Residenztheater Ein Volksfeind von Henrik Ibsen


 

Theater als Labor

Eine der bitteren Erkenntnisse aus der Menschheitsgeschichte ist die Einsicht, dass Ideale nicht alltagstauglich sind. Sie sind es nicht, weil der Mensch selbst letztendlich an seinen Idealen scheitert, zumeist aus egoistischen pekuniären Gründen. Das nennt man auch Verkauf der Ideale. Tomas Stockmann, Badearzt in einem südnorwegischen Kurort, er hat den Ort mit seinem Kampf für ein Kurbad auch gegen die Altvorderen oder auch gegen die Besitzer (Hauseigentümer) erst zu dem gemacht, was es nun ist, ist ein solcher Idealist. Schon die Errichtung des Kurbades wurde gegen seine Pläne boykottiert. Stockmanns Argumente fanden kein Gehör. Jetzt, wo das Bad endlich gute Gewinne abwirft, muss Tomas Stockmann feststellen, dass das Bad kein Gesundbrunnen, sondern eine toxische Jauchegrube ist. Ein wissenschaftliches Gutachten hat seine Vermutungen bestätigt.

Augenblicklich will er damit an die Öffentlichkeit gehen und findet in den Redakteuren des „Volksboten“ aber auch in einigen Bürgern willige Unterstützer. Als aber die (finanziellen) Konsequenzen ruchbar werden, schlägt die Stimmung um. Stockmann wird vom eigenen Bruder, dem Bürgermeister, zum Volksfeind abgestempelt. Alle wenden sich letztlich von Stockmann ab und er und sein letzter verbliebener Verbündeter, der Kapitän Horster, verlieren über Nacht ihre existenziellen Grundlagen. Die Perfidie erfährt ihren Höhepunkt, als Gerbermeister Morten Kiil, Pflegevater von Stockmanns Ehefrau Katrine, deren Altersversorgung erpresserisch zur Disposition stellt. Zuletzt bleibt der Satz Stockmanns im Raum stehen, er sei der stärkste Mann, weil er nun alleine sei. Die bürgerliche Gesellschaft hat sich wieder einmal als übermächtig und gnadenlos erwiesen gegen einen Idealisten, der mit seinen menschlichen Idealen und Ideen die Geldbeutel bedroht.

Ibsen, der als Kind selbst einen finanziellen Ruin und den damit verbundenen familiären Abstieg in die unterste gesellschaftliche Schicht miterleben musste, war dennoch kein politischer Dramatiker, sondern eher ein philosophischer, dessen Werk zeitlos war und ist. Das bewies auch die Inszenierung von Mateja Koležnik am Münchner Residenztheater. Ihre sprachlich stark verschlankte Lesart zauberte die Wesensmerkmale der Protagonisten an die Oberfläche und der Betrachter kam nicht umhin, reale Politik überdeutlich wahrzunehmen. Dabei wurde auch eine neue Qualität der Rezeption deutlich, eine, die zu verstehen gab, dass die Grundlagen des heutigen Bewusstseins inzwischen schwankend sind. Wenn Stockmann behauptet: „Der gefährlichste Feind der Wahrheit und der Freiheit – das ist bei uns die kompakte Majorität. Jawohl, die verdammte, kompakte, liberale Majorität – die ist es!“ bricht ein Sturm der Entrüstung los und der Redakteur Hovstad entgegnet: „Die Mehrheit hat immer das Recht auf ihrer Seite.“ Redaktionskollege Billing beeilt sich, zu ergänzen: „Und die Wahrheit auch, Gott verdamm mich!“ Doch Stockmann bleibt unbeirrt: „Ich denke, wir sind uns einig, dass auf der ganzen weiten Erde die Dummen über die Klugen herrschen!“ Es ist noch nicht lange her, da galt dieser Satz Stockmanns als Ausdruck seiner idealistischen Hybris, seiner intellektuellen Arroganz. Es war politisch nicht korrekt. Und darum nahm man die Figur des Badearztes Stockmann als ambivalent.

  Volksfeind  
 

Thomas Schmauser (Tomas Stockmann)

© Matthias Horn

 

Doch die Welt hat sich geändert. In Italien werden Rufe nach einem starken Mann mit den Ideen eines Mussolinis laut. In Polen regiert eine Bauernpartei und baut Demokratie und Vernunft mit der Abrissbirne ab. In Ungarn gibt ein Präsident die Figur des fleischgewordenen nationalistischen Egoismus. Und die USA wird von einem augenscheinlich Schwachsinnigen regiert, der sich einen Satz wie „Ich höre euch zu.“ auf einen Spickzettel schreiben muss. Wie liest sich nun der Satz von Stockmann vor diesem Hintergrund? Doch wohl mehr als ein verzweifelter Aufschrei, denn als Ausdruck von Arroganz. Also, sollten wir eine Diktatur der Vernunft, der Intelligenz, der Gutmenschen fordern? Nein, gewiss nicht, denn die Idee scheitert bereits im Ansatz. Zweckfreie Vernunft steht praktischer Politik als Gegenpol gegenüber und ist unvereinbar.

Aber es sollte nachdenklich machen, wohin die Vernachlässigung von Bildung oder die Metamorphose von mündigen Staatsbürgern zu willigen, kritiklosen Konsumenten führt. Jedenfalls nicht zu einer mündigen Vernunft. Das wird momentan ganz besonders deutlich, wenn die Bundesregierung Dieselfahrer zutiefst zynisch und verächtlich behandelt. Nachdem ein Clique von geldgierigen, kriminellen Konzernmanagern dem har tarbeitenden Bürger Autos verkauft hat, in denen nicht drin war was drauf stand, aufflog, beeilte sich der hart arbeitende Bürger, sich schleunigst neue Autos zu kaufen, um auch weiterhin zu seiner Arbeitsstelle fahren zu können, was den geldgierigen, kriminellen Konzernmanagern traumhafte Absatzzahlen bescherte. Doch anstatt dem Bürger zu seinem Recht zu verhelfen, nämlich das zu bekommen, wofür er gezahlt haben, lässt die Regierung das oberste Gericht (und somit Hort der obersten Vernunft) darüber beraten, ob es rechtens sei, den hart arbeitenden Bürgern das Fahren mit ihren teuer gekauften Autos zu verbieten.

Das wichtigste Argument dafür ist der Umweltschutz und die gesundheitliche Belastung der Menschen. In diesen Momenten spricht die Politik immer auffällig von Menschen und weniger von Bürgern. Wäre es indes nicht besser gewesen, der Umweltschutz hätte in den obersten Konzernetagen begonnen? Stockmann sagt dazu: „Diese Sorte Menschen liegen mir schon lange im Magen. Sie sind wie Ziegenböcke in einer jungen Anpflanzung. Überall richten sie Unheil an. Einem freien Menschen stehen sie auf Schritt und Tritt im Wege – und am liebsten sähe ich, man könnte sie ausrotten wie schädliche Tiere!“ Soviel zur politischen Aktualität des Stückes und der Inszenierung.

Regisseurin Mateja Koležnik ist in München inzwischen auch für ihre artifiziellen Ansätze bekannt. So ließ sie sich von Raimund Orfeo Voigt einen hermetisch abgeschlossenen gläsernen Quader auf die Drehbühne stellen, aus dem das gesprochene Wort über die Tonanlage des Theaters übertragen wurde. Es war also eine geschlossene Gesellschaft, gleichsam eine Laboranordnung, aus der niemand herauskam und in die man nicht eindringen konnte. In dem von innen beleuchteten Quader befand sich mittig ein kleinerer anthrazitfarbener Quader, der mit drei Türen versehen war. Er stellte die jeweiligen Gebäude dar. Gespielt wurde auf engstem Raum, ein physischer Ausbruch war gleichbedeutend mit einer Krisensituation, denn ein Ausweichen war nicht möglich. Sämtliche Kostüme waren entweder schwarz oder in variierenden Grautönen gehalten. Kostümbildner Alan Hranitelj bediente dabei die Mode der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, der Schaffenszeit Ibsens.

Diese Ästhetik und die Reduktion auf das (Theater-) Labor und die minimalistische, kaum raumgreifende Spielweise waren durchaus sehenswert; sie warfen allerdings auch Fragen auf. Wie bereits angedeutet, transportierte die Inszenierung und vor allem die druckvolle und im Habitus sehr heutig anmutende Spielweise Thomas Schmausers als Stockmann eine erschreckende Modernität. Warum also agieren die Darsteller wie Laborratten, obgleich sie doch auf überzeugendste Weise Zeitgenossen sein könnten? Ist es nicht halbherzig, die Wucht der Idee im Weckglas zu belassen, als mit ihr die vierte Wand niederzureißen? Sollte Mateja Koležnik die Befürchtung gehabt haben, damit eine Revolte oder gar eine Revolution auszulösen, kann ihr getrost versichert werden, nicht in München!

Über die einzelnen schauspielerischen Leistungen lässt sich von Seiten der Kritik (also von Wolf Banitzki) kaum etwas sagen, denn aus der letzten Reihe auf dem Balkon blieben die Darsteller weitestgehend unkenntlich und schemenhaft. Die Bewegungsalgorithmen im Brutkasten der bürgerlichen Gesellschaft verrieten immerhin einen gelungenen Plan. Es war eine sehr interessante Inszenierung, deren Wirkung indes keine eruptiven gesellschaftlichen Dimensionen annahmen, sondern im Maßstab einer Versuchsanordnung verblieben.

Wolf Banitzki

 


Ein Volksfeind

von Henrik Ibsen

Thomas Schmauser, Katharina Pichler, Lilith Häßle, Thomas Huber, Paul Wolff-Plottegg Morten Kiil, Till Firit, Thomas Lettow, Bijan Zamani, Thomas Gräßle

Regie: Mateja Koležnik

Residenztheater Heilig Abend  von Daniel Kehlmann


 

Gut, dass wir drüber geredet haben

Was macht eine gelungene Fiktion aus? Eine gelungene Fiktion ist eine frei erfundene Geschichte, deren äußere Umstände, deren innerer Ablauf und deren Psychologie der Protagonisten so logisch sind, dass die Geschichte tatsächlich so passiert hätte sein können. Die Inszenierung unter der Regie von Thomas Birkmeir am Münchner Residenztheater begann damit, dass Judith, gespielt von Sophie von Kessel, mit Handschellen am Siphon eines Waschbeckens gekettet, sich in selbiges übergibt. Ein Siphon ist selbst für einen Laien keine wirkliche Fixierung. Egal. Um 22.30 Uhr am 24. Dezember, also am „Heilig Abend“, betritt der Polizist Thomas den Raum.

Für alle die meinen, es handele sich beim „Heilig Abend“ um einen vom Handel organisierten Jahresschlussverkauf, nein, es ist der vermeintliche Geburtstag, des vermeintlichen Heilands, dessen Existenz nie zweifelsfrei nachgewiesen wurde und der lediglich in einem Buch namens Bibel, dass in der heutigen Form erst dreihundert Jahre nach dessen vermeintlicher Geburt auf Befehl eines römischen Kaisers namens Konstantin in Auftrag gegeben wurde, entstand. Konstantin hatte, vielleicht unter Einfluss von psychedelischen Drogen, vor einer Schlacht im Jahr 312 eine Kreuzerscheinung am Himmel. Das Christentum wurde Staatsreligion, eines der besten Geschäftsmodelle in der Geschichte. Zu Luthers Zeiten, wir feierten den „Ketzer“ gerade aufwendig, gehörten der katholischen Kirche ein Drittel des deutschen Grundbesitzes. Warum die epische Breite, wird sich nun mancher fragen? Weil der „Heilig Abend“ eine plumpe Lüge ist, die vormals als blanke Wahrheit verkauft und inzwischen mit Symbolkraft aufgeladen wurde, weil die historischen Lügen keinen Bestand mehr hatten. Ist es nun ein oberflächlicher Effekt von Daniel Kehlmann, sein Stück „Heilig Abend“ zu nennen, oder glaubt er ernstlich, dass die Suggestion, an diesem Abend finde tatsächlich eine besondere Besinnung auf (das Thema) Frieden statt, verfängt? Egal.

Judith, Philosophieprofessorin, ist von der Polizei aus dem Taxi heraus „zu einer Befragung gebeten worden“. Dann hing sie am Siphon. Ein wesentlicher Faktor des Stücks ist die Zeit. Untertitel: Ein Stück für zwei Schauspieler und eine Uhr. Kehlmann setzte in diesem Stück eine Faszination um, die durch den Film „High Noon“ bei ihm ausgelöst wurde. (Regie: Fred Zinnemann, 1952) Darin muss sich ein Sheriff gegen die Zeit auf ein tödliches Duell mit mehreren Bösewichtern rüsten, deren Anführer 12.00 Uhr mittags mit dem Zug ankommt, Handlung in Echtzeit also. Polizist Thomas, eher schlicht gestrickt und mit einer gehörigen Portion aggressiver Blockwartsmentalität ausgestattet, hat bis Mitternacht ganze 90 Minuten Zeit. Wofür? Nun das erfährt man erst nach 30 Minuten. Thomas vermutet, dass Judith und ihr Ex-Mann eine Bombe deponiert haben, um „zur Destabilisierung des Status Quo“ beizutragen.

Die Bombe soll um Mitternacht zur Explosion gebracht werden. Wo ist die Bombe? Immerhin, dreißig Minuten lässt sich Thomas Zeit mit Smalltalk über sich, sein Leben, die Welt und über die Tatsachen, dass nichts, aber auch gar nichts aus dem Leben der Professorin Judith mit gutbürgerlichem Hintergrund und ihrem Ex dem Gesetzeshüter verborgen blieb. Hier hatte sich Daniel Kehlmann von den Aussagen Edward Snowdens, dem letzten echten Helden Amerikas, inspirieren lassen. Illegale revolutionäre Aktivitäten in Lateinamerika wurden ebenso ans Licht der staatlichen Redlichkeit gezerrt wie intimste Geschichten aus der gescheiterten Ehe und dem Leben des Ex-Manns, der, was für eine Überraschung, schon seit 24 Stunden im Nebenraum verhört wurde.

  Heilig Abend  
 

Sophie von Kessel (Judith), Michele Cuciuffo (Thomas)

© Thomas Aurin

 

Darauf kam man nicht zwangsläufig, denn das Bühnenbild von Andreas Lungenschmid ließ gleichsam die Vermutung zu, man befinde sich in einem stillgelegten Kaufhaus, in dem gerade renoviert wird. Große gläserne Trennwände mit teilweise zerrissener Folie abgeklebt, ließen immerhin so viel Durchblick zu, dass dahinter zwei große Trittleitern auszumachen waren. Es stellte sich spontan die Frage, in welchem Land befindet man sich eigentlich, wo Polizeistationen, Repräsentationsgebäude der staatlichen Exekutive so aussehen? Diese Frage wurde noch quälender, als Thomas Judith mit extremer Gewalt zwei Faustschläge in den Unterleib verabreichte. (In Deutschland verlor ein hochrangiger Ermittler im Entführungsfall des Frankfurter Bankierssohns Jakob von Metzler seinen Job, weil er, um das Leben des Kindes zu retten, dem Mörder Gewalt lediglich angedroht hatte.) Egal.

Nehmen wir einmal an, es handele sich bei dieser Fiktion um so etwas wie einen Versuchsaufbau, um unter Laborbedingung zu brauchbaren, auf die Gesellschaft übertragbare Wahrheiten zu kommen. Judith wählte genau diese Ausrede, als man sie mit einem Pamphlet konfrontierte, das auf ihrem Rechner „versteckt“ war: „Wir bekennen uns zu dieser Aktion, gesetzt zur Mitternacht des vierundzwanzigsten Dezember.“ Es handelte sich nur um ein hypothetisches Theorem, wie Judith zu erklären versuchte, als Basis für ein Seminar, Gedankenspiele, wissenschaftliche Arbeit. Im Stück ging es nun darum, die Frage zu beantworten, ob die Sicherheit in der Gesellschaft gegen Freiheit eingetauscht werden darf. Kehlmann selbst formuliert es in Bezug auf das unbedingte Recht der beiden Protagonisten in einem dramatischen Werk wie folgt: „Ist die Sicherheit der Bürger es wert, die Freiheit zu opfern? Oder ist Freiheit das höchste Gut, das niemals, keinen Schritt weit, preisgegeben werden darf? Die Antwort auf beide Fragen ist natürlich ein klares Ja.“

Hier ist Widerspruch angebracht, denn die erste Frage resultiert aus der gesellschaftlichen Praxis, ein Totschlagargument von Innenminister, Konservativen und „besorgten Bürgern“, die zweite indes ist eine philosophische Frage, immer wieder beschworen von zumeist linken Idealisten, Ethikern oder Richtern des Verfassungsgerichts. In dieser Konstellation und in dieser Gegenüberstellung ist alles möglich, nur keine Wahrheitsfindung. Für einen Theaterabend mag das unterhaltsame Experiment taugen, für die Bewältigung der existenziellen Fragen dieser Welt nicht. Die Welt mag ungeheuer komplex sein und die Vielfalt der Anschauungen über die Welt ist es ebenso. Doch die Triebkräfte, die die Welt bewegen, sind beschämend simpel.

Am Ende aller Aufstände, aller Revolutionen, aller Revolten stehen doch immer wieder nur die Geldströme, allerdings in veränderten Flussbetten. Das ist der ganze banale Sinn von gesellschaftlichen Entwicklungen und die Ideen von der besseren Welt sind theatralische Intermezzi, die zwar unterhaltsam, jedoch der Realität nicht wirklich zuträglich sind. 10.000 Jahre Menschheitsgeschichte, in der die heute lebende Menschheit vermutlich einmal von menschlicher Hand ausgerottet worden ist, haben dazu geführt, dass sich mehr als die Hälfte des Weltvermögens in der Hand von nur einem Prozent der Menschen befindet. Dass die Politik, wer mag die Krise der Parteienpolitik in Deutschland noch leugnen, dabei zum Hemmschuh geworden ist, will sie sich doch mit nachweislich vergeblichen Regulierungsmaßnahmen ihre Glaubhaftigkeit beim Wähler (Arbeitgeber) erhalten, beweist letztlich die Tatsache, dass die herrschende Klasse (die Besitzenden) die politischen Führer inzwischen selbst stellt, also Milliardäre (politische Blindgänger) Präsidentenämter bekleiden. Selbst im kommunistischen chinesischen Volkskongress ist die Zahl der Millionäre dreistellig und die der Milliardäre beachtlich. Das ist nur aufrichtig und ehrlich, wenngleich unappetitlich, denn wenn Konzernbosse zu Enddarmbewohner dieser politischen Knallchargen mutieren (Siehe unlängst in Davos!), ist der „Zoff“ gleichsam vorprogrammiert. In den letzten 55 Jahren des 20. Jahrhundert, also nach dem 2. Weltkrieg, fanden weltweit 218 Kriege, Bürgerkriege und militärische Konflikte statt. Soviel zur Lernfähigkeit und zum Friedenwillen des Menschen.

Judith hat es sinngemäß auf den Punkt gebracht, wenn sie meint: Fürchtet nicht die Handvoll Terroristen, sondern den Hunger weltweit. Die Leader dieser Welt (Sie vermeiden ganz bewusst das deutsche Wort.) nehmen diesen „Zoff“ gern in Kauf, denn hinter jedem Konflikt und dem Ruf nach innerer/äußerer (ist beliebig) Sicherheit steht ein Geschäftsmodell und wieder baden wir in den Strömen des Geldes. So schießen in Syrien Kurden, für die Türken sind sie Terroristen, für alle anderen Kurden Freiheitskämpfer, mit deutschen Panzerabwehrraketen auf deutsche Leopardpanzer, gesteuert von türkischen Armeeangehörigen, für die Türken sind sie Patrioten, für viele andere Schergen eines Diktators. Egal, wie der Konflikt ausgeht, ein Gewinner steht bereits fest. Bitte ein Tusch! The winner is: Die deutsche Wirtschaft. Schamgefühl? Egal.

Und noch ein desaströser Fauxpas durfte der Zuschauer an diesem Abend erleben, nämlich als Polizist Thomas seinen Halfter samt Waffe über jenen Stuhl hängte, auf dem Judith saß. So blöd kann doch kein Polizist sein, der seinen Beruf gelernt hat. Es haperte jedoch nicht nur an manchen szenischen Einfällen, sondern durchaus auch an der Anlage der Rollen. Während Michele Cuciuffo einen durchwegs glaubhaften und angesichts der intellektuellen Überlegenheit seiner Gegenspielerin trotzdem einen überaus witzigen Polizisten gab, dessen physische und sprachliche Präsenz die Inszenierung über weite Strecken allein trug, versetzte die Eintönigkeit Sophie von Kessels Judith einige Male in Erstaunen. Bei dieser Figur handelte es sich um eine hartgesottene Revoluzzerin, die nicht nur über Erfahrungen im Widerstand (Peru und Chile, wo man nicht zimperlich mit Systemkritikern umging) verfügte, sondern auch über die intellektuelle Überlegenheit dank eines Instrumentariums philosophischer Argumente. In der Werbung zum Stück wurde vorab ein Schlagabtausch beschworen, der Thomas, den Vertreter der systemischen Macht, in eben jene Enge treiben sollte, die ihm intellektuell eigen ist. Dem war keineswegs so. Vielmehr verkörperte Sophie von Kessel eine ängstliche und hysterische Frau, der weder ihre intellektuelle Fähigkeit noch ihr Wissen um revolutionäre und konspirative Methoden zu einer spielerischen Überlegenheit verhalfen. Wäre diese Überlegenheit sichtbar geworden, wäre wenigstens der plötzliche Gewaltausbruch des Staatsdieners glaubhaft(er) gewesen.

Das Stück steht auf schwankendem Boden und brachte eines mit Gewissheit nicht, einen Zuwachs an brauchbaren Einsichten. Es ist ein sprachlich ausgefeilter Betrag mit einigen verblüffenden Wendungen und einem Erinnern an Frantz Fanon zum Thema unserer Zeit. Terrorismus. Welchen Raum nimmt der Terrorismus real in unserer Gesellschaft ein? Einen kaum messbaren! Wenn Kehlmann von Gefangenschaft spricht, dann beschwört er eine Gefangenschaft, die bewusst und unbewusst von kleinen Teilen der Gesellschaft erzeugt wird und die nur in unseren Köpfen stattfindet. Es mag sich jeder selbst befragen, in wieweit er sich freiwillig in dieses Gefängnis begeben hat. Genau an diesem Punkt beginnt nämlich der Bürger seine Freiheit abzutreten. Egal? Aber gut, dass wir darüber geredet haben …

Wolf Banitzki

 


Heilig Abend

Ein Stück für zwei Schauspieler und eine Uhr
von Daniel Kehlmann

Sophie von Kessel und Michele Cuciuffo

Regie: Thomas Birkmeir

Residenztheater  Alice im Wunderland von Lewis Caroll


 

Die Poesie des Nonsens

Alle Jahre wieder: Ein Weihnachtsmärchen für die Kleinen und die, die sich das Kleinsein erhalten konnten. Diesmal kam der bedeutendste Klassiker der Nonsens-Literatur auf die Bühne: Alice im Wunderland. Autor dieses wunderbaren, weltweit gelesenen Werkes war der Tutor für Mathematik Charles Lutwidge Dodgson, der sich den Künstlernamen Lewis Carroll gab. Er unternahm am 4. Juli 1862, der Termin ist umstritten, denn das Wetter war an diesem Tag scheußlich, mit den Töchtern des Oxforder Dekans, Lorina Charlotte, Alice Pleasance und Edith Mary Liddell eine Bootsfahrt auf der Themse. Dabei erzählte er ihnen eine sehr skurrile Geschichte, die er anfänglich „Alice’s Adventures Under Ground“ und dann später nach etlichen Hinzufügungen „Alice’s Adventures in Wonderland“ nannte. Auf den Tag genau drei Jahre später erschien die erste Buchausgabe.

Lewis Carroll hatte sich schwer getan mit einer Veröffentlichung, betrübte ihn doch die Unsicherheit, dass Kinder den Text nicht verstehen und ihn somit auch nicht rezipieren könnten. Zerstreut wurden die Bedenken durch den engen Freund George MacDonald, schottischer Dichter und Pfarrer, der den Text seinem Sohn Greville vorlas, der über alle Maßen begeistert reagierte. Gewidmet hatte Caroll das Buch über die Abenteuer der kleinen Alice, das von Königin Victoria ebenso begeistert gelesen wurde wie von Oscar Wilde, der gleichnamigen Alice Pleasance Liddell.

Leider scheint sich hinter der Beziehung zwischen Caroll und dem von ihm bevorzugten Mädchen und Fotomodell ein dunkles Geheimnis zu verbergen, denn die Freundschaft mit der Familie Liddell brach im Juni 1863 abrupt ab. Niemand erfuhr den Grund dafür und die Familie des Schriftstellers tilgte sämtliche Dokumente, die darüber hätten Aufschluss geben können. 1880 brach auch die Karriere als recht erfolgreicher Hobbyfotograf ab. Caroll bevorzugte als Modelle Mädchen im Alter von fünf oder sechs Jahren, die er auch nackt ablichtete. Die Malerin Emily Gertrude Thomson, die Caroll die jungen Modelle vermittelte, berichtete von den Fotosessions: „Wie sein Lachen klang – wie das eines Kindes!“ Hoffen wir mal, dass alles so unschuldig war, wie es sich in diesem Satz darstellt.

  Alice im Wunderland  
 

Till Firit (Hutmacher), Barbara Melzl (Herzkönigin), Mara Widmann (Weißes Kaninchen), Arthur Klemt (Diedelidum), Arnulf Schumacher (Henker), Wolfram Rupperti (Diedelidei), Tim Werths (Mäusemann)

© Thomas Aurin

 

Zum Text: Alice ist ein vorlautes Geschöpf, dem Regeln eigentlich zuwider sind. Als sie gemeinsam mit ihrer Schwester in freier Natur weilt, die Schwester liest ein langweiliges Buch, in dem es weder „Bilder noch Gänsefüßchen“ gab, entschlummert sie in einen Traum. Ihr war ein weißes Kaninchen begegnet, dem sie in dessen Bau folgt. Alice gerät in eine wundersame Welt voller skurriler Figuren und Landschaften. Kaum etwas macht wirklich Sinn. Doch das war längst kein Grund für das Mädchen, zu verzweifeln. „(…) Alice hatte sich so sehr an das Außerordentliche gewöhnt, dass ihr die Normalität fade und dumm erschien.“ Die Reise führt sie zuallererst durch die Sprache, in der alles möglich scheint. Sie breitet sich ebenso widersinnig labyrinthisch aus, wie die seltsamen Charaktere und deren Größenverhältnisse. Alice kann sich in Sekundenschnelle von einer drei Meter großen Riesin auf das Format einer Raupe schrumpfen. Dabei gerät sie beispielsweise in ein Haus, das durch ihr Wachstum zu bersten droht, oder in einen See, der aus ihren eigenen Tränen besteht. Als sie am Ende einem für alle Beteiligten tödlich endenden Prozess der Roten Königen entkommt, deren Hofstaat sich als flatternde Spielkarten entpuppt, erwacht sie im Schoß der Schwester, die ihrerseits den Traum aufgreift und sich von der durch Alice angeregten Fantasie in den Sonnenuntergang tragen lässt.

Regisseurin Christina Rast hielt sich im Wesentlichen an die literarische Vorgabe und breitete die ganze Fülle der Szenen vor dem staunenden Publikum im Residenztheater aus. Dabei hatte sie einige physikalische Hürden zu überwinden, z.B. das permanente Schrumpfen und Wachsen. Immerhin konnte sie auf einige Erklärungen im Text zurückgreifen, denn schließlich ist ja alles relativ. War die Tür klein, war Alice, gespielt von einer quietschlebendigen Anna Graenzer, groß, und umgekehrt. Fraglich blieb allerdings, ob die kleinsten Besucher, die Vorstellung war für Kinder ab 6 Jahre ausgeschrieben, das auch erfasst und verstanden haben. Egal, es war allemal Spektakel genug auf der Bühne, um die Kleinen wie die Großen zu fesseln.

Dafür sorgten auch die exzellent kostümierten Figuren (Kostüme Marysol del Castillo) wie das Weiße Kaninchen, perfekt mit Mara Widmann vom Münchner Volkstheater besetzt, oder der Hutmacher, beeindruckend präsent und sprachlich geschliffen von Till Firit gestaltet. Eine Anleihe aus „Alice im Spiegelland“ waren Arthur Klemt als Diedelidum und Wolfram Rupperti als Diedelidei. Das spiegelverkehrte Paar (die Zwillinge Tweedledee und Tweedledum) sorgte ebenso für Amüsement wie Tim Werths Humpdipumpel, gleichsam aus dem „Spiegelland“ entlehnt, wo er ein „Ei auf der Mauer“, genannt Humpty Dumpty, gab. Im Residenztheater schwebte er federleicht in den Höhen des (Bühnen-) Himmels, quasi von oben herab seine krude Weltsicht propagierend. Ihm verdankt die Welt immerhin den „Ungeburtstag“, den man an 364 Tagen im Jahr feiern kann. Arnulf Schumacher, dem Residenztheatergänger seit vielen Jahren hinreichend bekannt, war eigentlich nur als Henker erkennbar, dabei belustigte er darüber hinaus als Walross, Absolem – die Raupe und als Babyferkel.

Beängstigend wuchtig geriet Barbara Melzls Herzkönigin, besonders wenn sie nachdrücklich „Kopf abschlagen!“ forderte. Das verbreitete bei den Kleinen im Publikum doch einigen Schrecken, zumal wenn, wie im Text, diese Forderung nicht deutlich zurückgenommen wurde. Dort nämlich verkündete beispielsweise der Herzkönig, in der Spielfassung ein (sinnvolles) Opfer des dramaturgischen Strichs, im Abgang die Begnadigung aller Verurteilten. Noch deutlicher wurde (im Text und nicht auf der Bühne) der Greif (Jabberwocky), der Alice zur Falschen Suppenschildkröte brachte, damit sie von der ihre traurige Lebensgeschichte erfahren sollte. Er stellte richtig: „Was für ein Spaß!“ Als Alice sich nach dem Spaß erkundigte, erklärte der Greif: „Nun, Sie natürlich. Das geschieht doch alles nur in Ihrer Einbildung: niemand denkt daran, jemanden hinzurichten.“

Die Grinsekatze, ihre Stimme aus dem Off lieh ihr Raphael Clamer, entsprach ziemlich genau der Originalillustration von Sir John Tenniel und schlich sich immer wieder als Videoprojektion ein. (Video Katja Moll) Auf diese Weise war es für jedermann schlüssig und verständlich, wie ein Grinsen ohne Katze zustande kommt.

Es war eine gelungene Inszenierung, der das fantasievolle, sowohl schöne wie auch zweckmäßige Bühnenbild von Franziska Rast ein eindrucksvolles Fundament bereitete. Die Umsetzungen der Widersinnigkeiten mögen vielleicht nicht allen Kindern aufgegangen sein, für die Erwachsenen, die ja, verglichen mit den Kindern nicht unbedingt mit Fantasie und Weisheit gesegnet sind, war es eine intellektuelle Herausforderung, womit ganz nebenbei der Beweis erbracht wurde, dass Theater bildet. Die Textbearbeitung von Christina Rast und Götz Leineweber erleichterten das Verständnis (soweit es darauf überhaupt ankam) durchaus. Die Lieder von Felix Müller-Wrobel, beherzt musikalisch untermalt von den Musikern Micha Acher, Cico Beck, Mathias Götz und Alex Haas, hatte eine ganz eigene Qualität, die den Vergleich zu Lewis Carolls Nonsens-Gedichten nicht scheuen brauchten.

Es ist vorstellbar, dass es nicht einfach sein wird, für diese Inszenierung Karten zu bekommen. Aus gutem Grund!

Wolf Banitzki

 


Alice im Wunderland

von Lewis Carroll
für die Bühne bearbeitet von Christina Rast und Götz Leineweber mit Liedern von Felix Müller-Wrobel

Anna Graenzer, Mara Widmann, Barbara Melzl, Till Firit, Tim Werths, Arthur Klemt, Wolfram Rupperti, Arnulf Schumacher,
Alexander Breiter, Claudia Ellert, Oliver Exner, Julien Feuillet, Kirsten Schneider, Monika Steinwidder, Olivia Szpetkowska, Dave Wickrematilleke

Live-Musiker: Micha Acher, Cico Beck, Mathias Götz, Alex Haas

Regie: Christina Rast

Residenztheater Richard III von William Shakespeare


 

Hoffnung ist Illusion

William Shakespeare erschuf einen Mann, der mit der realen historischen Gestalt kaum oder gar nicht vergleichbar war. Dieser Mann hat einen Plan. Sein Name ist Richard, Herzog von Gloster aus dem Hause York. Er hat sich im Spiegel betrachtet und kam zu dem Schluss: Richard ist hässlich, „und zwar so lahm und so ungeziemend, dass Hunde bellen, hink ich wo vorbei.“ Wer so verabscheut, so ungeliebt ist, sollte König werden, auch und vor allem, weil es niemand sonst will: „Weil ich den Liebhaber nicht spielen kann, hab ich beschlossen, hier den Dreckskerl aufzuführn.“ Da passt es in den Plan, dass man so gar nichts fühlt, kein Mitleid, keine Verbundenheit, nicht einmal gegen das eigene Blut. Gloster ist kein Anfänger in seinem mörderischen Gewerbe. Seine Lehrzeit fällt in die Rosenkriege, in denen sich die Yorks (Weiße Rose) und die Lancasters (Rote Rose) den Rang streitig zu machen suchen. Gloster beendet die Herrschaft der Lancasters, in dem er König Heinrich VI und dessen einzigen Sohn Edward meuchelt. Als er Heinrich VI niedersticht, gesteht er freimütig: „Ich, der nichts weiß von Mitleid, Lieb und Furcht! ...“ (König Heinrich VI, Dritter Teil, Szene 6)

Jetzt, im Drama „Richard III“, als die eigene Sippe an der Macht, Glosters eigener Bruder Edward IV König ist, zeigt sich das ganze Ausmaß seiner Fühllosigkeit. Und so beschließt er den Tod des mittleren, in der Erbfolge vor Gloster rangierenden Bruders Georg, Duke of Clarence. Ein Orakel lässt Edward, der bereits stark kränkelt, glauben, dass ihm sein Bruder Georg nach dem Leben trachtet. In der Gegenwart der Leiche König Heinrich VI vollführt Gloster seinen ersten diabolischen Geniestreich. Er betört Heinrichs (VI) Schwiegertochter Lady Anne, die er selbst zur Witwe machte, ohne seine Taten zu leugnen, und steckt ihr einen Ring an den Finger. Dann lässt Gloster seinen Bruder Clarence im Tower töten und überbringt die Botschaft seinem anderen Bruder König Edward VI, diesem die Schuld für den Brudermord genussvoll in die Schuhe schiebend. Den nächsten Tag erlebt der gramgebeugte König nicht mehr.

Lord Hastings, der sich den Plänen Glosters nicht fügt, wird ebenso einen Kopf kürzer gemacht. Gloster rechtfertigt die Bluttat mit der Sorge um die Sicherheit Englands, - „Heimatschutz“, könnte man es auch nennen. Jetzt ist die Krone zum Greifen nah, doch er greift nicht danach, sondern lässt sie sich vom Volk und den Pairs geradezu aufdrängen. Das gefakte Begehren der Mehrheit wurde vom Herzog von Buckingham, dem getreusten Handlanger Glosters, initiiert. Aber auch ihn verrät der bucklige König am Ende. Gloster genießt den Triumph auf die ihm eigene Art: „Ich bin ja nicht von Stein: / Durchdringlich eurem freundlichen Ersuchen, / Zwar wider mein Gewissen und Gemüt.“

Die letzte Hürde, die den Thron noch wanken lässt, sind die beiden Kinder König Edwards und ein junger Sohn des Bruders Clarence. Auch diese nimmt Gloster schwungvoll, lässt die beiden Thronprätendenten töten und den dritten auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Ein Widersacher konnte sich dem Blutrausch Glosters durch Flucht nach Frankreich entziehen: Richmond, Halbbruder Heinrich VI. Er stellt ein Heer auf und kehrt mit Verbündeten nach England zurück, um Gloster erfolgreich zu stürzen. Durch Eheschließung zwischen Richmond und Elisabeth, Tochter Edward IV, werden die verfeindeten Dynastien miteinander verbunden und der Krieg findet sein Ende.

  Richard III  
 

Michele Cuciuffo (Hastings), Marcel Heuperman (Catesby), Norman Hacker (Richard III)

© Matthias Horn

 

Michael Thalheimers Inszenierung am Münchner Residenztheater war, wie nicht anders zu erwarten, eine eigenwillige Lesart und Interpretation. Bühnenbildner Olaf Altmann schuf für die Inszenierung einen hohen düsteren Schacht aus schwarzem, vielleicht verkohltem Holz. Der Bühnengrund war angefüllt mit Brandresten der Geschichte, Kohle und Asche. Daraus erhoben sich die Figuren, nicht glanzvoll wie Phönix, sondern wie immer wiederkehrende Protagonisten einer unbelehrbaren Geschichte, um ihr zerstörerisches Werk immer und immer wieder zu verrichten. Allen voran Gloster, ein geistiger und körperlicher Kretin, deformiert in jeder Hinsicht. Norman Hacker spielte diese Deformationen mit jeder Faser seines Körpers und jeder Nuance seiner Stimme. Bei aller Clownerie, die dabei entstand, blieb er stets und ständig ein perfides blutrünstiges Monster, die Personifizierung des Bösen schlechthin. Es gibt nur noch zwei berühmte Bühnenrollen, die wie Gloster als uneingeschränktes Bekenntnis zum Bösen daherkommen. Die zweite stammt ebenfalls aus der Feder des Engländers: Jago („Othello“). Christian Dietrich Grabbes Neger Berdoa („Herzog Theodor von Gothland“) ist die dritte dramatische Ausgeburt. Diese Figuren müssen sich nicht erklären, sie handeln einfach nur, folgen ihren niedrigsten Instinkten und perversesten Neigungen. Dabei gibt es in diesem Stück noch eine zweite Figur, die Gloster in nichts nachsteht. Gemeint ist der Herzog von Buckingham, kongenial zu Norman Hacker mit Thomas Schmauser besetzt. Schließlich steht hinter jedem Tyrannen immer auch ein pervers-genialer Stratege und Stichwortgeber. In Thalheimers Inszenierung bleibt auch er nur ein Handelnder, dessen Beweggründe allein in der Mechanik der Vorgänge ablesbar bleiben. Dabei verbirgt sich hinter dieser Figur und auch der Figur Richard III ein Universum an psychologischen Variablen. Doch die lotet Michael Thalheimer nicht aus.

Ihm geht es vielmehr um die erschütternden Einsichten über die Modernität des Dramas und der Figur Glosters. Er ist ein Tyrann, der nicht nur Nebenbuhler in feindlichen und auch der eigenen Partei überwinden muss, sondern auch das Volk. Ohne auch nur die geringste konkrete Andeutung, drängten sich die Parallelen zur heutigen Weltpolitik auf. Da sind Potentaten, deren (zumeist seelische, aber auch physische) Hässlichkeit ins Auge springt; Potentaten, die eine ungeheure Machtfülle haben und die, obgleich sie längst ganz augenscheinlich gegen ihr eigenes Volk regieren, noch immer dessen (beinahe) uneingeschränkten Rückhalt haben. Diese Potentaten schüren hemmungslos und nicht einmal sonderlich geschickt den Hass gegen politische Feinde, gegen benachbarte Nationen und gegen jede Form von (politischer, ökonomischer und auch ökologischer) Vernunft.

Die Geschichte, die der Gesellschaft schlechthin, aber auch die um Richard III, wurde in Schwarz-Weiß erzählt. Und zwar im wahrsten Sinn des Wortes (Kostüme Michaela Barth). Wenn eine Farbe ins Spiel kam, dann war es rote. Es waren die blutigen Hände Tyrells (Michele Cuciuffo) nach der Bluttat im Tower an den Söhnen Edward IV. Oder es war eine rote Plastiktüte, Mordinstrument in den Händen Catesby, devot, eilfertig und effizient von Marcel Heuperman gespielt. Wenn Richmond (Philip Dechamps) zuletzt bei Gloster den Blutzoll einfordert, spritzt der rote Saft in den Raum, sich mit der Asche der Geschichte vermählend. In diesem Augenblick strömte warmes Licht von oben in den schwarzen Schacht, was angesichts der zweieinhalbstündigen Düsternis ein wenig kitschig anmutete. Vielleicht hatte Michael Thalheimer ein zu düsteres Bild von der „Weltgeschichte“ geschaffen, als dass das Licht dazu hätte taugen können, Optimismus zu verkünden. Zu tief drang das düstere Grollen (Musik Bert Wrede) in die Betrachter ein; zu sehr waren die Protagonisten griechisch-tragödisch, um als Betrachter den Kopf oben behalten zu können.

Maßgeblich beteiligt waren daran die Frauenfiguren, die wie Erinnyen orakelten, nicht wie verletzte Frauen greinten, tobten und verdammten. Allen voran Charlotte Schwab als Herzogin von York, Mutter Glosters. Hölzern vor Gram und Entsetzen durchschritt sie die Szene um Klage zu halten. Hanna Scheibes Königin Elisabeth verwandelte sich gänzlich in den Schrei der Anklage wider die Mörder ihrer Kinder und zwischen dieser gramvollen Versteinerung und der vom Schmerz zersetzten Mutterfigur wandelte Sibylle Canonicas Margaret von Anjou, der Gloster sowohl den Mann als auch den Sohn genommen hatte. Anna Drexlers Lady Anne war es zudem noch vergönnt, die Ehefrau des Scheusals zu werden, das vorgab, ihren Vater und ihren Bruder aus Liebe zu ihr getötet zu haben. Sie fand ihre königliche Rolle zwar, doch führte die sie mehr oder weniger in den Wahnsinn.

An Michael Thalheimers Inszenierung war lobenswert, dass er, ohne platte Vergleiche, den Zuschauer mit dem Heute konfrontierte. Nun muss man dieser heutigen Realität allerdings auch zugestehen, dass sie einen Shakespeare an Theatralik durchaus in den Schatten stellen kann. Wenn Gloster die Tötung seiner Feinde mit dem billigen Vorwurf der Hexerei veranlassen kann, ist das heutigen tags nicht mehr sehr glaubhaft. Wenn ein Präsident eine Stadt zu einer Hauptstadt erklärt und innerhalb von 24 Stunden damit eine Konfrontation in der Größenordnung eines Bürgerkrieges auszulösen vermag, staunt der politische Laie schon. Es mutet an, als sehnten sich alle nach diesem Konflikt und stürzten sich lustvoll kopfüber hinein.

Wir müssen uns einfach eingestehen, dass wir wieder in der rüden Welt der Glosters, der Jagos und der Berdoas angekommen sind. Interessensvertreter, und zumeist sind es ökonomische, gehen nicht mehr den Weg über die Politik oder die Diplomatie. Diese Wege sind ineffizient geworden. Also übernehmen Milliardäre, Geheimdienstler und narzisstische Idioten, von den Kirchen dieser Welt abgesegnet, die moralisch und ökonomisch maroden Gesellschaften. Der Bürger sehnt sich nur nach geordneter Sicherheit. Er gibt jedem seine Stimme, der ihm genau das verspricht. Eine differenzierte Weltsicht ist ihm dabei längst abhanden gekommen. Weltanschauungen sind Meinungen gewichen und die schwirren in Twitterformat um den Globus, die allgemeine Verblödung und Verwirrung voran treibend.

Michael Thalheimers „Richard III“ muss man aushalten können. Die Wucht der moralischen und geistigen Finsternis ist unerträglich, und obgleich dem Stück ein grandioses ästhetisches Konzept innewohnt, gibt es trotz angedeuteter „Morgenröte“ aus dieser Depression kein Entkommen. Wer diese zweieinhalb Stunden argumentativer Panzerschlacht nicht erträgt und aussteigt, dem wird die Zeit verdammt lang. Der Satz, die Hoffnung stirbt zuletzt, kommt einem wie eine Plattitüde vor, denn einmal mehr müssen wir uns eingestehen, dass dem Menschen die einfachsten Einsichten zu seinem eigenen und zu unser aller Besten offensichtlich nicht gegeben sind, noch gegeben sein werden. Hoffnung ist offenbar nur eine Illusion. Auf das der rote Saft lustig weiterfließe! Sicher scheint momentan nur der Satz zu sein: „Die ganze Welt ist schwindelig.“

Wolf Banitzki

 


Richard III

von William Shakespeare
Deutsch von Thomas Brasch

Norman Hacker, Philip Dechamps, Götz Schulte, Hanna Scheibe, Max Koch, René Dumont, Sibylle Canonica, Charlotte Schwab, Anna Drexler, Thomas Schmauser, Michele Cuciuffo, Marcel Heuperman, Philip Dechamps, Max Koch, Michele Cuciuffo, Philip Dechamps

Regie: Michael Thalheimer

Residenztheater Gloria von Branden Jacobs-Jenkins


 

Der Amoklauf und das Gestammel danach

Der Zuschauer lernte Gloria nicht kennen. Auf der Bühne des Münchner Residenztheaters blieb sie, eine verschlossen und autistisch durch die Szenen wandelnde Lilith Häßle, unfassbar. Scheinbar ebenso unfassbar blieb ihre Tat, wenn sie in der Mitte der 105 Minuten langen Aufführung mit einer Waffe erschien und in den Redaktionsräumen eines New Yorker Magazins ein Massaker anrichtete. Erst in der Reflexion der überlebenden Kollegen erhielt sie Konturen. Sie war zwar eine Einzelgängerin, aber belesen und freundlich. Eigentlich ganz normal. Wenn man sie ansprach, war sie hilfsbereit und mitteilsam. Sie war auch teilsam, teilte gern ihre sorgfältig angerichteten und gut riechenden Mahlzeiten aus der Tupperware-Box. Eine Killerin? Nein, eine Killerin war sie nicht, bekannte Lorin, den Bijan Zamani facettenreich als gestressten Faktenchecker gab, der am Ende des Stückes wieder einmal am Anfang einer Karriere stand. Er hatte überlebt, weil ihn seine Beine schnell genug vom Tatort weggetragen hatten. Im Gegensatz zu Dean, der, wie alle anderen, die Redaktion als existenzielle Falle empfand. Er hatte das zweifelhafte Vergnügen, in den Lauf der Waffe Glorias zu schauen. Sie begnadigte ihn, war er doch der einzige, der am Vorabend zu ihrer Einweihungsparty erschienen war. Mehr oder weniger ein Missverständnis, denn alle anderen hatten die Einladung als Witz aufgefasst. Gunther Eckes´ Dean war die menschlichste Erscheinung in dem Panoptikum von Karrieristen und Losern. Er fühlte sich zum Romancier berufen und darum erschien sein Vorhaben, die Geschichte Glorias zwischen zwei Buchdeckel zu bringen, durchaus naheliegend.

Doch beinahe jeder, der in irgendeiner Weise von dem Amoklauf betroffen war, fühlte sich bemüßigt, die Geschichte für sich zu vermarkten. Kendra, eine Kollegin, die der Arbeit lieber aus dem Weg und stattdessen shoppen ging, befand sich zur Tatzeit bei Starbucks, um sich Kaffee zu holen. Egal, ob sie etwas mitbekommen hatte oder nicht, allein die Tatsache, dass, wäre sie anwesend gewesen, ihr Leben in Gefahr gewesen wäre, reichte, um die eigenen Befindlichkeiten zu Papier zu bringen. Cynthia Micas agierte raumgreifend arrogant und perfide. Anders Lilith Häßle in der Rolle der Nan, eine bemerkenswerte darstellerische Verwandlung der Gloriadarstellerin. Sie hatte den Amoklauf unter ihrem Schreibtisch, übrigens hinter schusssicheren Scheiben und verschlossener Tür, verbracht. Ihr war in dem Augenblick des Tötens ihre Schwangerschaft bewusst geworden. Also ein „geiler Plot“, der ebenfalls erzählt werden wollte. Und da ein gutes Buch immer auch auf der Leinwand endet, vermutlich wegen der großen Zahl an (immerhin zahlungskräftigen) Nichtlesern oder Analphabeten, trafen sich Nan und ihr früherer Kollege Lorin, der ein Praktikum bei einer Filmfirma angenommen hatte, in Hollywood wieder. Gloria, a never ending story.
Der Plot der Geschichte von Branden Jacobs-Jenkins (Jahrgang 1984), die 2016 für den Pulitzer-Preis nominiert war, ist Retortenware, erinnert an eine Abschlussarbeit des Studiums für „Szenisches Schreiben“. Die Geschichte ist professionell verfasst, zu professionell, um zwingend in den Bann zu schlagen. Das ist nur bedingt eine negative Kritik. Für den Text spricht die Tatsache, dass der Autor durchaus über Erfahrungen aus dem Metier verfügt und vermutlich einigen Realismus in der geschickt gestrickten Dramaturgie unterbringen konnte. Das wirkliche Manko allerdings ist die Sprache. Eine künstlerische und darum zwingende Sprache gelang ihm nicht. Auch wenn es sich um eine Herde Medienmitarbeiter handelte, blöken die kaum in ein und derselben Sprache. Und wenn doch, sei an dieser Stelle eine Entschuldigung und ein Kotau vor so viel Genialität angebracht. Dennoch, eine gute Bühnesprache war es nicht, vielmehr die einer Comedyserie, alltäglich, rotzig, aufgeladen mit Vulgarismen und immer auf einen Lacher aus.

Leider folgte Regisseurin Amélie Niermeyer, zuletzt begeisterte sie ihr Publikum im Residenztheater mit „Rückkehr in die Wüste“ von Bernard-Marie Koltès, dieser textuellen Vorgabe und inszenierte gleichsam im Stil einer Comedyserie. Lobenswert an „Rückkehr in die Wüste“ waren die Leichtigkeit und auch die erstaunliche Komik, die Amélie Niermeyer freisetzte. Diese coole Lockerheit und auch die Komik waren angesichts dieses Themas in „Gloria“ allerdings unangemessen, denn das Publikum steckt momentan zu sehr in dieser Problematik, um zu einer wirklichen Orientierung zu gelangen. Endlos-Talk-Shows auf allen Kanälen beweisen das hinlänglich. Jeder Amoklauf ist noch immer eine Tragödie, die schwerlich mit komödischen Mitteln zu erklären ist. In dem Film „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ ließ Woody Allen Alan Alda, er spielte die Rolle eines erfolgreichen Produzenten von TV-Seifenopern und Comedy-Shows, folgenden Satz sagen: „Eine Komödie ist eine Tragödie plus Zeit.“ Hier wäre doch mehr Woody Allen und weniger Mario Barth angebracht gewesen.

  Gloria  
 

Gunther Eckes, Christian Erdt, Lilith Häßle

© Adrienne Meister

 

Diese Inszenierung diente der Wahrheitsfindung nicht. Abgesehen von der schlechten Verständlichkeit des gesprochenen Wortes über weite Strecken, gaben weder der Text noch die Inszenierung wirklich Aufschluss über den Konflikt, noch über Wege aus diesem inzwischen alltäglichen Konflikt mit Todesfolge. Hierzu bedürfte es eines Diskurses auf wesentlich höherem Level. Theater kann so etwas durchaus leisten! So blieb es im Stück wie auch in der Inszenierung bei Befindlichkeiten und dem naturgemäßen Gestammel darüber. Um uns diesem Problem überhaupt nähern zu können, bedarf es einer radikalen Hinterfragung der heutigen Gesellschaft, in der eine vermeintliche Freiheit sinnlos ausgebeutet wird, um individuellen Narzissmus zu produzieren, dessen Sinnentleerung in der Ultima Ratio enden muss, denn Narzissmus kommt ohne Anerkennung von außen nicht aus.

Und in einer Welt, in der News von der Unterhaltungsindustrie derart vereinnahmt wurden, da sie ob ihrer radikalen Bilder den inzwischen höchsten Marktwert haben, ist die Ultima Ratio für das deformierte Bewusstsein der letzte Lösungsweg, um einen unlösbaren Konflikt (zumindest für den Protagonisten) aus der Welt zu schaffen.

Was geschieht, ist gesetzmäßig. Also Schluss mit der ganzen Heulerei und dem heuchlerischen „Warum?“. Jeder Theatermacher weiß, dass, wenn eine Waffe auf der Bühne erscheint, sie auch zur Anwendung kommt. Im Leben ist das nicht anders? Ist die Welt zu dumm, dies zu begreifen, oder hat das was mit ganz banalen pekuniären Interessen zu tun? Kaum ein Begriff wird heutigen tags so häufig bemüht wie das Wort Freiheit. Freiheit gibt es nicht. Freiheit ist ein Abstraktum, ist ein unerreichbares Ideal, das anzustreben sich immerhin lohnt. Die Wege zur Freiheit sind in der heutigen Gesellschaft zum übergroßen Teil Irrwege, schon, weil diese Gesellschaft glauben machen will, dass Freiheit von Besitz abhängig ist. Eines ist so sicher wie das Amen in der Kirche: Das Streben nach Besitz erzeugt unendlich viel Unfreiheit. Auch Besitz ist eine Illusion, der wir uns lediglich für die Dauer unserer Existenz hingeben können. Und schlimmer noch, diese Gesellschaft setzt Besitz und Erfolg in hohem Maße gleich.

Tatsache ist, dass die Ideale, von der diese Gesellschaft angeblich durchdrungen ist, pervertiert sind. Obgleich wir heute an vielen Orten dieser Welt dank der technischen Möglichkeiten auf das gesamte Weltwissen zugreifen können, waren die Verwirrung und die Unwissenheit darüber, wie wir unsere täglichen Probleme, die wir zudem nicht einmal ansatzweise durchschauen, lösen können. Es mag die Vernunft in dieser Welt noch geben, am Ruder ist sie momentan nicht. Und so driften wir heulend und zähneklappernd durch die Zeit, hoffend, dass sich nichts ändern möge, soweit es uns nur gut geht.

Wolf Banitzki

 


Gloria

von Branden Jacobs-Jenkins
Deutsch von Christine Richter-Nilsson + Bo Magnus Nilsson

Gunther Eckes, Cynthia Micas, Marina Blanke, Anne Kulbatzki, Lilith Häßle, Christian Erdt, Bijan Zamani

Regie: Amélie Niermeyer

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