe naturalistisch eine dreistöckige mittelalterliche Burg von innen und außen. Beindruckend und überaus gelungen war der Wald von Sherwood, der, ebenfalls sehr naturalistisch gemacht, zudem gut zu Fuß war. Dieser Wald spielte mit, kollaborierte mit den Helden und erwies sich feindlich für deren Gegner. Thomas Lettows heldenhafter Robin Hood war indes nicht der makellose, stets überlegene und treffsichere Held. Er entpuppte sich auch schon mal als komische Figur, beispielsweise, wenn seine Eitelkeit mit ihm durch ging und er enttäuscht feststellen musste, dass ihn nicht jedermann kannte, weder als „Rächer der Enterbten“, noch als „Beschützer der Witwen und Waisen“ oder als „Silberstreif am Horizont“. Für diese Charakteristik wurde ein früher Sketch von Otto Waalkes bemüht.

Dem Lager der Bösewichter stand König John vor. Manfred Zapatka hatte sichtlich Vergnügen an seiner Rolle, in der er neben der donnernden Majestät auch das kleinlaute Muttersöhnchen spielte. Seinen Handlanger, den Sheriff von Nottingham, gab Gunther Eckes opernhaft (auch singend) pathetisch und blödsinnig augenrollend vor Verliebtheit. Er hatte in Lady Marian keine geringere als die Tochter des Königs im Visier. Die zierliche Mathilde Bundschuh erwies sich als echte Sprungfeder, wenn es darum ging, dem Vater heftigsten Widerstand zu leisten und ihn zur Weißglut zu treiben. Massive Rückendeckung, und das ist durchaus wörtlich zu nehmen, bekam sie dabei von ihrer überdimensionalen Amme. Arthur Klemt schreckte nicht davor zurück, verhasste aber auch geliebte Menschen in seinem üppigen Busen schier zu ersticken. Die komischste Rolle hatte wohl Thomas Gräßle als Guy of Gisbourne, der nicht nur von allen Seiten getreten und malträtiert wurde, sondern der auch echte Skrupel zeigte, weil er inwendig wohl ein Guter war. Ein Zaubertrank der Amme bewirkte, dass das inwendige Gute sich nach außen kehrte. Nebenbei hatte er auch noch sein coming out. Last but not least gab es noch Alfred Kleinheinz, dessen Mönch Bruder Tuck für die profanen Dinge des Lebens, die sinnlichen Genüsse, verantwortlich war und der den gesunden Menschenverstand vertrat.

Regisseur Robert Gerloff erzählte kindgerecht schnörkellos die Geschichte des Rebellen, der gemeinsam mit seiner Bande den Reichen nahm, um den Armen zu geben. Das ist die mittelalterliche Geschichte Robin Hoods. Dabei ließ er sich jedoch nicht abhalten, hemmungslos aktuelle Politik zu verarbeiten. Es war vorher kaum vorstellbar, was sich in dieser Geschichte alles unterbringen ließ. So wurde dem Tod von Leonhard Cohen musikalisch ebenso gedacht wie dem Bischof von Limburg und seiner Verschwendungssucht. Selbst Donald Trump kam vor. Und, und, und … So kamen auch die Erwachsenen auf ihre Kosten. Die spritzige Komödie, die vermutlich auch ein wenig von Mel Brooks (Helden in Strumpfhosen) beeinflusst war, begeisterte nicht zuletzt auch durch die Musik von Cornelius Borgolte, die mit Anspielungen und Zitaten nicht geizte. (Songtexte Josef Parzefall)

Zur Verbeugung erschien auch das Pferd Alteza, das zuletzt den glorreichen Sieger Robin Hood trug. Obgleich Robin Hood der Titelname der Geschichte war, stand am Ende ein Kollektiv Schulter an Schulter an der Rampe, dem Publikum bedeutend, das sie und gleichsam das Publikum, geeint, unüberwindlich und „der Silberstreif am Horizont“ sind. Ein herrliches Spektakel!

Wolf Banitzki

 


Robin Hood

Spielfassung von Angela Obst nach einem Szenarium von Robert Gerloff und Angela Obst

Thomas Lettow, Gunther Eckes, Mathilde Bundschuh, Manfred Zapatka, Thomas Gräßle, Arthur Klemt, Pauline Fusban, Max Koch, Alfred Kleinheinz
Live-Musiker: Cornelius Borgolte, Florian Burgmayr, Maria Hafner, Salewski
Wald/Turnierzelte/ Bogenschützen: Alexander Breiter, Claudia Ellert, Jasmin Falk, Julien Feuillet, Jenny Krug, Enrico Pollato, Mariabeatrice Scilla-Krapf

Regie: Robert Gerloff

Residenztheater  Die Räuber  von Friedrich Schiller


 

Furioser Spielzeitauftakt am Residenztheater

Die Brüder Karl, gesund und stattlich, und Franz, kränklich und hässlich, sind mit einer exorbitanten sozialen Stellung gesegnet. Und obgleich, oder gerade weil sie alle Möglichkeiten der Entwicklung haben, wachsen sie zu sehr ungleichen Antagonisten heran. Als Karl, flügge geworden, zum Studium nach Leipzig aufbricht, lässt er seine Geliebte Amalia zurück und die Verheißung, nach dem Tod des Vaters die gesamten Besitzungen und den Herrscherstatus zu übernehmen. Franz neidet dem Bruder all das und als Karl in Leipzig unbotmäßig Schulden macht und ein tödliches Duell bestreitet, verleumdet ihn der Bruder. Der Vater verstößt ihn, wie von Franz geplant. Karl ist die Rückkehr verwehrt und bevor er in den Schuldturm oder ins Gefängnis einzieht, zieht er es vor, mit einigen Spießgesellen in die böhmischen Wälder zu gehen und eine Räuberbande zu gründen. Er wähnt sich dabei in dem Glauben, für hehre Ziele wie die Freiheit und die individuelle Souveränität zu fechten, während sein Mitgenosse Spiegelberg Raub, Vergewaltigung und Totschlag organisiert und praktiziert. Als Franz dem Vater die fingierte Nachricht vom Tod des Bruders offeriert, fällt dieser in Ohnmacht. Franz sperrt den Vater, der, totgeglaubt, offiziell beerdigt wird, in ein finsteres Gewölbe und überantwortet ihn dem Hungertod. Dann geht er rücksichtslos daran, sich Amalia gefügig zu machen.

Als Karl nach 18 Jahren, getarnt als Mecklenburgischer Graf in das väterliche Schloss zurückkehrt, muss er den Betrug erkennen. Sein Weltbild fällt in sich zusammen. Franz entdeckt den Bruder und ordnet seine Ermordung an. Angesichts seiner gescheiterten Pläne begeht der intrigante Zweitgeborene Selbstmord. Karl ermordet Amalia, denn er hatte sie den Räubern versprochen, und übergibt sich selbst der Justiz. Das Kopfgeld von tausend Louisdore für seine Ergreifung vermacht Karl einem Tagelöhner mit elf Kindern: „… dem Mann kann geholfen werden.“

Schillers „Räuber“ gehört zu den bedeutendsten klassischen politischen Stücken, das zu jeder Zeit aufgeführt wurde, um politische Botschaften öffentlich zu machen. Das Verdienst bedeutender Regisseure, die sich an dem großen dramatischen Entwurf versuchten, bestand darin, stets aufs Neue die Zeitbezüge offen zu legen und zu propagieren. Was damit gemeint ist, soll ein Zitat aus einer Friedrich Luft-Kritik zur „Räuber“-Inszenierung von Fritz Kortner am Schiller-Theater Berlin im Jahre 1959 erklären: „Er (Fritz Kortner – W.B.) hat einen genauen, modernen und höchst praktikablen Entwurf von der alten Sache. Er holt das immanent Politische aus diesem Geniestück heraus. Er stößt den Zuschauer immer wieder mit der Nase auf die Gegenwartsbezüglichkeit, von denen das Buch vollsteckt.“ Was bedeutet es nun, wenn Regisseur Ulrich Rasche in einem Interview im Programmheft zur Münchner Inszenierung gesteht: „Beim Lesen verliert man oft den Überblick, auf welcher Seite man sich politisch befindet. Zeitweise wähnt man sich im sicheren Terrain klassischer linker Begrifflichkeiten, dann wieder wird aus der Perspektive einer ‚Gemeinschaft‘ argumentiert, von der nicht klar wird, wer dazugehören soll und, vor allem, wer nicht.“

  Die Raeuber Ulrich Rasche  
 

Ensemble

© Andreas Pohlmann

 

Nun, wenn man nicht weiß, wo man sich politisch selbst befindet, liegt das erst einmal am mangelhaften weltanschaulichen Selbstverständnis. Bislang, und hier sind gut und gerne zweieinhalbtausend Jahre Philosophiegeschichte angesprochen, galten ernsthafte große politische Bestrebungen der Durch- oder Umsetzung weltanschaulicher Utopien. Das mag vielleicht auch eine Vielzahl heutiger Politiker in Erstaunen versetzen, ist aber wahr. Der Mangel an humanistischen Utopien gebiert einen richtungslosen politischen Aktionismus mit höchst absurdem Antlitz, der sich selbst gefällt und am Leben erhält. Selten war Politik so sehr das Problem und so wenig die Lösung. Sie ist schlichtweg zu einem Wirtschaftszweig verkommen, der sich vornehmlich dadurch legitimiert, dass er Futter für die Nachrichtenunterhaltungsindustrie liefert. Die Zahl der Opfer macht fassungslos.  

Das soll heißen, die politische Botschaft, oder besser die fehlende (konkrete) politische Botschaft ist es nicht, was die Inszenierung von Ulrich Rasche auszeichnet, die durchaus furios genannt werden kann. Im Programmheft wird viel über das „Politische“ geschrieben, zumeist aber nur in Bezug auf ästhetische Umsetzung.

So verwundert es auch nicht, dass Rasches Inszenierungsansatz ein ästhetischer war. Er rhythmisierte den Schillerschen Text und unterlegte ihn frugal mit Musik und Gesang. Um ein geschlossenes Bild zu erreichen, schuf er zwei gewaltige, den gesamten Bühnenraum ausfüllende Laufbänder, insgesamt vierspurig. Die Laufbänder ließen sich in beide Richtungen neigen, im Ganzen heben und senken. Die gesamte Konstruktion konnte mit der Hebebühne sogar in den Bühnenhimmel gehoben werden. Das Konzept war so simpel wie genial: die Zeit oder die Geschichte als ein Weg, eine Straße. Auf diesen Geschichten – oder geschichtlichen Weg schickte Rasche die Darsteller, ließ sie abschüssiges Gelände hinab, Berge hinauf klettern und Ebenen durchwandern. Unterschiedliche Protagonisten oder Gruppen marschierten dabei im Gleichschritt miteinander oder in gegenläufigen Richtungen.  Sie marschierten unentwegt. Sie mussten sogar durch Gurte und Leinen gesichert werden, denn sie erklommen schwindelerregende (dramatische) Höhen oder wandelten Abgründen entgegen.  Und so wie die Darsteller stetig marschierten, wurden sie beinahe durchgängig musikalisch-rhythmisch begleitet. So bombastisch das Bühnenbild auch war, es stand, und das ist höchst lobenswert, ganz und gar im Dienst der Sprache. Die wurde, elektronisch verstärkt, zelebriert, langsam und überaus deutlich. Die Protagonisten waren nicht über spielerischen Gestus auszumachen, sondern durch ihre sprachliche Gestaltung.

Es war eine wunderbare Erfahrung, Darsteller und Darstellerinnen, wie Franz Pätzold (Karl Moor), Valery Tscheplanowa (Franz Moor), Nora Buzalka (Amalia) Götz Schulte (Graf Maximilian von Moor) oder Thomas Lettow (Spiegelberg) auf diese Weise völlig neu zu entdecken und sich an ihrer gestalterischen Sprechkraft zu erfreuen.

Wenn Ulrich Rasche in seinem Interview dazu feststellt: „In der Verbindung von Musik und Gedanke entfaltet die Sprache erst ihr ganzes Potential“, kann man nur uneingeschränkt zustimmen und gleichsam den Hut ziehen. Rasches Inszenierung bescherte dem Münchner Publikum einen aufsehenerregenden Abend, den man so schnell nicht vergessen wird, der aber auch nicht frei von Gefahren war. So wurde der Zuschauer mit ästhetischen Elementen konfrontiert, wie sie aus Diktaturen hinlänglich bekannt sind. Von der ideologischen (Überzeugungs-) Kraft des Gleichschritts marschierender Massen zeugen eine Menge Werke aus der Nazizeit, der Stalinistischen Sowjetunion und selbst aus vielen Ostblockländern zu Zeiten des Eisernen Vorhangs. Wenn die Räuber, allen voran Karl Moor und Spiegelberg, wortgewaltig und wie Donnerhall gegen die Stadt marschieren, in der man den Mitgenossen Roller gerichtet hat, um die Brandfackel und den Tod hineinzutragen, entsteht Gänsehaut. Da wabert Nebel und Licht (Gerrit Jurda) macht die Szene zu einem mitreißenden Fanal. Das sind auch in der Realität Momente, in denen das Gehirn auf Emotionsmodus umschaltet und es gibt keine Garantie, dass die Situation beherrschbar bleibt, noch, dass der Zuschauer seine Kritikfähigkeit behält. (Das merkt einer an, der vor derartigen kämpferischen Aufmärschen und Kundgebungen in der DDR stets die Flucht ergriffen hat.)

Aber Theater soll vor allem streitbar sein, um das Publikum in den Dialog zu zwingen. Sonst ist es bloße Unterhaltung.  Diese Inszenierung verspricht in jedem Fall einen ästhetisch außergewöhnlichen und wirkungstechnisch sinnvollen Zugang zum Schillerstück. Es wird Wort für Wort mit einer solchen Intensität und Klarheit über die Rampe gebracht, dass Neuentdeckungen unvermeidlich sind. Die unbeschreibliche Schönheit der Schillerschen Sprache wird überdeutlich; es wird aber auch hörbar, dass sich zum Erbrechen süßlich-kitschige Passagen im Stück befinden oder Bilder, die aus einem Trash-B-Horrormovie stammen könnten. Der Preis für die fantastische Horizonterweiterung: Vier Stunden inklusive einer Pause.

Wolf Banitzki

 


Die Räuber

von Friedrich Schiller

Götz Schulte, Valery Tscheplanowa, Franz Pätzold, Nora Buzalka, Thomas Lettow, Max Koch, Leonard Hohm, Marcel Heuperman/Alexander Weise, László Branko Breiding, René Dumont, Moritz Borrmann, Yasin Boynuince, Kjell Brutscheidt, William Cooper, Emery Escher, Toni Jessen, Max Krause, Bekim Latifi, Cyril Manusch,

Sänger/Musiker: Sandro Schmalzl (Tenor), Martin Burgmair (Bassbariton), Gustavo Castillo (Bassbariton),  Mariana Beleaeva (Violine), Jenny Scherling (Viola), Heiko Jung (E-Bass) Fabian Löbhard (Percussion)

Regie: Ulrich Rasche

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