Theater im Marstall Gegen den Fortschritt von Esteve Soler


 

 
Von der Realität des Surrealen

Kunst, und auf das Theater trifft das in besonderem Maße zu, ist immer dann spannend, wenn sie radikal ist. Das ist hinlänglich bekannt, wird aber nicht immer unbedingt richtig verstanden. In Zeiten, in denen das Design vor dem Sein steht, meint man, die Formen müssen radikal sein. Langsam breitet sich allerdings die Erkenntnis aus, dass es kaum noch radikale Formen gibt, die erstaunen, verstören oder erschrecken. Die Sinne sind stumpf geworden unter der Bilderflut und Langeweile und Ratlosigkeit herrschen vor, nicht nur bei den Betrachtern, auch bei den Künstlern.

Einen Lösungsansatz für das Dilemma liefert Esteve Soler. In seiner Folge von Miniaturen "Gegen den Fortschritt" wird deutlich, wie einfach es sein kann. Nicht in der Form ist Radikalität gefragt, sondern im Inhalt! Im günstigsten Fall resultieren aus radikalen Ansätzen im Inhalt gleichsam radikale Formen. Das allerdings geschah im Marstall nicht.
 

Katharina Hauter, Marcus Calvin, Ulrike Arnold, Jörg Malchow

© Thomas Dashuber

 
Immerhin, die Gedankenspiele des Herrn Soler sind erstaunlich. Seine Radikalität besteht darin, dass er die Prämissen verändert, manchmal ins Gegenteil verkehrt. Beispielsweise sitzen Robben beim Essen und sinnieren über die Abschlachtquoten bei Jungmenschen. Sie erzählen sich, wie wunderbar es ist, Kindern mit Spitzhacken die Schädel einzuschlagen. Diese Gedanken, ergreifen sie einmal Besitz vom Betrachter, bewirken mehr als tausend Statistiken oder Aufrufe von Naturschützern. Das behaglich eingerichtete Denkgebäude, gleichsam eine feste Burg, gerät ins Wanken. Oder man stelle sich einmal vor, im Fernsehen läuft ein Bericht über Kinderelend in der "Dritten Welt" und die Bilder lassen sich nicht mehr wegzappen, der Fernseher lässt sich nicht mehr abschalten. Wie soll man mit diesen Bildern leben? Auch hier galt doch: Wir nehmen Anteil am Elend der Welt. Unsere Kenntnisnahme führt uns in den aktiven Widerstand in Form von innerer Empörung. Mehr kann man doch wahrlich nicht verlangen, oder?

In einem Klassenzimmer liest eine unengagierte gefühllose Lehrerin den Kindern das Märchen von Rotkäppchen vor. Doch der Text im Buch hat sich verändert, die Kinder ziehen sich in den Untergrund zurück und schließlich verkündet das Buch den Namen des nächsten Opfers: Frau Lehrerin. Der Rest sind Todesschreie und das Schmatzen der Bestie. Noch interessanter wird es, wenn ein Unternehmer eine Religion gründet und, da er seine Person nicht zu Gott erklären kann (Ein Problem der Glaubwürdigkeit.), sich doch wenigstens in den Stand des Stellvertreters auf Erden erhebt. Das kommt einem doch recht bekannt vor. Im Disput darüber wird deutlich, dass es in jedem Fall eine erstklassige Geschäftsidee ist.

Es steckt viel Realität in den Surrealitäten, mehr, als die Realität des Seins häufig verrät. Thomas Hobbes erläuterte das Problem im Vorwort zum "Leviathan" wie folgt: ‚Wir wirbeln unentwegt Staub auf und wundern uns dann, dass wir nichts mehr sehen.' Esteve Solers menschlicher Kosmos ist staubfrei und der Blick darauf kann nur ein ironischer sein.

Bettina Kraus schuf für den Reigen der schrägschönen Szenen eine große schiefe Ebene, die allerdings mehr Plateau als symbolhafte Absturzfläche war. Die Dramaturgie verlangte kaum nach Requisiten und so blieb die Ausstattung angenehm karg. Das einzig spektakuläre Bild war ein riesiger Apfel, der von einem Ehepaar eines Tages in ihrer Küche vorgefunden wurde. Diese Unerklärbarkeit nahm allerdings ein recht banales Ende.

Jan Philipp Gloger hatte bieder und ohne wirkliche Höhepunkte inszeniert, den effektvollen Wendungen und Brüchen des Textes nicht immer ausreichend gerecht werdend. Die Schönheit der Gedanken konnte sich so nur selten entfalten.

So war denn auch das Spiel der Darsteller eher bieder. Sie leisteten jeder für sich artig seinen Part, wurde aber letztendlich nicht wirklich gefordert. Das war schade, denn die Texte von Esteve Soler boten mehr an. Schade war es auch, weil die ästhetische Umsetzung letztlich dafür sorgt, ob sich die Themen im Betrachter festsetzen. Zu selten begegnet man heutigentags zeitgenössischen Texten von dieser spielerischen und philosophischen Qualität, als dass man es sich erlauben kann, sie so wenig einprägsam und eindringlich auf die Bühne zu bringen. Ungeachtet dessen sei die Inszenierung schon wegen der wundervollen Geschichten unbedingt empfohlen.

 


Wolf Banitzki

 

 


Gegen den Fortschritt

von Esteve Soler

DEA Deutsch von Charlotte Frei

Ulrike Arnold, Katharina Hauter, Marcus Calvin, Jörg Malchow

Regie: Jan Philipp Gloger

 
Marstall

Spielplan