Metropoltheater Terror von Ferdinand von Schirach


 

Die Grablegung Immanuel Kants

„Terror“ von Ferdinand von Schirach war nach „Abgesoffen“ von Carlos Eugenio López die zweite Arbeit in einer Trilogie zu brisanten Themen der Zeit. Damit ist auch Jochen Schölch angekommen in der Diskurskultur, die die Theater virulent zu befallen scheinen. Allein, Jochen Schölch gibt das Theater ästhetisch nicht auf, auch, wenn „Terror“ erst einmal an die täglich über die Bildschirme privater Sender flimmernden Doku-Soaps erinnert. Selbst unter diesen Prämissen gelang Schölch faszinierendes und fesselndes Theater. Dabei musste er auf sein Handwerk als Magier weitestgehend verzichten, denn dieses Stück galt der „praktischen“ Vernunft und nicht der Vernunft mittels ästhetischer Verführung, für die er wie kaum ein anderer Theatermacher Münchens steht. Das Publikum erlebte über eine Stunde und vierzig Minuten hinweg bestes Schauspiel.

Ferdinand von Schirach, Anwalt und, bei aller Bescheidenheit, auch Rechtsgelehrter, treibt es schon seit einigen Jahren mit nicht unerheblichem Erfolg in den Medien um, der breiten Bevölkerung ein gesundes Rechtsempfinden (im besten Sinn des Wortes) nahe zu bringen. Mit „Terror“ trifft er einen inzwischen schmerzenden Nerv der Zeit. In einem fingierten Prozess steht ein deutscher Kampfpilot wegen 164fachen Mordes vor Gericht. Der Mann hat nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und mit dem Abschuss einer von einem Terroristen entführten Passagiermaschine 164 Menschen zu Tode gebracht. Der Pilot hat gegen den Befehl seiner Vorgesetzten und gegen geltendes Grundrecht gehandelt. Er begründete seine Entscheidung mit der Rettung vieltausend anderer Menschen, die, in der Allianz-Arena befindlich, das eigentliche Ziel des Terroristen waren. Er hat den 164 Flugpassagieren die 70.000 Besucher eines Fußballländerspiels gegenüber gestellt und eine Gewissensentscheidung gefällt.

Im Verlauf der Theaterinszenierung wurden die Fakten akribisch dargestellt, der Angeklagte und Zeugen einer detaillierten Befragung unterzogen. Über das Schauspiel offenbarten sich zudem wesentliche Facetten der Persönlichkeiten des Angeklagten und der Zeugen. Ohne weitere Details aufzulisten kann gesagt werden, dass es in diesem Verfahren nicht um einen gemeinen Mörder ging, der eine kriminelle Tat begangen hatte, sondern um einen mehr als vorbildlichen Soldaten, der „im Dienst am deutschen Volk“ großen Schaden von selbigem abwenden wollte und in einer Gewissensentscheidung das „geringere Übel“ wählte.

Infolge der Attentate vom 11. September 2001erließ das deutsche Parlament im Jahr 2005 ein Gesetz zur Luftsicherheit, in dem dem Minister für Verteidigung in Extremfällen eine Abschussermächtigung entführter Flugzeuge zugebilligt wurde. Das Bundesverfassungsgericht erklärte diese Abschussermächtigung als unvereinbar mit dem Grundgesetz und hob den betreffenden Paragrafen im darauffolgenden Jahr wieder auf. In der Befragung des Piloten wurde deutlich, dass er, sowie viele Angehörige der Luftwaffe mit der Rücknahme dieser Ermächtigung nicht einverstanden waren, stellte sie doch ihren (vermeintlichen) Kampfauftrag infrage. Christoph von Friedl gab einen vor Selbstdisziplin geradezu stocksteifen, verantwortungsbewussten und aufopferungsvollen Soldaten, der dennoch nicht frei von Emphase war. In seiner Mimik spiegelte sich seine ganze tobende Zerrissenheit, als Nathalie Schott hochemotional in der Rolle einer Nebenklägerin ihr Leid über den Verlust ihres Ehemannes, Passagier in der abgeschossenen Maschine, klagte. Hubert Schedlbauer stellte in der Rolle des während des Zwischenfalls verantwortlichen Offiziers einen Wesenszug von Militär an sich bloß. Entscheidungen außerhalb des Dienstreglements führen schnell zu Verwirrungen und Unsicherheiten. Allem Militärischen wohnt eben doch eine unerschütterliche Stupidität inne.

  Terror  
 

Matthias Grundig, Dasche von Waberer, Christoph von Friedl

© Hilda Lobinger

 

Nach Abschluss der Beweisaufnahme hielten die beiden Anwälte ihre Plädoyers. Der Staatsanwalt, sehr eindringlich, mit enormer physischer Präsenz und rhetorisch bestechend gespielt von Matthias Grundig, verwies darauf, dass dem deutschen Grundgesetz ein unverhandelbares Prinzip zugrunde liegt, nämlich: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Eine Verdinglichung der Menschen in dem Sinn, dass man sie zahlenmäßig gegeneinander aufrechnen kann, sowie die kalkulierte Tötung sind mit diesem Prinzip nicht vereinbar. Dieses Ergebnis ist eine mit unbeschreiblichen Leiden in der Menschheitsgeschichte bezahlte Einsicht. Entwickelt und niedergelegt hat diese Idee Immanuel Kant als „kategorischen Imperativ“ in seinem Werk „Kritik der praktischen Vernunft“. Der Imperativ lautet verkürzt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Die Rücknahme der Abschussermächtigung war ein Akt der Vernunft, der dazu führte, dass der Terrorist ein gemeiner Mörder bleibt und nicht durch gleichgeartete Gegenwehr zum politischen Gegner auf Augenhöhe wird.

Butz Buse plädierte als Anwalt des Piloten für Freispruch, weil sein Mandant eine Entscheidung gefällt hatte, die (möglicherweise) vielen Menschen das Leben rettete. Er verwies dabei auf die Integrität des Piloten, der nicht eigennützig, sondern im Sinn der Gesellschaft geradezu heldenhaft gehandelt hatte, bereit, die Konsequenzen seines Handelns zu tragen. Buse, bei weitem nicht mir der Überzeugungskraft des Staatsanwaltes ausgestattet, weil die Argumente mehr auf die Moral und auf das Mitgefühl zielten, beschwor, wie im angloamerikanischen Raum üblich, Vergleichsfälle. Das dort praktizierte Kasus-Recht erzeugt Recht durch das Zitat von bereits gesprochenem Recht in ähnlichen Fällen. Dabei ging Buses Anwalt weit zurück in der Geschichte und zitierte Fälle, in denen mehrere oder viele Menschen durch die Entscheidung einzelner gerettet wurden, weil diese wenige Menschen opferten. Hier schimmerte nicht selten das Bild vom Recht des Stärkeren durch, allein legitimiert durch die Fähigkeit, (moralisch legitimierte) Entscheidungen zu treffen. Diese Haltung führt, wie bekannt, zu Feststellungen wie: Gegen die Waffe in der Hand eines Bösen hilft nur die Waffe in der Hand eines Guten. Eigentlich sollte der barbarische Zug dieses Naturgesetzverständnisses unübersehbar sein und arge Zweifel an der Richtigkeit erzeugen. Weit gefehlt, wie der Abend im Metropoltheater verdeutlichte.

Nach einer Stunde und vierzig Minuten beendete die Richterin, sehr überzeugend in Habit und im Habitus einer Vorsitzenden von Dascha von Waberer gespielt, den Prozess und überließ die Urteilsfindung dem Publikum. Nach einer zwanzigminütigen Pause votierten die Zuschauer im „Hammelsprungverfahren“ über schuldig oder Freispruch des Angeklagten. Das Ergebnis in der Premierenvorstellung war mehr als erstaunlich. Moral wurde über das Gesetz erhoben und Mitgefühl dominierte in  der Rechtsprechung. Mit 103 zu 97 Stimmen wurde der Angeklagte freigesprochen. Sollte dieses Ergebnis Ausdruck der gesellschaftlichen Zustände sein, hätte der Rechtsstaat und das Grundgesetz seine Gültig- und Verbindlichkeit bereits eingebüßt. Dieses Ergebnis war die Grablegung Immanuel Kants, das desaströse Ende der Aufklärung und ein Rückfall in Zeiten der alttestamentarischen Rechtsprechung. Und während die emotionalen Wogen (bei mir) noch hochschlugen, berichtete auch schon das Autoradio von Übergriffen „moralisch besorgter Bürger“, aber auch der Polizei, auf zwanzig Asylanten im sächsischen Clausnitz. Es wäre vielleicht angebracht, dass das Metropoltheater die nachfolgenden Abstimmungsergebnisse auf der Website öffentlich macht. Es wäre durchaus ein Gradmesser und Jochen Schölchs gelungenes Experiment hätte „Nachhaltigkeit“.

Ferdinand von Schirach, unbestritten ein kluger und lebenserfahrener Mann, wäre mit diesem Abstimmungsergebnis wohl nicht einverstanden gewesen. Immerhin musste Dascha von Waberer als Richterin das Urteil begründen. Das fiel ihr (oder Ferdinand von Schirach) sichtlich schwer. Die Begründung war sehr dürftig und verwies letztlich darauf, dass sich auch Gesetze bewähren müssen. Hier wäre es angesichts der Argumentation nicht wirklich schwer gewesen, die Vernunft (im Kantschen Sinn) walten zu lassen. Was macht einen Terroristen schließlich zu einem verabscheuungswürdigen Menschen? Es ist die Bereitschaft, andere Menschen aus moralischen Gründen töten zu wollen und zu können. Worin unterscheidet sich ein Offizier, wenn er aus ebenso moralischen Gründen das Gleiche tut? Nur die kategorische Einhaltung eines vernünftigen Prinzips kann es verhindern, schuldig zu werden, und wenn sich diese Einsicht durchsetzt, gibt es eine Chance, dass das Töten (eine verlässliche Konstante in der Geschichte der Menschheit) irgendwann ein Ende findet.

Ferdinand von Schirach gab dazu ein fast beschwörendes Statement ab: „Ich glaube an den gelassenen Geist unserer Verfassung, an ihre souveräne Toleranz und ihr freundliches Menschenbild. Es gibt keine Alternativen, wenn wir als freie Gesellschaft überleben wollen.“

Wolf Banitzki

 


Terror

von Ferdinand von Schirach

Butz Buse, Matthias Grundig, Hubert Schedlbauer, Nathalie Schott, Christoph von Friedl, Dascha von Waberer

Regie: Jochen Schölch

Metropoltheater Abgesoffen von Carlos Eugenio López


 

Nicht hilfreich

Welche Wirkung haben angeschwemmte Leichen von Flüchtlingen? In jedem Fall doch eine abschreckende, sollte man glauben. Ist aber nicht so, wie die Realität zeigt. Als der 1954 geborene Spanier Carlos Eugenio López im Jahr 2000 seinen in Dialogform verfassten 180seitigen Roman herausbrachte, mag das noch anders gewesen sein. Heute sind die Flüchtlingsströme dergestalt, dass ein paar hundert Tote, die im Mittelmeer treiben, „vernachlässigbar“ und kaum mehr als eine dreizeilige Nachricht „wert“ sind. Das nennt sich Inflation und findet nicht nur in der Ökonomie statt. Für López sind tote Maghrebiner, damit sind vor allem die Bewohner der drei nordafrikanischen Staaten Tunesien, Algerien und Marokko sowie Libyen und Mauretanien gemeint, feste Größen eines Geschäftsmodells. Tot im Meer bedeuten die „Moros“, lasst ab von der gefährlichen Flucht, aber auch, Spanien (oder inzwischen die europäische Union) ist nicht euer Land. Arbeitnehmer sind zwei namenlose Killer, die die „Moros“, wie sie sie nennen, einfangen, in der Badewanne mit Salzwasser ertränken und anschließend in die Meerenge von Gibraltar werfen, wo die Polizei die Leichen dann findet.

Den 29sten toten „Moro“ im Kofferraum, fahren sie in Richtung Süden, um ihr Geschäft zu Ende zu bringen. Dabei entspinnt sich zwischen den beiden ein Gespräch, das im Grunde nur ein Ziel hat: Rechtfertigung. Ausgehend von der Gewissheit, dass Spanien den Spaniern gehört, spulen sie das ganze Repertoire nationalistischer und rassistischer Plattitüden ab. „Wenn man in ein anderes Land will, muss man erst einmal um Erlaubnis bitten. Und wenn man es nicht tut, muss man die Konsequenzen tragen.“ So einfach ist das. Und weiter: „Schuld an unserer Misere sind die achthundert Jahre, in denen die verdammten Moros hier waren.“ Dabei wird durchaus eine gewisse Selbstkritik deutlich, dass ihr Tun nicht unbedingt moralisch ist. Unter den Toten waren auch „Moros“ mit blauen oder grünen Augen. Diese Feststellung erzeugt tiefes Unbehagen. „Das sind Menschen“, gibt einer zu bedenken. „Wie man´s nimmt“, entgegnet der andere. „Sind Moros etwa keine Menschen?“ – „Schon, aber nicht Menschen wie du und ich.“ Die Argumentation: „Das ist so, als würde man sagen, Getafe ist ein Fußballclub. Das kann schon sein. Aber sind Madrid und Barcelona das deshalb auch? Nein, Madrid und Barcelona sind Madrid und Barcelona, und Getafe ist ein Haufen Hühnerkacke.“ Nein, von Schuld kann keine Rede sein, denn es ist ein Job, möglicherweise sogar vom Staat bestellt, und wenn sie es nicht machen, machen es andere.

Unaufgeregt ging es zu, wenn Christian Baumann und Thomas Meinhardt während der Fahrt vor sich hin schwätzten, sich zwischen Geschichte, die sie nicht kennen, über Politik, zu der sie sich nicht bekennen, bis hin zur Literatur, die sie nicht gelesen haben, mit Phrasen, dünner als die Abgase ihres Autos, durch die Zeit hangelten. Dennoch kamen sie sich irgendwie näher, denn sie hatten, wie sie sich selbst eingestehen mussten, keinen anderen Menschen. Killer A (Christian Baumann) war von seiner Freundin verlassen worden und Killer B (Thomas Meinhardt) hatte seine Mutter, die einzige Verwandte, seit Jahren nicht mehr gesehen. Irgendwie fühlte sich vieles nach Albert Camus „Der Fremde“ an. Der Tod war allgegenwärtig, praktisch wie hypothetisch. Was wäre, wenn sie durch einen Unfall querschnittsgelähmt wären? Sie schafften es gleichwohl, sich gegenseitig das Versprechen abzuringen, dass einer den anderen mit einer Kugel erlösen würde. Soviel „Menschlichkeit“ war immerhin möglich.

Verhandelt werden im Roman in großer thematischer Breite die Abgründe der Moral. Dabei muss die Fassung von Alia Luque, die das Buch in einer knapp 1 ½ stündigen Inszenierung auf die Bühne des Metropoltheaters brachte, auf eine nicht unerheblich Zahl von Themen verzichten, beispielsweise auf das Thema Flüchtlinge und sexuelle Ausbeutung. Da fällt schon mal so ein sarkastischer Satz wie: „Eine Nutte, die sich nicht spezialisiert, kommt auf keinen grünen Zweig.“ Dennoch berührte und beeindruckte die Textauswahl auch in der vorliegenden Fassung durchaus. Leider konnte das von der szenischen Umsetzung nicht in dem gleichen Maße gesagt werden. Christian Baumann und Thomas Meinhardt gelang es tatsächlich, trotz ausuferndem Sarkasmus und überbordender Ignoranz sehr menschliche Figuren auf die Bühne zu bringen. Trotzdem wollte sich keine szenische und räumliche Magie einstellen, die den Zuschauer in sich aufsog. Obgleich die Männer laut gesprochenem Text in einem Auto saßen, standen sie auf der Bühne weit auseinander an den beiden Seiten einer großen Leinwand. Die eigentlich intime Situation  des Fahrgastraumes eines Autos fand nicht statt. Vielmehr verlangte die räumliche Situation vom Zuschauer, während des Dialogs mit den Augen ständig hin und her zu wandern wie bei einem Tennisspiel. Hier wäre eine andere Lösung wohl effektiver gewesen. So blieb es mehr eine Hörspiel- als eine Schauspielinszenierung.

Die Leinwand kam zwei Mal zum Einsatz. Zu Beginn suggerierte ein vorbeiflitzender Mittelstreifen die Fahrt auf einer Landstraße. Das wies sinnfällig auf die gespielte Situation hin. Am Ende wurde ein Video abgespielt, das mit einer Handycam über weite Strecken aus einem Auto aufgenommen worden war. In diesem Video war die nächtliche Ankunft einer großen Zahl junger Schwarzafrikaner auf dem spanischen Festland zu sehen, die über das Glück, europäischen Boden betreten zu haben, in einen geradezu hysterischen Freudentaumel gerieten. Dieses Video war verwirrend, verstörend und auch durchaus beängstigend. Die explosionsartige Entladung dieser Freude war gewaltig und es drängte sich unweigerlich die Vorstellung auf, was wohl geschehen wird, wenn diese Menschen feststellen müssen, dass diese Gesellschaft sie nicht freundlich empfangen und sie Menschen zweiter Klasse bleiben würden. Wird dann diese ungeheure, unbändige Kraft in Gewalt umschlagen? Neben dem Ruf „FC Barcelona!“ war immer wieder der Satz zu hören: „Mit Afrika bin ich fertig! Nie wieder Afrika!“ Was wird passieren, wenn sie feststellen müssen, dass es eine Illusion ist, dass sie selbst immer Afrika sein werden?

Mit diesem Video ging ein zusätzlicher Riss durch die Inszenierung. Am Ende war man durch die enormen Fliehkräfte der Bilder gänzlich aus der literarischen Geschichte um die beiden Mörder herausgeschleudert worden und verließ das Theater mit einem ziemlich diffusen Gefühl, das kein gutes und wenig hilfreiches war bei der eigenen Orientierung.

Wolf Banitzki

 


Abgesoffen

von Carlos Eugenio López

Christian Baumann und Thomas Meinhardt

Regie: Alia Luque

Metropoltheater Cherubim von Werner Fritsch


 

 

Ein anrührendes Stück Theater

Er ist nicht der Mann für alle Fälle, aber für den vorliegenden Fall „Cherubim“ ist er es unbedingt. Gerd Lohmeyer, wer kennt ihn nicht in Bayern, verkörpert er doch wie kaum ein anderer Schauspieler bayerische Denk- und Fühlart. Die Geschichte „Cherubim“ war ein echtes Geschenk des Lebens für den Autor Werner Fritsch. Auf einem Einödhof im Oberpfälzer Stiftsland aufgewachsen, war Wenzel Haindl, ein eigentümlicher, vom Land und der Geschichte geprägter, verwachsener Knecht, eine prägende, die Fantasie beflügelnde Figur für den 1960 geborenen Schriftsteller. Wenzel, „frei“ von herkömmlicher Bildung und durch Kinderlähmung verunstaltet, entwickelte seine ureigene Sicht auf die Dinge. Die reichte von kindlich-fantastisch bis jenseitig-mystisch. Ausgestattet mit derartigem Rezeptionsinstrumentarium war Wenzel ein sehr eigentümlicher Chronist des 20. Jahrhunderts. „Von ihm habe ich, weil die Großelterngeneration ausfiel, neben meinen Eltern auch Sprechen und vor allem Erzählen gelernt.“ (Werner Fritsch)

Ein sphärisches Dröhnen aus dem Off erinnert schon vorab daran, dass da was ist in den Lüften, etwas Gewaltiges. Ca. 80 Minuten lang fabulierte Gerd Lohmeyer dann über zwei Kriege, über Inflation und Neuanfang, über Ehe, Liebe, Krankheit, Kinderkriegen und auch übers Sterben, nämlich das des eigenen Kindes und das der Mitmenschen, die anders waren als irgendwer. Mit dem Verstehen hapert es. Umso sicherer ist Wenzel im Erfühlen. Schaurige Geschichten von Frauen, die zum Entbinden ins Feld gingen und auf immer verschollen blieben, oder aber sich des Kindes entledigten, waren ihm sehr bedeutsam, denn auch er könnte ein solches, achtlos in die Welt geworfenes Wesen sein - oder war es sogar?

  Cherubim-Metropol  
 

Gerd Lohmeyer

© Rolph Metzner

 

Geschichten vom Hörensagen gestalteten sich ebenso fantastisch wie eigene Erlebnisse. Mit Schicksalsgenossen wie dem „Rumänenbinder“ bekommt Wenzel, der Versehrte, der immerhin zum Schienenlegen taugt, von „Hiltler“ (Jeder Nazi ist Hiltler!) eine „Einladung“ nach Flossenbürg. Das Konzentrationslager ist „Leittopos des Todes“ in Fritschs Werk. Es ist eine unbequeme Reise nur auf Stroh im offenen Waggon und der „Rumänenbinder“, ein mit allen Wassern gewaschener Geselle, der im Beisein Wenzels auch schon mal dessen Ehefrau bestiegen hat, rät ihm zur Flucht. Er taucht später wieder auf, jetzt als Sterbender im Verbrennungsofen. Das ist in Wenzels Weltbild kein Widerspruch. Die Toten sind ebenso im Leben wie die Lebenden und es steht für Wenzel außer Frage, dass er am Ende ganz sicher unter den Cherubim weilen wird. Wenzels Flucht bringt ihn sogar bis nach Afrika, wo er die Vorzüge der dortigen Weiblichkeit schätzen lernt. Am Ende bleibt er der Welt, die ihn nicht sonderlich geschätzt und schon gar nicht verwöhnt hat, freundlich gesinnt:  "Ich wünsch allensamt Glück. Wo leben tun. Auf jetzt hinauf."

Steffi Baiers spartanische Inszenierung lebte von der Verkörperung durch einen fabulierfreudigen Gerd Lohmeyer und dessen dialektgefärbte Sprache, die ebenso bucklig und steifbeinig daherkam wie Lohmeyers Wenzel. Im Unterschied zu diesem Inszenierungsansatz sei an die Darstellung von Richard Beek im Jahr 2003 am Residenztheater (Regie: Elmar Goerden) erinnert. Es war Beeks letzte große Rolle († 17. August 2007) und er gestaltete sie als einen düster-existenzialistischen Abgesang auf das Jahrhundert. Ihm standen allerdings auch nicht der beseelte (bayerische) Klang von Lohmeyers Sprechweise und auch nicht dessen einnehmend-schelmische Erscheinung zur Verfügung.

Szenen- und Stimmungswechsel realisierte Steffi Baier mittels Licht (Hans-Peter Boden). Das Bühnenbild bestand lediglich aus ein paar verstreuten Steinen und einigen wenigen verblichenen Baumskeletten. Dazwischen stakste Lohmeyer dreibeinig im Rhythmus seiner Erzählungen umher. Wenn er eine Zigarette rauchte, dann war es eine selbstgedrehte, wenn er, über „Hiltler“ sinnierend, Tabak schnupfte, blieb ihm das schwarze Zeug wie ein Bärtchen unter der Nase hängen.

Regisseurin Baier gelang ein anrührendes, nicht rührseliges, Stück Theater, das bei aller Düsternis nicht düster war, das bei aller Unmenschlichkeit der Geschichte und der Geschichten über viel Witz verfügte und das mit Gerd Lohmeyer ein sehr menschliches Antlitz bekam. Und hat man Lohmeyer in dieser Rolle erst einmal gesehen, ist es schwer vorstellbar, dass jemand anderes sie so spielen könnte. Es war ein kurzweiliger und nachdenklich stimmender Abend.

 

Wolf Banitzki

 


Cherubim

nach dem Roman von Werner Fritsch

Gerd Lohmeyer

Regie: Steffi Baier

Metropol Theater Wie im Himmel von Kay Pollak


 

Von der Kraft der Musik

Stardirigent Daniel ist im Zenit seiner künstlerischen Laufbahn. Er ist für die kommenden acht Jahre ausgebucht; sein Leben ist verplant. Ist es da noch sein eigenes? Wohl nicht und sein Körper präsentiert ihm prompt die Rechnung. Ein Herzinfarkt reißt ihn aus dem Rampenlicht. Er hat Zeit zum Nachdenken und muss erkennen, dass er seinen Traum nur scheinbar gelebt hat. Der beinhaltet, eine Musik zu machen, in der alle Menschen mit allen ihren Sinnen eins werden. Er kehrt in das Dorf seiner Kindheit zurück, an das er nicht die besten Erinnerungen hat. Dort wurde er gehänselt und gepeinigt, da er schon immer etwas anders war als die anderen. Die Dorfbewohner erkennen in Daniel nicht den kleinen Jungen, wohl aber den Stardirigenten. Man fragt sich, was er in dem Kaff wohl will? „Zuhören“, ist seine Antwort, und so hört er sich erst einmal den Kirchenchor an. Widerwillig stimmt er zunächst zu, sich des Chors anzunehmen. Er erkennt die Potenzen und die Liebe der Choristen und widmet sich ganz dieser Aufgabe. Je näher er die einzelnen Sänger an ihre künstlerische Entfaltung heranführt, umso mehr verändert er das Leben der Dörfler.

Genau das ist die Botschaft des Films. Die Musik (Kunst im weitesten Sinne) verändert die Menschen und macht sie aufrichtig, wahrhaftig und stark. So begehrt die Gattin des Pastors gegen dessen bigotte und machtlüsterne Haltung auf. Eine misshandelte Ehefrau findet endlich die Kraft sich gegen ihren Ehemann zu stellen. Zwei Senioren gestehen sich spät, aber nicht zu spät, ihre lebenslange Liebe ein. Die Kassiererin des örtlichen Supermarktes überwindet ihre Enttäuschung, die ihr ein Mann zugefügt hat und bekennt sich zu Daniel. Der, bislang unfähig, eine Beziehung zu leben, findet sein Glück. Doch das dauert nur einen kurzen Moment, denn bei einem Aufenthalt in Salzburg, bei dem sich der Chor an einem Wettbewerb beteiligt, ereilt ihn nicht nur seine Vergangenheit, sondern ein tödlicher Infarkt. Sterbend noch hört er seinen Chor und erkennt, dass er sein Ziel erreicht hat.

  Wie-im-Himmel  
 

Paul Kaiser, Matthias Grundig
Dirk Bender, Astrid Polak, Jakob Tögel, Sebastian Griegel, Nathalie Schott

© Hilda Lobinger

 

Der schwedisch, dänische Film von Kay Pollak aus dem Jahr 2004 ist ganz großes, vielleicht ein Tick zu großes Gefühlskino. Immerhin avancierte er im Land Ingmar Bergmanns zum erfolgreichsten schwedischen Film aller Zeiten. Dominik Wilgenbus wollte die von Kay Pollak nach dem Erfolg des Films erarbeitete Bühnenfassung im Metropoltheater in Szene setzen. Das Endergebnis war ihm nicht vergönnt, denn eine Krankheit zwang ihn zur Aufgabe. Jochen Schölch übernahm und brachte es grandios zu Ende.

Die Bühne von Hans-Peter Boden beschrieb nicht mehr als ein helles Spielareal. Darauf ein schwarzer Flügel, der alles war und auch sein konnte: Supermarktkasse, Tisch, Omnibus, auch Musikinstrument und sogar, kaum zu glauben, ein Geschäft, in dem man Fahrräder kaufen konnte.  Der Wechsel der Spielszenen wurde über das Licht (Thomas Flach) realisiert. Magier Schölch versteht es, zu verführen und die Aufmerksamkeit des Publikums in jedwede Richtung zu steuern. Sein ausgefeiltes Ensembletheater machte es dem Zuschauer auch leicht, denn die Darsteller agierten gleichberechtigt. Niemand versuchte sich, über seine Rolle hinaus zu profilieren. Das war nicht nur wohltuend, sondern diente gleichsam der „Wahrheitsfindung“.

Erstaunlich und beeindruckend waren die gesanglichen Leistungen der Darsteller. Herausragend Nathalie Schott als Siv, eine Frau, die die Person des Pastors als Orientierungshilfe brauchte und die, ihre eigenen Sehnsüchte unterdrückend, Lust und überschwängliche Freude als Sünde empfand. Auch Judith Toth verblüffte mit ihrer wunderbaren Stimme. Sie verkörperte die misshandelte Gabriella, die der physischen Brutalität ihres Ehemanns Conny (Hubert Schedlbauer) nichts entgegen zu setzen hatte, als die zwingende und aufbegehrende Sehnsucht in ihrer Stimme. Lilly Forgách spielte die beherzte und konsequente Ehefrau des Pastors Stig, den sie letztlich in die Wüste seiner fruchtlosen Weltanschauung schickte und der in diesem Augenblick seine ganze Erbärmlichkeit offenbarte. Marc-Philipp Kochendörfer hielt ihrem Spiel würdig stand. Ina Meling gab eine bezaubernd frische und lebenssprühende Lena, der sich Daniel unmöglich entziehen konnte. Matthias Grundigs Daniel wehrte sich wie eine scheue Schnecke, und wurde im schönsten Sinn Opfer des wahren Lebens. Untergang kann auch Sieg bedeuten, wie dieses Stück bewies. Unbedingt erwähnenswert ist die Leistung Jakob Tögels, der den behinderten Bruder Lenas gab. Seine Darstellung eines autistischen Spastikers (?), man mag die unfachmännische Diagnose getrost übersehen, war faszinierend fein und sensibel.

Es war wieder einmal Ensembletheater vom Feinsten, kurzweilig und spannend bei zwei Stunden und zwanzig Minuten mit einer Pause. Sämtliche Darsteller, selbstredend auch die ungenannten, trugen zu einem fabelhaften Ergebnis bei. Eine Auffälligkeit soll noch benannt werden. Menschen, die unaufrichtig, falsch, verschlagen oder sogar brutal waren, haben nicht gesungen. Zwiespältige Charaktere durchliefen indes Dank der Musik einen Läuterungsprozess. Dabei schien nichts von allem an den Haaren herbei gezogen oder konstruiert gewesen zu sein. Es war umso leichter, sich mit der Botschaft und der Machart der Inszenierung von Wilgenbus und Schölch zu identifizieren, da der Showdown im Film so bombastisch ist, dass er alle emotionalen Grenzen sprengt. Auch hier ist der Effekt eine Frage des Maßes. Im Metropoltheater stimmte es, ohne quantitativ und schon gar nicht qualitativ geringer auszufallen. Schönheit ist überall und sie braucht keine gewaltigen Räume. Auch das Gegenteil von Schönheit ist überall, nämlich zerstörerische Brutalität. Und die unterliegt echter Schönheit in jedem Fall. Das hat die Inszenierung bewiesen und diese Einsicht lässt hoffen.

Wolf Banitzki

 


Wie im Himmel

von Kay Pollak

Dirk Bender, Lilly Forgách, Sebastian Griegel, Matthias Grundig, Paul Kaiser, Marc-Philipp Kochendörfer, Ina Meling, Astrid Polak, Hubert Schedlbauer, Nathalie Schott, Jakob Tögel, Judith Toth

Regie: Dominik Wilgenbus/Jochen Schölch

Metropoltheater Die Lügen der Papageien von Andreas Marber


 

 

Augen auf bei der Berufswahl!

Endlich eine Titelrolle. Der kaum beachtete Schauspieler Martin ist glücklich. Die Proben sind fortgeschritten und nun steht der Satz auf dem Probenplan, der dem Stück den Titel gab: „Ich bin ein Stück Scheiße!“ Wie spricht man einen solchen Satz? Wichtig ist, ihn durch sich hindurchfließen zu lassen, erklärt die Jungregisseurin Kathrin. Die ewige Frage wird diskutiert: Totale Identifikation mit der Rolle und „sein“ oder doch Distanz halten und „erzählen“? Kathrin legt sich ins Zeug, denn jede Arbeit könnte die Arbeit sein, mit der der Durchbruch geschafft wird. Doch dann steht plötzlich der Autor auf der Bühne. Er hat davon gehört, dass der alles entscheidende Satz gesprochen werden soll. Auf diesen Augenblick hat er sehnlichst gewartet. Man versucht ihn von der Probe zu verbannen, doch er erpresst sowohl Martin wie auch Kathrin, beschwichtigt und verspricht zu gehen, wenn er diese Szene gesehen hat. Man arrangiert sich und Martin spricht den Satz nicht nur ein Mal, nein, gleich drei Mal, da ihm die Aussage so substanzieller erscheint. Was dann passiert, läutet eine Geschichte ein, die tiefe Einblick gewährt in künstlerische (darstellerische) Existenzen, Selbstverwirklichungsansprüche und in den Apparat Theater.

Autor Andreas Marber wusste, worüber er schrieb. Am Stuttgarter Staatstheater konnte er als Dramaturg hinreichend Material sammeln. Zudem gab es für das Stück einen konkreten Anlass. Nirgendwo sind Glanz und Elend so dicht beieinander wie im Theater. In der Regel überwiegt allerdings das Elend. Doch davon bekommt das Publikum nur sehr selten etwas mit. Manches B oder C Theater lässt Dantes „Göttliche Komödie“ verblassen, angesichts der Höllen, die sich am Theater auftun. Es ist nicht nur ein Tummelplatz für Sadisten, sondern auch ein Jahrmarkt der Eitelkeiten und nicht selten auch der maßlosen Selbstüberschätzungen.

Obgleich es sich bei dem Stück um eine Komödie handelt, steckt gleichsam viel Tragödie darin. Regisseur Jochen Schölch schreckte bei seiner Inszenierung nicht davor zurück, die Geschichte in seinem Metropoltheater anzusiedeln und sie somit sich selbst und seinen Mitarbeitern unterzuschieben. Das impliziert natürlich, dass derartige Vorgänge naturgemäß immer woanders passieren und ganz gewiss nicht am Metropoltheater. Der Zuschauer, von Natur aus eine freundlich gesinnte Spezies, ist indes geneigt, das auch zu glauben. Die Vorstellung, dass die wunderbaren Schauspieler, die jeder Metropoltheaterfan längst namentlich und vom Ansehen her kennt, und die das Publikum im letzten Jahrzehnt mit grandiosen Vorstellungen und Leistungen beglückt haben, so sind, wie sie im Stück dargestellt wurden, erscheint vollkommen absurd. Dabei sollte man jedoch nicht vergessen, dass die Institution Theater aufgrund seiner Struktur und seinem Wesen solchen, im Stück beschriebenen Vorgängen unweigerlich Vorschub leistet. Schauspieler, auch wenn es manche von sich selbst nicht glauben, sind auch nur Menschen.

Cornelia Petz hatte die drei Darsteller in einigermaßen lächerliche Kostüme nebst Perücken gesteckt, die weder Zeit noch Raum erklärten, in denen das eigentliche Drama angesiedelt war, das im Stück geprobt wurde. Eine ästhetische Geschlossenheit war auch nicht auszumachen. Es war Theater im Theater, und Theater heißt immer Verkleidung. Es ist nicht selten einer der gewichtigsten Reize, der Menschen diesen Beruf ergreifen lässt. Martin Dudeck gab die tragische Schauspielerfigur, dessen Fokus auf die „Rolle seines Künstlerlebens“ den Blick auf die Realitäten und Kabalen verstellte. Strotzend vor Unsicherheit bei geballtem Bemühen, das Unmögliche zu bewältigen, hätte er Mitleid erregen können, wenn sich seine Täterambitionen nicht immer wieder Bahn gebrochen hätten. Ihm zur Seite mühte sich die Jungregisseurin Kathrin, von einer durchaus skrupelbehafteten Kathrin von Steinburg gespielt. Geschmeidigkeit war nicht ihre Stärke und so litt sie, die zwischen die Gräben geraten war, durchaus aufrichtig, um endlich den unvermeidlichen, ursprünglich mit Empörung abgewiesenen Kompromiss einzugehen. Die Gräben waren aufgerissen, als der diabolische Autor Matthias seinen Plan in die Tat umgesetzt sah. Matthias Grundig weidete sich sichtlich und völlig schamlos. Aber auch er war nur ein hypertropher Kleingeist. Kritik ließ er bloß gelten, wenn sie sich gegen andere richtete. Die eigene Arbeit war und blieb über jeden Zweifel erhaben.

Am Ende der siebzigminütigen Vorstellung stand Martin Dudeck zu sanften und bedeutungsschwangeren Klängen aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie im Scheinwerferlicht und rang verzweifelt um Worte, die ihn aus der misslichen Lage hätten befreien können. Es konnte, es wollte nicht gelingen, denn als Schauspieler war und ist er auf Gedeih und Verderb an das Wort des Autors gekettet. Trotz aller Komik, die dieses Stück und vor allem die Inszenierung entfaltete, blieb ein bitterer Nachgeschmack über das Los des Schauspielers, der geliebt und verdammt wird und der sich nicht immer davor schützen kann. Also, Augen auf bei der Berufswahl!

 

Wolf Banitzki

 


Die Lügen der Papageien

von Andreas Marber

Martin Dudeck, Matthias Grundig, Kathrin von Steinburg

Regie: Jochen Schölch