Volkstheater Dämonen von Lars Norén


 

Die Sehnsucht stirbt zuletzt

Stücke mit zwei Paaren sind scheinbar im Trend, siehe Jasmin Rezas „Gott des Gemetzels“ oder „Geächtet“ von Ayad Akhtar. Es ist eine exzellente dramaturgische Ausgangssituation, um mit der psychologischen Abrissbirne die Potemkinschen Beziehungsfassaden einzureißen und die ganze Erbärmlichkeit der bürgerlichen Eheexistenz bloßzulegen. Jede zweite Ehe wird geschieden. Da kann man getrost von Erbärmlichkeit sprechen, zumal es keine Garantien gibt, dass die verbliebenen anderen 50 Prozent der Ehen harmonisch, glücklich und intakt sind. Jeder kennt Beziehungen, die lediglich aus Versorgungsgründen oder wegen der gesellschaftlichen Zwänge Bestand haben, in denen irrsinnig viel Energien aufgewendet werden, um den Schein zu wahren, die aber eigentlich wahre Höllen sind. Wenn das Modell Ehe oder monogame Beziehung infrage gestellt ist, dann doch wohl aus gutem Grund.

Der 1944 geborene schwedische Dramatiker Lars Norén ist seit Ende der 70er Jahre als Dramatiker eine feste Größe in den Spielplänen Skandinaviens, was nicht zuletzt Beweis oder zumindest Indiz dafür ist, dass seine Stücke den Nerv der Zeit treffen. „Dämonen“ ist so etwas wie eine verknappte Comic-Version von Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ Norén analysiert und psychologisiert nicht; er zitiert die Sprache der Verlorenen, deren Sätze immer wieder mit „Ich“ beginnen und die, wenn sie zum „Du“ kommen, ihren Aggressionsstau kaum unter Kontrolle haben. Seit neun Jahren lebt das kinderlose, wohlsituierte Paar zusammen. Frank: „Ich liebe dich. Aber ich kann dich nicht leiden.“ Und Katarina: „Ich will nur weglaufen.“ Doch sie tut es nicht. Das gemeinsame Martyrium hat längst den Status quo eines Betonfundaments erreicht: „Entweder ich bringe dich um, oder du mich, oder wir trennen uns, oder wir machen so weiter.“

  Daemonen  
 

Carolin Hartmann, Jakob Geßner, Jean-Luc Bubert, Magdalena Wiedenhofer

© Gabriela Neeb

 

Es ist kein normaler Tag, an dem die Geschichte spielt. Frank hat die Urne seiner verstorbenen Mutter zugeschickt bekommen, die am nächsten Tag bestattet werden soll. Man wartet auf den Bruder, doch der sagt zu beider Entsetzen für den Abend ab, will erst zur Beisetzung anreisen. Das bedeutet, die beiden sind einander schutzlos ausgeliefert für den Abend. Schnell entscheidet man sich, die Nachbarn Jenna und Thomas einzuladen. Das Unvermeidliche findet dennoch statt, nur kann am Ende auch die Beziehung der Nachbarn unter Kollateralschaden verbucht werden. Allerdings bedurfte es dazu nur einiger weniger Stichwörter. Jenna, sie kämpft gegen den peinlichen permanenten Milch- und Schweißfluss an, ist mit ihrer Mutterrolle vollkommen überfordert und sehnt sich nach einem wirklichen Leben jenseits ihrer Pflichten. Frank macht ihr unverhohlene Avancen, was die verlegenheitstaumelnde Frau über die Maßen irritiert. Sie beklagt ihre Verkümmerung und schämt sich zugleich dafür. Katarina revanchiert sich mit gleicher Münze, was Thomas völlig überfordert. Als er zudem erfahren muss, dass seine Frau sich längst von ihm abgewandt hat, sich geradezu vor ihm ekelt, stürzt seine Welt aus Sehnsucht nach Playstation und Vaterstolz zusammen. Am Ende finden Frank und Katarina in Liebe zusammen, ohne sich deswegen leiden zu können. Katarina: „Liebst du mich? … Sag mir, dass du mich liebst. Sag es mir so, dass ich es dir glaube…“ Und Frank haucht in die untergehende Sonne: „Ich liebe dich.“ Hoffnung gibt es weder für das eine noch das andere Paar.

Für die Inszenierung auf der kleinen Bühne des Volkstheaters schuf Pia Greven eine Guckkastenbühne, die den Vorzug hatte, dass die Geschichte nicht heraus schwappen konnte. Die Piranhas blieben in ihrem Aquarium. Die Bühnensituation hatte allerdings auch einen nicht zu vernachlässigenden Nachteil. Die Körper der Darsteller waren bis auf ganz wenige Momente nie ganz zu sehen. So blieb die Darstellung immer ein wenig fragmentarisch. Regisseur Nicolas Charaux schuf eine hochkonzentrierte, enorm spannungsgeladene Inszenierung. Er tat dabei etwas, was heutigentags auf dem Theater selten geworden ist, er arrangierte nicht nur den Text, sondern auch die Pausen. Damit lud er die von latenten Aggressionen aufgeladenen Situationen bis zur Überspannung auf.

Jean-Luc Bubert spielte einen Frank, der nicht nur äußerlich an einen verschlagenen, bösartigen und ignoranten John Malkovich erinnerte. Bubert, der hier seiner vermutlich natürlichen Neigung, den entfesselten Furor zu geben, widerstehen musste, hatte beeindruckende Momente. Seine Jay Hawkins „I put a spell on you“ Karaoke-Nummer gehörte zweifellos dazu. Dabei war der Song gut gewählt, beginnt er doch mit den Zeilen: „Ich habe dich verzaubert / Denn du gehörst mir.“ Carolin Hartmanns Katarina glänzte nicht unbedingt durch maßvolle Zurückhaltung. Ihr provokanter Umgang mit Frank wies nahezu pathologische Züge auf. Der revanchierte sich mit unangekündigter physischer Gewalt. Beide waren in ihrer pervertierten Liebe gleichermaßen bösartig und schenkten einander nichts. Bis zur Erbarmungswürdigkeit geriet Magdalena Wiedenhofers Jenna. Sie gewann nie die Hoheit über die eigenen Beziehungsprobleme, hatte sie doch noch nicht einmal die Kontrolle über ihren Körper. Die, insbesondere für Männer schwer erträgliche Körperlichkeit von jungen Müttern, die ihren Milchfluss nicht unter Kontrolle haben, war auf unangenehme Weise glaubhaft. Tomas, von einem nickelbebrillten Jakob Geßner gespielt, wurde sich im Schlachtgetümmel schnell seiner Grenzen bewusst und litt bisweilen, wie alle anderen auch, unter Kontrollverlust.

Die eineinviertelstündige Inszenierung hatte berührende und komische Momente, obgleich sie einige Rhythmusstörungen aufwies, die wohl auch dem sehr brüchigen Text geschuldet waren. Sie war sehenswert, nicht zuletzt wegen der Leistung der Schauspieler. An Aktualität mangelte es ihr angesichts der fortschreitenden Beziehungslosig- und unfähigkeit in der heutigen Gesellschaft nicht, denn die Sehnsucht, die in Melody Gardots „ Love Me Like A River Does“ musikalischen Ausdruck fand, stirbt zuletzt, wenn alle Hoffnung längst perdu ist.

Wolf Banitzki

 


Dämonen

von Lars Norén

Jean-Luc Bubert, Jakob Geßner, Carolin Hartmann, Magdalena Wiedenhofer

Regie: Nicolas Charaux

Volkstheater Katzelmacher  nach dem Film von Rainer Werner Fassbinder


 

Halbherzig

Eine bleierne Atmosphäre lastet auf der Kleinstadt. Eine Gruppe junger Menschen hangelt sich durch ein Leben aus Inhaltslosigkeit, Langeweile und Dumpfheit. Es wird in einer sehr armen Sprache, die auf das Format von allgemeinverständlichen, undifferenzierten Piktogrammen reduziert ist, über Geld gesprochen, über Sexualität und über Macht, die zumeist von den Männern ausgeht und sich gegen die Frauen richtet, die, wie es scheint, nie etwas anderes erfahren haben. Die Situation in dieser geschlossenen Gesellschaft entwickelt sich zu einer Brutstätte. Darin ein öder Teig, dumpf und ohne intellektuelle Gewandtheit. Elisabeth: „Jeder ist besser wie keiner. Wenn ich so ausschauen tät wie du, tät ich mich vor mir selbst schämen. Und dafür auch noch ein Geld verlangen.“

Dann erscheint Jorgos auf der Bildfläche, ein „Fremdarbeiter“, ein „Katzelmacher“. Er ist von der geschäftstüchtigen Elisabeth in ihrer „Wundertütenfabrik“ angestellt worden. Man vermutet in ihm einen Italiener, doch er entpuppt sich als „Griech von Griechenland“. Seine Anwesenheit wirkt wie ein Treibmittel und der Teig beginnt bedrohlich zu quellen. Weibliche Begehrlichkeiten richten sich auf den Mann, der kaum etwas versteht oder gelegentlich auch vorgibt, nichts zu verstehen. Als Gunda sich ihm unzweideutig nähert und abgewiesen wird, bezichtigt sie ihn der Vergewaltigung. Schließlich bedrängt ihn Marie; Jorgos ergibt sich und schläft mit ihr. Marie erklärt dem Mann, „dass ein Mädchen das braucht“. Das bringt Erich in Harnisch, denn bis dahin hatte er eine sexuelle Beziehung mit ihr. Er stachelt wutschnaubend gegen den ahnungslosen Ausländer auf. Man denkt laut über Kastration nach und darüber, den „Griech“ der Marie in Benzin eingelegt zum Geburtstag zu schenken. Sie schlagen den Mann gemeinschaftlich zusammen. Doch es ist nicht die Gewalt, die den Griechen letztlich aus der Stadt treibt, sondern die Aussicht, mit einem Türken zusammenarbeiten zu müssen. „Türkisch nix gut.“ Soweit die Geschichte des Theaterstücks von Fassbinder, das 1968 am „antitheater“ in München seine Uraufführung erlebte.

Regisseur Abdullah Kenan Karaca wählte für seine Spielfassung den ebenfalls 1968 erschienenen Film von Fassbinder. Er reduzierte die Personage auf sieben Akteure und brachte eine sehr ambitionierte Inszenierung auf die Bühne. Das überwältigende Bühnenbild von Marlene Lockemann erinnerte an ein überdimensionales Glanzbild mit heiterer Landschaftsidylle aus dem 19. Jahrhundert. Darin eingepasst waren die Darsteller in zufälligen Posen und durchweg krampfhaft grinsend. Sie steckten in einheitlichen Latexdirndln (Kostüme: Sita). Die Koteletten der Männer waren zu großen Backenbärten aufgetollt. Die Inspiration dazu lieferte ganz sicher der Film, in dem die auffälligen Koteletten eine peinliche modische Attitüde der späten sechziger Jahre waren. Dann purzelte der knappe Text von Fassbinder wie Gesteinsbrocken aus diesem Bild heraus in den Saal. Wie auch in Fassbinders Film passiert kaum etwas. Man redet, man positionierte, man arrangiert sich.

  Katzelmacher  
 

Carolin Hartmann, Pascal Fligg, Mara Widmann, Jonathan Müller

© Gabriela Neeb

 

Das hochartifizielle Bühnenbild und der darauf abgestimmte, mechanische Spielgestus verhinderte eines weitestgehend, nämlich das Entstehen von Figuren aus Fleisch und Blut. Jeder Satz war Behauptung und nicht Ausdruck emotionaler Zustände. Jede Bewegung war Deklaration einer Figur und nicht Handeln aus einer Notwendigkeit heraus. Die Inszenierung erinnerte an ein buntes, niedliches Karussell, das sich drehte, als wäre das Leben ein Fest. Alles war schrill und überzeichnet und ein wenig erinnerte diese Inszenierung an die Arbeiten von Herbert Fritsch. Die Geschichte nahm exemplarischen Charakter an. Der Zwiespalt zum realen Leben blieb gleichwohl nicht außen vor, denn die Posen wurden mit der Zeit beschwerlich und gerieten zu peinlichen Verrenkungen. Das Lächeln gefror zu Grinsen und die hässliche Visage der Brutalität, der Empathielosigkeit, der Selbstgerechtigkeit und Anmaßung hinter der Fassade wurde sichtbar. Regisseur Abdullah Kenan Karaca stieg mit seiner Inszenierung sogar in die Tiefen des Unterbewusstseins, wenn er den verglasten Raum unter der Bühne zum Showroom der geheimsten Wesenszüge und Wünsche der Akteure machte. Die krochen animalisch wie Raupen oder spreizten sich in ihrer Geilheit.

Es war ein grandioser Einfall, dem eine enorme Magie innewohnte, bedeutete dieses Bild in seiner Zeitlosigkeit doch zugleich, dass hier auch deutsche Geschichte am Pranger stand und in der war Fremdenhass, Antisemitismus und nationale Überheblichkeit schon immer fest verankert. Stimmt nicht? Doch, man muss sich nur mal damit beschäftigen. Und zwar mit den kritischen Betrachtungen und nicht mit den Weihnachtsansprachen der Bundespräsidenten. Das würde vielleicht auch verhindern, dass nicht stets aufs Neue mit gespieltem Entsetzen die Frage gestellt würde: Woher kommt das nur? Wir sind doch eigentlich gut! Einfache Antwort: Aus unserem tiefsten Innern!

Leider kam es zu einem gravierenden Bruch als Timocin Ziegler als Katzelmacher die Szene betrat. Groß, offene sympathische Erscheinung, knackig in Leder und legerem Hemd, stellte er vom ersten Augenblick seines Erscheinens an einen ästhetischen Fremdkörper dar. Fremdkörper war sicherlich beabsichtigt, denn als solcher wurde er von der Gesellschaft im Stück begriffen, doch die Gegenüberstellung von Groteskem und Realistischem funktionierte nicht. Der Bruch wurde noch eklatanter, als Jorgos/Katzelmacher, der deutschen Sprache nicht mächtig, Goethe zitierte, von dem die Eingeborenen vermutlich noch nie etwas gehört hatten. Deren Literatur, der Katzelmacher las aus einem Büchlein von Marie, erinnerte an Marquis de Sades „Justine“. Sollte das zutreffend sein, würde das an Missbrauch grenzen, denn de Sade war ein ernstzunehmender philosophischer Kopf, der viele Jahre seines Lebens hinter Gittern verbringen musste, weil er „anders“ war und der einen Freiheitsbegriff definiert hatte, der weit über den Geist seiner Zeit hinausging. Der zitierte Text diente lediglich dazu, Marie ihrer perversen Fantasien zu überführen.

Nein, Jorgos war nicht besser als die Eingeborenen, zumindest sah Fassbinder das so, als er ihm den Satz in den Mund legte: „Türkisch nix gut.“ Es ist nicht nachvollziehbar, warum Regisseur Abdullah Kenan Karaca diesen ästhetischen Bruch beging. Nicht nur, dass er dadurch die Wirkung deutlich verringerte, er verschenkte damit zugleich die Chance, auch den Fremden in seinen Schwächen und Eigenarten zu überzeichnen. Das Bild wäre ein ehrlicheres gewesen, ganz sicher mit durchschlagender Wirkung. So schlug die Inszenierung in die Kerbe der allgegenwärtigen Verklärung, die, und das beweisen die momentanen Zustände und Vorgänge im Land überdeutlich, mit verheerenden Folgen realitätsfremd sind. Dabei hat doch gerade Abdullah Kenan Karaca aufgrund seiner Wurzeln einen echten Vorteil, wenn es darum geht, in jede Richtung Vernunft walten zu lassen. So strandete ein großer ästhetischer Wurf leider in Halbherzigkeit.

Wolf Banitzki


Katzelmacher

nach dem Film von Rainer Werner Fassbinder

Paul Behren, Pascal Fligg, Carolin Hartmann, Jonathan Müller, Tamara Theisen, Mara Widmann, Timocin Ziegler

Regie: Abdullah Kenan Karaca

Volkstheater Schuld und Sühne nach dem Roman von Fjodor Dostojewski


 

 

Der Weg in die Radikalität

Der junge Rodion Romanowitsch Raskolnikow, bis vor kurzem noch Jurastudent, hatte einen Artikel verfasst, in dem er die Ansicht vertrat, dass es gewöhnliche und ungewöhnliche Menschen gab. Letzteren sprach er das Recht (und bis zu einem gewissen Grad auch die Pflicht) zu, gegen die Gesetze verstoßen zu dürfen, um ihre Ideen umsetzen zu können. Er selbst, inzwischen völlig mittellos, hält sich für einen ungewöhnlichen Menschen. Um sich selbst von seinem Berufensein zu überzeugen, tötet er die skrupellose und von niederen Beweggründen getriebene Pfandleiherin Aljona Iwanowna. Unglücklicherweise wird ihre Schwester Lisaweta Iwanowna, ein harmloses und unscheinbares Geschöpf, Zeugin des Mordes. Raskolnikow entscheidet sich, eher unfreiwillig, auch sie zu töten. Die Tat paralysiert den Täter, denn fortan muss er sich selbst und der Gesellschaft gegenüber verantworten. Der (Selbst-) Erkenntnisprozess gleicht einem fiebrigen Wahn, wobei Raskolnikow an seinen eigenen Anschauungen scheitert. Der Untersuchungsrichter Porfirij hat, dank einiger Indizien und aufgrund seiner hervorragenden Beobachtungsgabe schnell einen Verdacht gegen Raskolnikow; allerdings hat er keinerlei Beweise. Und so entspinnt sich zwischen den Beiden ein subtiles Katz-und-Maus-Spiel auf Weltanschaulich-ethischer Ebene.

Christian Stückl, der eine eigene, höchst bemerkenswerte Spielfassung geschrieben hat, brachte das epochale Drama nun auf die Bühne des Volkstheaters. Im düsteren Grau des Petersburger Elends um 1860, in dieser Zeit hob Zar Alexander II. die Leibeigenschaft in Russland auf, vermittelte Stückl ein Destillat des vierhundertfünfzigseitigen Romans, in dem er die Frage nach der Wertigkeit menschlichen Lebens verhandelt. Überall auf der neoliberalen Welt brechen zurzeit Konflikte auf, die in Gewalt eskalieren. Doch Stückl fragt nicht danach, ob Menschen das Recht haben, für eine „bessere“ Welt auch töten zu dürfen. Mehr als einmal zitiert er die Rolle Napoleons, einer der großen Schlächter der Geschichte, ebenso wie der Prophet Mohamed oder römische Cäsaren. Die Fragestellung nach Wert und Unwert des Lebens, wie sie haarfein im Dostojewskischen Werk erörtert wird, ist sicherlich spannend, doch die Frage, wie Raskolnikow zu seiner Tat, die eines radikalisierten „Moralmenschen“, kommen konnte, ist allemal spannender. Es war ein theoretischer Diskurs, der nur bedingt, doch hinreichend genug auf Ästhetik und schauspielerische Höhenflüge baute. Stefan Hageneiers fachwerkartiges Bühnenbild mit einigen wenigen gestaltlosen Möbeln lenkt dabei nicht ab, war lediglich Ausdruck von materieller Bedürfnislosigkeit. Die wird hier nicht als Elend, sondern als Ausgangspunkt begriffen für Ideen, die nicht auf Besitz basieren.

Mehrmals warf Raskolnikow, mal bissig und schneidend, mal tief in sich versunken und angewidert von Paul Behrens gespielt, seinem Freund Rasumichin vor, die Ideen der Sozialisten zu Unrecht zu verschmähen. Zwar teile er die Auffassung nicht, der Mensch sei ausschließlich Produkt seiner Umwelt, auf seinen eigenen (Gestaltungs-) Willen möchte er keinesfalls verzichten, doch treffe diese Determiniertheit durchaus in hohem Grade zu. Raskolnikow ist ein vom Leben enttäuschter und desillusionierter Mensch, der gegen die Gesellschaft zu opponieren beginnt und sich zunehmend dieser Gesellschaft verweigert. Sein Nihilismus steigert sich bis zu dem Punkt, an dem er zur mörderischen Tat fähig wird. Aus Verdruss über die Gesellschaft und der Abkehr von ihr, erhob er sich über sie und über ihre Moral, die ihm längst als widersinnig und verderbt erschien. So funktioniert Radikalisierung. Die Pervertierung des Geistes ist also nicht Produkt einer Ideologie oder einer Religion, sondern Resultat gesellschaftlicher Sinnlosigkeit und Leere. Raskolnikow entging letztlich dem „Gewissenswurm“ nicht, den ihm der Untersuchungsrichter Porfirij, liebenswert-schrullig und nervig-penetrant von Pascal Fligg gegeben, immer wieder ins Hirn pflanzte, weder im Roman, noch in Stückls Inszenierung.

  Schuld-und-Shne  
 

Jakob Geßner, Paul Behren, Carolin Hartmann

© Gabriela Neeb

 

Jakob Geßners Rassumichin radikalisierte sich nicht. Der realitätsnahe Student wusste ebenso um die Schwächen der Gesellschaft und ihrer Institutionen, rang aber verzweifelt um den Freund, der sich ihm und der Gesellschaft in Wort und Tat, hier Tatenlosigkeit, zunehmend entzog. Der Student der Medizin Sossimow, Moritz Kienemanns brachte ein wenig Salonkomödie in den ernsten und ernsthaften Diskurs, konterkarierte die Qualen der um Wahrheit und Anschauungen ringenden Homo Faber mit seiner bourgeoisen Oberflächlichkeit. Carolin Hartmann gab die Sonja, eine durch Elend in der Familie, die den Ernährer durch einen Unfall verloren hatte, zur Prostitution gezwungene Frau. Sie gab eine zur Liebe fähige, in ihrer Existenz zu bemitleidende Kreatur, die sich am Ende als Rettung für Raskolnikow entpuppen sollte. Der von ihr verkörperten ehrlichen menschlichen Regung konnte vertraut werden. Sie ist in der Bedrängnis die letzte Bastion die gebaut werden kann.

Die zweite weibliche Figur war Dunja, Raskolnikows Schwester, gespielt von Magdalena Wiedenhofer. Ihr Part beschränkte sich im Wesentlichen darauf, sich von Luschin, einem Rechtsanwalt, widerwärtig glatt und geschniegelt verkörpert von Oliver Möller, heiraten zu lassen, um dem Elend zu entgehen. Diese Figur nutzte Christian Stückl, um den Urvater der Ökonomie, Adam Smith (1723-1790) zu Wort kommen zu lassen. Der plädierte nämlich dafür, dass jeder ausschließlich seinem eigenen Egoismus frönen sollte, denn der führe in den persönlichen Wohlstand und dieser wiederum bereichere damit den Wohlstand der Gesellschaft. Luschins Statement, über das Ziel und den Weg seines Lebens, ungeachtet der Kollateralschäden und der zersetzenden Tendenzen in und für die Gesellschaft, führte die Zuschauer ins Heute. Videoprojektionen bebilderten dieses Heute schlaglichtartig. Stückl entlarvte damit einen wesentlichen Aspekt der heutigen Gesellschaftskrise: Geld ist keine Idee und Egoismus schafft keine Gesellschaft, vielmehr zerstört sie dieselbe. Und die Radikalisierung resultiert aus der Bindungslosigkeit des Individuums, dem in der Gesellschaft kein Wert mehr zugestanden bekommt, außer dem des materiellen Besitzes. Diese Wahrheit ist einfach und richtig und der Hinweis, sich doch noch einmal kritisch  mit den Ideen der Sozialisten zu beschäftigen, um das gesellschaftliche Leben wieder auf den Menschen zurückzuführen und nicht auf die Ökonomie, erscheint sinnvoll.

Stückls Inszenierung war diskursiv und dabei nicht ideologisch, sie war politisch aber kein Polittheater und sie war durchaus anstrengend, obgleich die Ästhetik dezent in den Hintergrund getreten war, um den Argumenten Raum zu geben. Sie war dennoch nicht langatmig oder öde, weil gewichtige Inhalte transportiert wurden. Es war gutes Theater mit einer brandaktuellen Botschaft.

 

Wolf Banitzki

 


Schuld und Sühne

von Christian Stückl nach dem Roman von Fjodor Dostojewski

Paul Behren, Pascal Fligg, Jakob Geßner, Carolin Hartmann, Moritz Kienemann, Oliver Möller, Magdalena Wiedenhofer

Regie: Christian Stückl

Volkstheater Die Odyssee nach Homer


 

Düster und laut

Zehn Jahre hatte der Trojanische Krieg gedauert. Dann gelang es Odysseus, der Listenreiche genannt, mit dem „Trojanischen Pferd“ die Wehrhaftigkeit der Stadt des Priamos zu brechen. Am Ende waren auf beiden Seiten eine Vielzahl der bedeutendsten „Helden“ zu beklagen, bei den Trojanern beispielsweise der Tod Hektors, auf griechischer Seite der des Achilleus. Die Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht und ausgelöscht. Auch die Rückreise wurde zu einem tödlichen Martyrium und dauerte weitere zehn Jahre, denn Odysseus hatte sich den Zorn Poseidons zugezogen. Die ganze Reise war geprägt von den Ränken der Götter. Nachdem Odysseus und seine Krieger die Kikonen überfallen und ausgeplündert hatten, entkamen sie nur mit Mühe, nachdem sich die Feinde neu formiert und zurück geschlagen hatten. Bei den Lotophagen, den Lotosessern, gerieten sie durch den Nektar der Blüten in einen Dauerrausch und vergaßen ihre Mission. Schließlich brachen sie doch wieder auf und gelangten zu den einäugigen Zyklopen. In einer Höhle trafen sie auf Polyphemos, Sohn des Poseidons, der mal eben sechs der Seefahrer fraß. Die Männer blendeten den Riesen und entkamen, im Fell der fliehenden Widder verborgen. Nächste Station: Insel Aiolia. Äolos, Herr über die Winde, beschenkte die Heimkehrer mit günstigem Wind. Doch er gab ihnen auch einen Schlauch mit einem Gegenwind mit. Und als sie Ithaka, das Reich Odysseus, fast erreicht hatten, öffneten die Genossen den Schlauch, in dem sie üppige Schätze vermuteten, und ein furchtbarer Wind verschlug sie erneut in weite Fernen des Westens.

Auf Laistrygon verlor Odysseus einen Großteil seiner Gefährten und Schiffe, denn die Laistrygonen waren ein  unzivilisiertes Volk von Riesen und Kannibalen. Auf Ääa fiel er in die Hände der Kirke, die die Hälfte seiner Mannschaft in Schweine verwandelte. Odysseus, durch einen Zauber vor Verwandlung geschützt, errang alsbald die Liebe Kirkes und verweilte ein ganzes Jahr auf der Insel. Nächste Station war das Totenreich, das Odysseus als einziger Mensch über den Weltstrom Okeanos erreichte und lebend wieder verließ. Dort traf er neben den gefallenen Gefährten aus dem Krieg auch Tantalos, Sisyphos und seine Mutter. Es gelang Odysseus, dem Gesang der Sirenen zu widerstehen und verlor sechs seiner Mitstreiter an das Meerungeheuer Skylla. Auf Thrinakia fielen Odysseus ausgehungerte Gefährten während seiner Abwesenheit über die heiligen Rinder her und schlachteten sie. Jetzt war für Zeus das Maß voll und er zerstörte das Schiff der Heimkehrer mit einem gewaltigen Blitz. Einziger Überlebender war Odysseus, der an die Gestade von Ogygia gespült wurde, wo er in die Arme Kalypsos sank. Nach einer weiteren sehr langen Zeit endlich daheim in Ithaka angekommen, tötete er eine große Zahl von Freiern, die Odysseus Ehefrau und seinen Thron belagerten, und eine beträchtliche Zahl andrer Mitbürger, die ihn, der als Bettler erschienen war, verhöhnt hatten.

  Odyssee  
 

Jakob Geßner, Jean-Luc Bubert, Sebastian Wendelin

© Arno Declair

 

Diese Geschichte erzählte Simon Solberg bei wenigen Auslassungen mit fünf Darstellern in nur einer und einer halben Stunde auf durchaus verständliche und kurzweilige Weise. Natürlich konnte es nicht nur darum gehen, die „Odyssee“ nach Homer zu erzählen, sondern darum, eine heutige Lesart zu finden und damit eine gültige Botschaft in die Welt zu bringen. Ganz im Sinn Friedrich Engels, der meinte, dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Kriegen sei, begann die Odyssee um 1200 v.Ch., der vermeintlichen Zeit des trojanischen Krieges, und reichte bis in die heutigen Tage. Das machte Sinn. Die Darsteller dokumentierten prägnante Kriegsdaten auf den schwarzen Seitenportalen der Bühne, über die immer wieder auch Bilder von Kriegen flimmerten. So war es nur konsequent, dass die Zuschauer die gesamte Zeit über in einen sehr düsteren Bühnenraum blickten. Umso schmerzhafter und eindringlicher war das blendende Licht, das in einigen Szenen in den Zuschauerraum gefeuert wurde.

Markus Pötters Bühnenbild beschränkte sich auf einige Metallstangen, die aus dem Boden in den Himmel ragten und so Segelmasten der griechischen Schiffe beschrieben. Dünne Plastikfolie, gelegentlich als luftige Gewänder eingesetzt, fungierte als fliegende Gischt und machte so den Sturm und die tosenden Wetter sichtbar. Herausgenommen aus dem Boden wurden die Metallstangen zu Rudern, zu Waffen oder zu einem Bugspriet, an dem sich Ertrinkende klammerten, während der Rumpf des Schiffes herumgeschlendert wurde. Das erzeugte, untermalt vom donnernden Toben des Meeres, eine gewaltige Dynamik. Dynamik ist ja bekanntermaßen ein Markenzeichen Solbergschen Theaters, der seinen Darstellern viel exzessiven Körpereinsatz abverlangt. Und die Beteiligten waren mehr als willig, auch, was den stimmlichen Einsatz anbelangte. Überhaupt ging es über weite Strecken sehr düster und laut zu. Kriegsszenen, zumeist verbunden mit grell flimmernden Bildern, wurden mit brachialen Bässen unterlegt, die den Zuschauer seine eigenen Eingeweide spüren ließ. Die Wirkung war unbestritten und dem Thema und dessen Umsetzung auch durchaus angemessen. Es gab allerdings auch leise Moment, z.B., wenn die Darsteller ans Mikrofon an der Rampe traten und mit großer Eindringlichkeit von den Gefühlen, Zweifeln und Leiden der Männer erzählten. Und selbstredend gab es auch komische Momente, denn gänzlich ohne Blödelei scheint es nicht zu gehen. So erinnerte Jean-Luc Buberts Zyklop mit dunkler Sonnenbrille auf bühnenfüllender segelförmiger Leinwand, ein Zyklop ist ja schließlich ein Riese, an Helge Schneider. Dafür spricht, dass wohl noch niemand herausgefunden hat, ob Schneider nicht vielleicht doch ein noch größerer Tragöde als Komödiant ist.

Sexy und verführerisch, selbst in der Kolportage, war Luise Kinners Kirke. Ansonsten hielt sie physisch und stimmlich mit ihren Kollegen mit, auch wenn sie als männlicher Gefährte agierte. Sebastian Wendelin gab einen facettenreichen Odysseus, der selbst mit vielen Schwächen ausgestattet, von Verzweiflung gepeinigt und des Krieges längst müde war. Jakob Geßner brauchte kaum mehr zu tun, als sich seiner Kleidung zu entledigen, um glaubhaft einen Achilleus vorzustellen. Dass er mehr kann, ist natürlich unbestritten und das zeigte er auch in dieser Premiere.  Moritz Kienemann überzeugte vornehmlich als Elpenor, dessen Tod im Mythos etwas Tragikomisches hatte. Er hatte sich volltrunken auf das Dach des Wohnhauses der Kirke zum Schlafen gelegt. Als seine Gefährten am nächsten Morgen zu Aufbruch bliesen, hatte er vergessen, wo er sich befand, fiel vom Dach und brach sich das Genick. Kienemann spielte den Elpenor als einen bisweilen ängstlichen und zögerlichen Genossen, der von den anderen auch schon mal gehänselt wurde.

Als sich die Darsteller am Ende verbeugten, glich die Bühne einem Schlachtfeld und das ist sie auch gewesen. Simon Solberg hatte eine beachtliche und sehr wirkungsvolle Geschichte auf die Bühne gebracht, die ab und an leider ein Quäntchen zu klamaukig war. Wären einige, auf platte Anbiederung zielende Auslassungen nicht gewesen, die ablenkten und als ärgerlich empfunden wurden, wäre der Abend nahezu vollkommen gewesen. Die Odyssee bis in die heutigen Tage zu erzählen und am Ende die schwarzen Fahnen des so genannten Islamischen Staats wehen zu lassen, hatte eine zutiefst kathartische Wirkung. Damit wurde auch das Anliegen des Mythos erfüllt, über den Claude-Lévi Strauss sagte: „Die Absicht des Mythos ist es, ein Modell zu entwerfen, das in der Lage ist, einen Widerspruch zu überwinden.“ Die Einsicht des Abends, an dem fast alle Protagonisten den Tod fanden, kann folglich nur sein, dass ein Krieg niemals eine Lösung ist, sondern nur die verheerende Fortsetzung einer über Jahrtausende anhaltende Serie von Kriegen. Was ist daran eigentlich so schwer zu verstehen?

Wolf Banitzki

 


Die Odyssee

nach Homer

Jean-Luc Bubert, Jakob Geßner, Moritz Kienemann, Luise Kinner, Sebastian Wendelin

Regie: Simon Solberg

Volkstheater Das Handbuch für den Neustart der Welt nach einem postapokalyptischen Ratgeber von Lewis Dartnell


 

 

Raus aus der Realität – Rein in die postapokalyptische Zeit

Demnächst Klimagipfel. Es werden noch Wetten angenommen, ob diese Veranstaltung das Klima seiner Rettung auch nur eine Jota näher bringen wird! Wetten, dass niemand wettet! Warum? Weil sich seit Beginn der Klimarettung „der Untergang der Welt“ nicht linear, sondern exponentiell beschleunigt hat. Klimarettung, was für ein Blödsinn, denn Klima braucht gar nicht gerettet werden. Klima interessiert sich nicht dafür, was es bewirkt. Es findet einfach nur statt und das seit mehr als 3,5 Milliarden Jahren, seit die Atmosphäre in ihren Hauptbestandteilen existiert. Es ist der gewaltiger Irrtum des menschlichen Denkens, zu glauben, wir seien die Welt. Wir müssen nämlich gar nicht das Klima retten, sondern um unseretwillen uns selbst.

Nehmen wir einmal an, es hat uns trotz aller optimistischer Versprechungen der Industrie, der Wirtschaft und der Politik trotzdem erwischt und nur eine Handvoll Menschen haben überlebt, also etwa 10.000 von beinahe 7 Milliarden. Weil wir es uns aber trotz der jetzt schon dramatischen Folgen des Klimawandels nicht vorstellen können, durch eine Klimakatastrophe vom Planet gefegt zu werden wie seinerzeit die Saurier durch einen Meteoriteneinschlag, präferieren wir mal eine Pandemie. Es ist passiert und wieder vorbei. Was nun? Nun ist niemand mehr da, der uns (glaubhaft) sagen könnte, wie es weitergeht. Keine Panik, denn der Astrobiologe Lewis Dartnell hat sich unsere Köpfe zerbrochen und ein Kompendium geschrieben, das uns das Überleben garantieren könnte: „Das Handbuch für den Neustart der Welt“. Das Buch ist ein Ratgeber. Bis jetzt war es ein mäßiger Witz am Theater, wenn es hieß, der Regisseur ist so gut, der könnte auch das Telefonbuch oder eine Ikea-Montageanleitung inszenieren. Also, der Witz ist perdu.

Nicht, dass man sich der Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens nicht bewusst gewesen wäre. In einer Regiesitzung hieß es: „Aus einem Sachbuch ein Theaterstück zu machen ist keine Selbstverständlichkeit und immer ein Experiment. Der Autor ist kein Dramatiker, sein Text keine Tragödie. Das Drama muss zwischen den Zeilen hervorgeholt werden.“ (Programmheft zur Inszenierung, S.14) Noch einmal: „Das Drama muss zwischen den Zeilen hervorgeholt werden.“ Setzt voraus, es ist ein Drama drin. In einer Stunde und dreiundvierzig Minuten spulen sechs Schauspieler fundamentales Wissen über Mechanik, Biologie, Chemie, Physik ab, über das zu ca. 80 % jeder Abiturient verfügen könnte, wenn er in der Schule denn aufgepasst und dieses Wissen verinnerlicht hätte. (Der Kritiker hat sein Abitur 1975 gemacht.)  Dartnell meinte, es könne nicht schaden, das Buch gelesen zu haben, auch wenn es nicht zur Apokalypse kommt. Wenn es aber doch dazu kommt, dann ist der wissende Leser ganz weit vorn. Glaubt das tatsächlich jemand?

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Mehmet Sözer und Mara Widmann

© Arno Declair

 

„Jessica Glause inszeniert den Sachbuch-Bestseller als theatrale Schnellanleitung für Sie: die Überlebenden.“  So der Werbetext des Volkstheaters. Also doch kein Drama im Sachbuch? Bei genauer Betrachtung war der eine oder andere Kommentar der Regie wahrnehmbar. Zum Beispiel zeigten die wunderbar fantasievollen Kostümen von Bettina Werner, dass der Mensch auch nach der Apokalypse eine Eigenschaft nicht verloren hat, nämlich seine Eitelkeit. Schrill aber Öko, denn woher nehmen, wenn nicht aus der Natur? Schön anzusehen und gelegentlich auch witzig waren die aus Schrott oder Ersatzteilen „gebastelten“ Maschinen wie ein Wasserrad zur Energiegewinnung oder ein Fahrrad-Ambos-Hammer zum Schmieden oder Nüsseknacken. Faszinierend bunt und ebenfalls schön anzuschauen war das Gewächshaus mit nie gesehenen, neuen Pflanzenarten. (Bühne Mai Gogishvili)

Nein, von Drama zwischen den Zeilen kann nicht die Rede sein. Es mag ein witziges und lesenswertes Buch sein, das uns den Basics unserer Existenz wieder näher bringt, doch es hat einen Haken, es ist ein Handbuch zum Köhlern, Trinkwasserreinigen, Winkelmessen etc. und kein Buch, das wichtige und notwendig Fragen zugunsten von Heimwerkerwissen und Pfadsfinderratschlägen ausspart. Im Vorwort wird immerhin auch die Möglichkeit erwogen, dass wir Opfer eines Atomkrieges werden könnten. Egal, ob wir durch eine Klimakatastrophe, einen Atomschlag oder eine Pandemie in die Katastrophe schlittern, in jedem Fall ist die Katastrophe, ist unser Untergang entweder handgemacht oder wir haben zumindest einen großen Anteil daran. Es ist nicht witzig, von beinahe 7 Milliarden toten Menschen zu reden und gleichsam die postapokalyptische Zeit lustig und inspirierend zu finden, weil der Bastler oder Pfadfinder in uns erwacht. Schon gar nicht ist es witzig, diese unvollkommene, eigentlich nicht lebensfähige Spezies einfach aufzufordern, denselben technikgläubigen Weg zu beschreiten wie zuvor. Wo soll da ein Sinn sein? Müsste sich der Mensch nicht erst einmal neu definieren und damit sein Verhältnis zur Natur? Müsste er nicht erst einmal so grundlegende Fragen klären, ob er sich die Natur auf genau dieselbe Art Untertan macht und sie bis zur totalen Verstümmelung ausbeutet und Pandemien und Wetterkatastrophen provoziert? Diese Fragestellungen sind dramatisch, nicht, wie wir ein Lot bauen und mit einer Viertelkreispappe Winkel messen können.

Wenn diese Inszenierung uns zu erklären vermag, was es in Zeitgenossen auslöst, wenn YouTube, Twitter, Skye etc. wegen Strommangel verlöschen und mit ihnen auch Wikipedia, nämlich Heulen und Zähneklappern, verliert sie immerhin etwas ganz wichtiges völlig aus den Augen. Bücher werden bei Pandemien nicht in Mitleidenschaft gezogen und weltweit stehen ganze Bibliotheken zur Verfügung. Bevor man sie zum Heizen benutzt, könnten sie gelesen werden.  

Zurück zum Ausgangspunkt: Das Gedankenexperiment. Zu welchem Ergebnis sollte es eigentlich führen? Am Anfang eines Experiments steht immer eine Frage. Hier steht eine Prämisse am Anfang: Die Apokalypse hat stattgefunden. Darauf kann man keine Antwort geben. Diese Prämisse ist die Antwort, nämlich auf Vorgänge im Universum oder auf von Menschen verursachte Katastrophen. Dieses Gedankenexperiment ist ein theatrales Spiel, abseits von tradierten Formen. Ein Experiment war es schon gar nicht, denn es zeitigte keine Ergebnisse. Es war vielmehr Ausdruck von Erosion des Theaters. In Ermangelung guter dramatische Entwürfe, gleichsam Ausdruck der gesellschaftlichen Sinnkrise, tritt anstelle des genialischen Kunstwerks (schlüssig in Inhalt und Form) das Spiel mit den Formen, resp. die Auflösung tradierter Formen. Heraus kamen zwei Stunden Bedienungsanleitungen mit Musik und physischen Aktionismus. Einige Moment zum Schmunzel gab es auch. Doch das verkürzte den Abend nicht wirklich.

Und sein wir doch mal ehrlich, verdient es eine Spezies, die sich so aufführt, überhaupt, dass sie überlebt? Der Gedanke ist dramatischer als der an eine Klärgrube und Löschkalk.

Wolf Banitzki


Das Handbuch für den Neustart der Welt

nach einem postapokalyptischen Ratgeber von Lewis Dartnell

Luise Kinner, Jonathan Müller, Leon Pfannenmüller, Lenja Schultze, Mehmet Sözer

Regie: Jessica Glause

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