Kammerspiele Ilona. Rosetta. Sue. von Aki Kaurismäki, Luc & J.-P. Dardenne, Amos Kollek
Lakonie und Tristesse
Drei Filmgeschichten von Frauen hat Sebastian Nübling in seinem dramatischen Konstrukt miteinander verwoben: „Wolken ziehen vorüber“ von Aki Kaurismäki, „Rosetta“ von den Brüdern Dardenne und „Sue“ von Amos Kollek.
Der Name Aki Kaurismäki steht für eine Ästhetik des radikalen Verzichts. Lakonie ist das Wort, mit dem sich seine Arbeit am besten umreißen lässt. Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern hat Kaurismäki ein Vorleben, das in eben jenen Gefilden angesiedelt war, in denen seine cineastischen Helden agieren. Diese Helden sind Philosophen wider Willen. Sie sind keine Besserwisser und keine Etablierten. Sie sind nur selten im sozialen Kontext integriert. Zumeist sind es Menschen, denen das Leben nichts schenkt und die allesamt mehr oder weniger um das Überleben kämpfen. Trotz der Kargheit des Ausdrucks, trotz der permanenten Abwesenheit dessen, was wir als Schönheit bezeichnen, um eine Minimum von Behaglichkeit zu erlangen, sind die Charaktere von berührender Menschlichkeit. Kaurismäkis Ilona hat viele Jahre im Restaurant „Dubrovnik“ als Oberkellner gearbeitet. Als die Besitzerin Konkurs anmeldet, beginnt nicht nur der soziale Abstieg Ilonas, sondern auch der ihres Mannes Lauri. Lauri ergibt sich langsam aber sicher dem Suff. Melartin, der ehemalige Portier des „Dubrovnik“ inspiriert Ilona, ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Sie will eigentlich nur arbeiten, doch das reicht heutigentags nicht mehr. Das Scheitern ist vorprogrammiert.
Der Film „Rosetta“ von den Brüdern Luc und Jean Pierre Dardenne erinnert in seiner Machart an Dogma-Filme von Vinterberg und Trier. Erzählt wird die Geschichte des Mädchens Rosetta, die verzweifelt nach Arbeit sucht, von den Arbeitgebern allerdings schamlos ausgenutzt und nach Ablauf der Probezeit immer wieder auf die Straße gesetzt wird. Schließlich denunziert Rosetta den einzigen Freund, den sie hat, um an dessen Job zu gelangen. Sie lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter, die sich für eine Flasche Schnaps bei Jedermann prostituiert, in einem Trailerpark. Rosetta entwickelt aberwitzige Überlebensstrategien und wandelt dabei unentwegt an den Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit. Im Film klebt die Kamera geradezu an der Darstellerin und so durchlebt der Zuschauer die Hatz der jungen Frau nach jeden Pfennig, nach jeden Happen Essen hautnah mit. Die Bilder sind derart intim, dass das Leid der Rosetta vom Betrachter nahezu physisch durchlitten wird.
Amos Kolleks Film „Sue“ erzählt die Geschichte einer Frau in New York, die bereits seit einiger Zeit arbeitslos und inzwischen mit ihrer Miete soweit im Rückstand ist, dass ihr die Räumung droht. Sie ist depressiv und durchhastet schlaflos die Stadt New York nach einer menschlichen Begegnung. Im einem Gespräch entschlüpft ihr der Satz: „Ich kommuniziere mit Sex.“ Dem gibt sie sich mit einer Vielzahl von Männern hin. Schließlich begegnet ihr Ben, ein Reisejournalist, der sie aufrichtig zu lieben beginnt. Und da ist noch Linda, eine Aspirantin auf den Doktor der Psychologie, die ihr bereitwillig Hilfe anbietet. Doch Sue ist längst soweit aus der Welt gefallen, dass sie alle Angebote ausschlägt. Ihr Weg endet ganz lakonisch an einem kalten Tag in einem Park.
Ene-Liis Sempers Bühnenbild bestand aus einer langen Reihe von Werkbänken, die den schwarzen Bühnenraum diagonal durchzog. Sie stellten alle Topoi vor, die benötigt wurden. Darüber ein Laufband für die Obertitel, denn es wurden in mindestens vier Sprachen gespielt. Dass Themen wie Vereinsamung, seelische Deformation, darwinistischer Überlebenskampf, Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Selbstaufgabe keine hellen Farben vertragen, liegt auf der Hand. Bei Nübling versinkt alles in Düsternis. Es gibt keinen Hoffnungsschimmer. Allein, man kann ihm nicht vorwerfen, Schwarz zu malen, denn die Schicksale, die die Diktatur der Ökonomie massenhaft produziert, sind hinlänglich bekannt. Auch ließe sich jede Anklage an das System und ihre Protagonisten beweisen.
Doch es klagt niemand an. Die Zustände mögen uns moralisch empören, die Rechtsstaatlichkeit schützt das System. Und das System hat sich die Rechtsstaatlichkeit längst dienstbar gemacht und wuchert in seiner Profitsucht wie ein Krebsgeschwür dahin. In Kaurismäkis Film „Wolken ziehen vorüber“ gibt es ganz nebenbei eine Fernsehmeldung, in der von der Hinrichtung Ken Saro-Wiwas (Schriftsteller und Politiker) im Jahr 1995 berichtet wird. Zur Erinnerung: Er prangerte in Nigeria die Zerstörung des Lebensraumes der Ogoni, ein indigenes Volk im Nigerdelta, durch Royal-Dutch-Shell-Gruppe an. Saro-Wiwa wurde nach einem politischen Schauprozess gemeinsam mit acht Mitstreitern gehenkt. Als sich die Weltöffentlichkeit empörte, zahlte Royal-Dutch-Shell 15,5 Millionen US$ an die Hinterbliebenen, um sich einer Anklage wegen Menschenrechtsverletzungen vor einem US-Bezirksgericht zu entziehen.
Nüblings Inszenierung wird getragen von einem aggressiven Rhythmus (Musik: Lars Wittershagen) der sich durch die meisten Szenen zieht. Es beginnt mit dem Schaben von Möhren und steigert sich zum Trommeln auf Mikrofone. Mikrofone waren ein choreografisches Element. Sie wurden ständig auf- und abgebaut, verschoben, umgelegt oder aufgehängt. Zwischen ihnen fand das Spiel statt. Die drei Frauen lösten einander mit ihren Auftritten ab und obwohl sie keinerlei Bezug zueinander hatten, entfalteten sich ihre Schicksale scheinbar n einer Stadt. Sebastian Nübling ging es auch darum, diesen neuen Typus Stadt zu definieren, in der, wie er meint, „Arbeitsämter, Arbeitsplätze, Cafés, Parks - potentielle Orte der Begegnung sein könnten, aber selten sind.“ Urbanität ist in den letzten Jahren zu einer Verheißung geworden, doch das Ergebnis ist ernüchtern.
So hastete „Sue“, grandios zerrissen und waidwund dargestellt von Wiebke Puls, von einer flüchtigen Begegnung zur nächsten, verbündete sich für kurze Zeit mit der kleinkriminellen Lola, schreckte vor der angebotenen Hilfe Lindas zurück, beide Frauen auf sehr eingängige Weise gekonnt konträr von Sylvana Krappatsch gestaltet, und rief schließlich die Telefonvermittlung an, um ein einminütiges Gespräch führen zu können. Ben, sensibel und mit artistischem Aufwand von Rasmus Kaljujärv gespielt, vermochte ihren Schutzschirm nicht zu durchdringen, selbst dann nicht, wenn es zu verschmelzend intimen Begegnungen kam. Rosetta hingegen kämpfte auf ganz anderem Niveau ums Überleben. Bei ihr waren es die Basics, die es zu erlangen galt. Mirthel Pohla spielte sie ganz ähnlich wie die Darstellerin im Film, unnahbar, aggressiv, hochtourig und mit extremen körperlich Einsatz. Wenn sie nicht gefordert war, kroch sie wie ein zu Tode erschöpftes Tier unter den Trailer, also in die untere Ablage einer Werkbank. Starletta Mathatas Ilona hingegen war nicht gänzlich haltlos und taumelnd. Sie brachte viel Energie auf, um ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Den Untergang ihres Mannes Lauri kommentierte sie mit einem markerschütternden verzweifelten Lachen, das man homerisch nennen könnte. Am Ende streckte die kraftvolle Frau ratlos die Waffen und verblasste. Steven Scharf, wie immer mit einer großartigen Präsenz, demonstrierte die Demontage einer Persönlichkeit, deren Selbstbewusstsein anfangs unerschütterlich zu sein schien, hin zu einem physischen und psychischen Wrack. Es war zutiefst deprimierend, mit anzuschauen, wie dieser starke Man vor den Schaltern des Arbeitsamtes und der Behörden zu einem Bewusstseinszwerg zusammenschrumpft. Das alles barg einen echten Kern Wahrheit und Realität.
Es war eine starke Inszenierung, dessen ungewöhnliche Ästhetik, nämlich die Lakonie und die Tristesse Kaurismäkis, es dem Betrachter nicht immer leicht machte, einen Einstieg zu finden. Man musste dem Zuschauer auch zugestehen, dass er sich gegen diese Bilder der Hoffnungslosigkeit wehrte, so gut er konnte, denn auch in dieser Gesellschaft geht die Angst längst um wie ein Gespenst. So sollte Nüblings düsteres Weltbild als Angebot verstanden werden, dem Trend der Zeit, nämlich die Augen zu verschließen vor den globalen Problemen, zu widerstehen. Es geht für viele Menschen längst nicht mehr um die Würde, die ja bekanntlich unantastbar sein sollte. Für 1 Milliarde Menschen, also für jeden sechsten, gibt es keine Würde mehr, sondern nur noch Hunger. Arbeit sollte ein Menschenrecht sein, doch selbst in den hochzivilisierten und reichen Gesellschaften ist dieses Recht nicht verankert. Der Verlust von Arbeit ist der erste Schritt aus der Gesellschaft heraus. Der Rest ist beinahe ein Automatismus. Das vermittelte der Abend in den Münchner Kammerspielen sehr prägnant.
Wolf Banitzki
Ilona. Rosetta. Sue. Eine trinationale Koproduktion mit Theater NO99 (Tallinn) und KVS (Brüssel)
von Aki Kaurismäki, Luc & J.-P. Dardenne, Amos Kollek
Jochen Noch/Margus Tabor, Rasmus Kaljujärv, Sylvana Krappatsch, Starlette Mathata, Mirtel Pohla, Wiebke Puls, Gert Raudsep, Steven Scharf, Marika Vaarik
Regie: Sebastian Nübling
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Kammerspiele Dantons Tod von Georg Büchner
Gelungene Hommage für Georg Büchner
Es hatte etwas von Abschied, diese „Danton“-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen von Johan Simons. Diese Idee wäre sicherlich nicht aufgekommen, wüsste man nicht um den baldigen Abgang des Intendanten. Und so bleibt es vorerst nur Spekulation, zu behaupten, Simons hätte mit dieser Inszenierung auch den Sinn seiner eigenen Arbeit hinterfragt und am Ende herausgefunden, dass letztlich nur Heulen und Zähneklappern bleibt angesichts einer scheinbar unbelehrbaren Spezies, die die höchstentwickelte zu sein meint. So ganz aus der Luft gegriffen ist diese Behauptung bestimmt nicht, denn Simons gehört wohl zu den politischsten Intendanten in der Geschichte der Münchner Kammerspiele. Die Zeit braucht Menschen, Künstler wie ihn mehr denn je. Der Kunst tut die Politik keinen Abbruch, auch wenn ihr gelegentlich Schaden zugefügt wird, denn Kunst muss sich unbedingt unterscheiden von Politik. Kunst sollte nie Politik werden, denn dann begibt sie sich in die Niederungen des Geistes und der Moral hinab und wird stagnieren. Eine Aufgabe der Kunst ist es, die Ideale im Bewusstsein zu bewahren, die die Politik ausdauernd und vehement zu verhindern sucht.
Johan Simons Inszenierung trug den Charakter einer Leseprobe. Damit gesteht er wohl auch ein, dass dieser Brocken Dramatik kaum letztgültig spielerisch zu bewältigen ist. Recht hat er, was nicht bedeutet, dass es nicht großartige Versuche gegeben hat, ein Schauspiel aus diesem Jahrhunderttext zu machen. Regisseur Simons folgte in seiner ästhetischen Umsetzung Brecht und verfremdete, indem er die Darsteller mit Textbuch in der Hand „Diskussionsangebote“ machen ließ oder den Text thetisch in den Raum stellte. Damit schlüpften die Schauspieler nur bedingt in die Rolle, spielten sie nicht aus und zwangen somit zur absoluten Konzentration auf den Text. Der von Büchner in ganzen fünf Wochen unter widrigsten Bedingungen hingeworfene dramatische Entwurf hat titanische Ausmaße und verlangt dem Leser/Zuhörer/Zuschauer Außerordentliches ab, will sie oder er das Essentielle begreifen. Dabei hatte Simons es nicht bei dem Büchnerschen Drama belassen, sondern zusätzlich eine beträchtliche Anzahl Dichter, Schriftsteller und Denker von Georg Heym bis Marquis de Sade bemüht. Dankenswerter Weise kann man die Zitate im Programmheft nachlesen.
Empfangen wurden die Zuschauer von einem Kammerorchester, das viele Szenen und situative Stimmungen in Klang umsetzten. Carl Oesterhelt, der für diese, gelegentlich an Weill oder auch Ravel erinnernde Musik verantwortlich zeichnete, muss exzellentes Einfühlungsvermögen bescheinigt werden. Eva Veronica Borns Bühne bestand aus zwei großen Videowänden im Bühnenhintergrund, die als Fenster mit Blick auf unterschiedlichste Motive dienten, Topografien beschreibend, aber auch Stimmungen illustrierend. (Video: Lennart Laberenz) Eine lange Reihe aneinander gestellter Tische schuf die eingangs erwähnte Leseprobensituation. Während die Texte zum Teil in großer Nüchternheit dargeboten wurden, erzeugte die Musik im Zusammenspiel mit den Videoinstallationen eine starke unterschwellige Suggestion. Um die Geschichte, in der es um die heraufziehende und langsam aber unaufhaltsam eskalierende Feindschaft zwischen den Lagern Dantons und Robespierres mit Todesfolge ging, ließ Johan Simons einen Himmel aus bedrohlichen Wolken in den Bühnenraum zaubern. Der hatte sich verzogen, als die Urteile gegen Danton und seine Mitstreiter gesprochen waren.
Pierre Bokma gab einen Danton, der in seiner Expression über das Spiel der meisten anderen Darsteller hinausging. Er zeigte einen Mann, der glaubhaft seinen eigenen Epikureismus pries, selbstverliebt seine Rolle in der Revolution propagierte und der am Ende, als er den unweigerlich auf ihn zukommenden Richtspruch mit der Begründung fortzuleugnen versuchte: „Sie werden es nicht wagen!“, nur noch ein heulendes Häufchen Elend war. Erst auf dem Weg zur Hinrichtung richtete er sich wieder zur vollen Größe auf. Ähnlich emotional gestaltete Kristof van Boven seine Rolle als Camille Desmoulin, der erst im Angesicht des Todes heldenhaftes Format bekam. Gegenspieler Robespierre war kongenial mit Wolfgang Pregler besetzt, der scharfzüngig und unerbittlich seine eigene Tugendhaftigkeit, die im Grunde nur Lebensarmut war, zum letzten Banner der Revolution erhob und sie in den blutigen Abgrund führte. An seiner Seite brillierte Annette Paulmann als St. Just, Robespierre befeuernd und seine Entscheidungen in die blutige Tat umsetzend. Darsteller wie Stephan Bissmeier (Lacroix), Marc Benjamin (Legendre) oder Hans Kremer (Herman) beließen es weitestgehend dabei, den Text nachdrücklich ins Bewusstsein der Zuschauer zu rücken. Sich selbst nahmen sie sehr zurück. Mehr als ihr Spiel charakterisierten sie die Kostüme in ihrer Zugehörigkeit zu den Gremien oder Lager (Kostüme: Teresa Vergho). Unter den weiblichen Darstellerinnen stach besonders Sandra Hüller in der Rolle der Marion ins Auge. Sie präsentierte in ihrer Haltung ein wunderbares weibliches Selbstbewusstsein, das frei war von Ideologie und dem nicht der Geruch emanzipatorischer Obsession anhaftete.
Es war ein Abend der besonderen Ästhetik. Die Verfremdung irritierte auf den ersten Blick, doch schon auf den zweiten Blick konnte man den Sinn erkennen. Wohltuend gestaltete sich auch das minimalistische Spiel der Darsteller, nach dem es ein Weilchen gebraucht hatte, seine eigenen Sehgewohnheiten und Erwartungen umzustellen. Nichts lenkte von der Wucht der Sprache und der Ideen Büchners ab. Und da diese Inszenierung als eine Hommage für Georg Büchner zu seinem 200. Geburtstag gedacht war, ging es den Machern aus gutem Grund mehr um den Text, als um eine ästhetisch aufwendige Umsetzung. Diese Inszenierung war eine gelungene Verbeugung vor dem großen deutschen Dramatiker, der nur vierundzwanzig Jahre alt wurde und dessen Arbeiten nichts an Aktualität verloren haben.
Wolf Banitzki
Dantons Tod
von Georg Büchner
Marc Benjamin, Stephan Bissmeier, Pierre Bokma, Benny Claessens, Anna Drexler,Sandra Hüller, Marie Jung, Hans Kremer, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, ÇigdemTeke, Kristof Van Boven
Bassklarinette: Stefan Schreiber - Trompete: Reinhard Greiner/Robert Alonso - Spinett: Joerg Widmoser - Violine: Gertrud Schilde/Joerg Widmoser/Nora Farkas - Viola: Andreas Höricht/Tobias Weber - Cello: Jost-H. Hecker/Klaus Kämper/Mathis Mayr/Eugen Bazijan - Kontrabass: Juan Sebastian Ruiz
Regie: Johan Simons
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