Marstall Flegeljahre nach Jean Paul
Gepflegeltes Theater
„Johann Paul Friedrich Richter, Jean Paul genannt, auf der Bühne, das ist kein Zuckerschlecken!“ Das ist wohl wahr. Und trotzdem ging das Münchner Residenztheater dieses Wagnis ein. Aus gutem Grund, wie sich versteht, denn am 21. März feierte Deutschland, nun ja, vielleicht nicht ganz Deutschland, den 250. Geburtstag des zwischen Aufklärung und Romantik angesiedelten, visionären und genialen Schriftstellers. Als sensibler Sohn eines orthodoxen Lutheraners waren zahlreiche Neurosen vorprogrammiert, die sich später in erstaunliche Skurrilitäten wandelten. (Die literarischen Ergebnisse waren wohl eine der unbeabsichtigten Glanzleistung des Protestantismus!) Sammlung von Wissen, vornehmlich aus schwer erreichbaren Büchern, gehörte zu diesen Macken. Armut war darüber hinaus einer der großen Lehrmeister des Knaben, sie durchzieht sein Werk wie ein steter Nebel. Obgleich er, der Not gehorchend, Theologie studierte, war ihm mit 18 Jahren sonnenklar, dass er Schriftsteller werden würde. Eine totale und lang anhaltende Erfolglosigkeit und bitterste Not konnten ihn davon nicht abbringen. Das war wahres Heldentum.
Selbstredend tappte Richter in alle nur erdenklichen Fallen, scheiterte schon als Gymnasiast mit einem empfindsamen Briefroman im Stile des „Werthers“. Seine Satiren, in aufklärerischer Absicht wider die gesellschaftlichen Verhältnisse verfasst, waren aufgrund schwerverständlicher Bilder und „prunkendem Stil“ weitestgehend unverständlich. Zehn Jahre dauerte das Martyrium der totalen Erfolglosigkeit. Dann hatte Richter eine „Todesvision“ und die Schleusen seiner erzählenden Prosa öffneten sich: „Als ich nun endlich im achtundzwanzigsten Jahre öffnen und lüften durfte: da ergoß es sich leicht und mild und wie eine warme überschwellende Wolke unter der Sonne – ich brauchte nur zuzulassen und dem Fließen zuzusehen – und kein Gedanke kam nackt, sondern jeder brachte sein Wort mit und stand in seinem Wuchse da ohne die Schere der Kunst.“ (Unsichtbare Loge) Wichtigstes Merkmal der Richterschen Erzählkunst ist die offene Form. Seine Geschichten mäandern über tausende von Seiten und die Fülle an Inhalten, auch skurrilster Art, ist bisweilen schockierend. (Der Wissenssammler lässt in jeder Zeile grüßen.) Immerhin, mit dem (literarischen) Fluss kam der Erfolg.
Und wie es floss. Jetzt schwappte es auch noch auf die Bühne und das war, wie bereits zitiert, kein Zuckerschlecken. Das Dilemma für die Autoren Robert Gerloff und Monika Maurer war vorprogrammiert, wollten sie Jean Paul gerecht werden (Ein Ding der Unmöglichkeit!), eine adäquate Spielfassung des dreibändigen und deutlich mehr als 500 Seiten langen Romanfragments für die Bühne des Marstalls zu erarbeiteten. Man kann sich vorab darauf einigen, dass das Fragment fragmentarisch blieb. Und das machte Sinn.
Erzählt wurde die Geschichte des Dorfnotars Walt, der zum Erben des reichen Van der Kabels avancierte und der etliche Prüfungen bestehen musste, von denen er zum Teil gar keine Kenntnis hatte, weil sie in Geheimklauseln niedergelegt waren. Walt hatte den Auftrag, sich in neun Berufen zu bewähren. Auf dem Weg durch die Labyrinthe der Klauseln traf er seinen Zwillingsbruder Vult wieder, der wegen seiner Entscheidung, als Flötenspieler sein Leben zu bestreiten, vom Vater des Hauses verwiesen worden war. Walt erkannte durch das Zutun des Bruders seine eigene künstlerische Berufung und es kam, wie es kommen muss: Walt geriet auf Abwege. Bei allem ausufernden Handlungsreichtum geht es im Roman um zwei Pole, die jeweils von den Brüdern personifiziert wurden: Der gefühlvoll-sentimentale Walt steht dem satirisch-verstandesklaren Vult gegenüber. Ihr gemeinsames Treiben ist fruchtbringend, auch wenn die Früchte nicht selten sauer sind. Die Widersetzlichkeiten dieser Weltsichten können letztlich nicht überwunden werden. Am Ende geht Walt weitestgehend leer aus und die Wege der Brüder werden sich wieder trennen.
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Andrea Wenzl, Franz Pätzold, Miguel Abrantes Ostrowski
© Sarah Rubensdörffer
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Für das Spiel schuf Maximilian Lindner eine Bühne, die an ein Wirtshaus des frühen 19. Jahrhunderts erinnerte mit Schild über der Tür, resp. Biergarten, und einer Durchreiche, die den hinteren Raum zu einem weiteren Guckkasten machte. Auf einer großen Leinwand wurden Videoanimationen eingespielt, Szenenbeschreibungen in stenografischer Kürze gereicht oder Schattenspiele veranstaltet. Der Biergarten war bevölkert vom Ensemble des Residenztheaters, die so als Zuschauer nicht selten in das Spiel einbezogen wurde. Die Zuschauer auf dem Rang wurden ebenso mit Bier und Würstchen empfangen und bewirtet wie die Schauspielerkollegen. Cornelius Borgolte begleitete und kommentierte das Richtersche Chaos mit dem Ausdruck tiefer Gelassenheit oder vielleicht auch vollständiger Resignation am Flügel. Die Kostüme von Johanna Hlawica verwiesen auf die Zeit des Biedermeiers, ohne wirklich historisch verbindlich sein zu wollen. So traten Götz Schulte auch schon mal in kurzen Hosen, mit Nahtstrümpfen und Reitstiefeln, oder Arthur Klemt im Feinripphöschen und einer Körperbemalung als Tiger auf.
Regisseur und Mitautor Robert Gerloff entschied sich für die Komik, die den Texten, den Witzen, die durch Richtersche Fußnoten in seinen Büchern nicht erklärt, sondern zunehmend unverständlicher wurden, und den ausgiebig charakterisierten Figuren innewohnte. Heraus kam ein erfrischend anarchisches bis verwirrend infernalisches Theater. Größte Hürde blieb die Richtersche Sprache, die vor Goethe, also vor dem Neuhochdeutschen angesiedelt ist. Wettgemacht wurde dieses Manko durch unterhaltsames, z.T. atemberaubendes Spiel der jugendlichen Darsteller Franz Pätzold (Walt), Miguel Abrantes Ostrowski (Vult) und Andrea Wenzl (Wina). Letztere war allerdings über weite Strecken akustisch schwer zu verstehen. Ein Tick langsamer hätte für das Verständnis deutlich mehr gebracht. Um Präzision rangen die Darsteller nicht unbedingt. Es hätte auch keinen Sinn gemacht. Atemlos jagten sie durch die Szenen und ein wunderbarer Regieeinfall jagte den nächsten. Gerloff gelang eine Inszenierung, die ebenso reichhaltig an Skurrilitäten war wie die literarische Vorlage. Dabei wurde gekalauert, extemporiert, offen souffliert und privat kommentiert. Unterm Strich: Es mangelte gänzlich an Ernsthaftigkeit. Das Ergebnis war herrlich Tränen treibend. Da war man gern bereit, die politischen Hintergründe der Richterschen Dichtung auch schon mal im Hintergrund zu belassen. Übersehen konnte man sie ohnehin nicht.
Die Genialität des Autors, der sich aus kleinbürgerlichsten Verhältnissen und bitterer Armut herausgeschrieben hatte, der ein wahres Universum an Geschichten und Figuren erschuf und dabei eine Komik entwickelte, die es noch zu erlernen gilt, schien allemal durch. Immerhin prophezeite Ludwig Börne auf einer Trauerfeier am 2.12.1825: „Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme.“ Das gilt wohl auch noch für das 21. Jahrhundert. Eine bessere Hommage ließ sich kaum denken.
Wolf Banitzki
Flegeljahre
nach Jean Paul
Bühnenfassung von Robert Gerloff und Monika Maurer
Franz Pätzold, Miguel Abrantes Ostrowski, Andrea Wenzl, Götz Schulte, Arthur Klemt
Musik: Cornelius Borgolte
Regie: Robert Gerloff
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Marstall Call me God von Gian Maria Cervo, Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier, Rafael Spregelburd
Knallbunt wie ein Schrebergarten
Das Stück "Call me god" von den Autoren Gian Maria Cervo, Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier und Rafael Spregelburd war eine Auftragsarbeit für das Münchner Residenztheater. Die Vorlage für das blutrünstige literarische Theaterereignis waren die Morde der so genannten „Beltway Sniper“ im Großraum Washington D.C. und auf der Interstate 95 in Virginia im Jahr 2002. Der Entstehung der Texte war planlos und scheinbar unkoordiniert. Während drei der Autoren sich dem Geschehen, den Tatsachen direkt zuwandten, „umschrieb“ Rafael Spregelburd die Ereignisse, um den mythischen Aspekt der Persönlichkeit von John Allen Muhammad zu ergründen. Muhammad hatte ursprünglich vor, so die unerwiesenen Spekulationen der Behörden, seine Frau, die ihm seine Kinder genommen hatte, zu töten. Als Tarnung sollte dieser Mord in einer „Wolke“ von Morden untergehen. Doch plötzlich sah sich der Täter einer ungeahnten Popularität durch die mediale Berichterstattung ausgesetzt und seine Botschaft, der Erkennungscode für die Polizei "Call me god", bekam eine ungeahnte und für ihn manipulative Dimension. Regisseur Marius von Mayenburg verwob die Texte nun zu einer durchlaufenden Handlung, beginnend und endend mit der Hinrichtung Muhammads.
Aus den angekündigten zwei Stunden wurden am Uraufführungsabend eine Stunde und fünfundvierzig Minuten äußerlich lebendiges und sehenswertes Theater. Wann immer ein Schuss krachte, hieß es: „Wir haben ein Problem!“, und in den nachfolgenden Szenen wurde über Ermittlungsarbeit gesprochen, kamen Augenzeugen, Ermittler und Medienvertreter zu Wort. Bald schon war klar, dass es sich bei jedem Mord um eine mediale Fortsetzungsfolge handelte, die zwar keine oder nur sehr wenige neue Einsichten brachten, dafür aber neue, vor Betroffenheit strahlende Gesichter, allesamt von vier Darstellern einfallsreich und illuster präsentiert. Bald schon zeichnete sich ein Running Gag ab, der sehr gut funktionierte. Nach jedem Mord gab es eine Person, die dem Opfer nahe stand, oder während der Tat auch nur in seiner Nähe stand, die sofort ein Buch geschrieben hatte, auf dessen Cover der oder die Autorin zu sehen war, und welches es am Ausgang in handsignierter Form für den Betrag von (...) Dollar an einem eigens dafür eingerichteten Büchertisch zu kaufen gab. Schön, dass jemand diesen Schwachsinn der marodierenden Mitbürger mal auf den Punkt brachte. Unterm Strich erlebte das Premierenpublikum einen Querschnitt aus CIS, SIC, SWAT, Task Bumsding, Monk, und wie die nach muskulösen, hocherotischen oder einfach nur neurotischen, in jedem Fall aber immer genialen Ermittler, Profilern, Psychokomikern oder sonstiger kriminalistischer Knallchargen benannter US-Serien, die allabendlich über die deutschen Mattscheiben flimmern, heißen. Die ungeheuerliche und zum Teil unerträgliche Aufgeblasenheit der Protagonisten gaukelt darin eine Professionalität vor, die dem Bürger verheißt: Amerika ist sicher, Amerika wird nicht den Ziegenhirten, Russen oder (An Feindbildern mangelt es wahrlich nicht!) ... in die Hände fallen. Tatsache ist, dass die Vereinigten Staaten ein Schlachthaus sind und der höchste Ausdruck ihrer Freiheitlichkeit sind (durch das System aus Machismo, Waffenfetischismus, Bildungsarmut und politischer Hybris geschaffene) geistesgestörte Serienkiller.
Das alles brachte Mayenburg auf die Bühne. Immerhin standen die Darsteller den Serienhelden in Ausstrahlung und Körpereinsatz um nichts nach. Lucas Turturs akrobatische Actionnummer in einer Szene, wo er von einem unsichtbaren Polizisten verprügelt und durch den Raum geschleudert wurde, war hollywoodreif. Katrin Rövers Striptanz ließ Demi Moore verblassen. Thomas Gräßle spielte Täter und Jäger unvergleichlich und unverwechselbar, wobei man ja eigentlich nicht sicher sein konnte ob sie nicht aus demselben Holz geschnitzt waren. Genija Rykovas Darstellung einer gestressten Mutter vor dem Supermarkt, die gerade am Telefon mit anhören musste, wie ihr Sohn Selbstmord beging, hätte fast einen eigenständigen Theaterabend (des Absurden) tragen können. Die Bühne von Nina Wetzel war ästhetisch ansprechend, funktional und deutlich sichtbar in Hinrichtungs- und Verhörraum, Tatort, Golfplatz, Rundfunkstudio und Klinik-OP, in dem das Blut Triumphe feierte, untergliedert. Alles war perfekt multimedial unterlegt und überzeichnet, war atemlos, war randvoll mit Fakten, Ereignissen und Horrormeldungen, theatralischen Kabinettstückchen und dennoch trug das Stück nicht über den ganzen Abend. Da sich viele Vorgänge ähnelten, Statements, Erläuterungen immer wieder der Lächerlichkeit preisgegeben wurden, hatten sich einige Einfälle bald totgelaufen.
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Katrin Röver, Lukas Turtur, Genija Rykova, Thomas Gräßle
© Jans Jörg Michel
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Was Regisseur Mayenburg dem Publikum präsentierte, war die comedyhafte, wenig erhellende und erodierend wirkende Sicht auf Serienmorde. Er, respektive die mit sich selbst diskutierenden und niemals zu Ergebnissen gelangenden Texte, spiegelten Realität und unterließen das Entscheidende: Die Frage nach dem Warum? Diese Halbherzigkeit mag Resultat der Struktur und der Arbeitsweise des Projektes sein (Bei Lanz, das neue omnipotente und –präsente Medium, darf auch nichts anderes herauskommen als Meinungsvielfalt!), doch entschuldigt das nicht das Ergebnis. Und das war unbefriedigend. Samuel Beckett meinte, man muss bis zum Äußersten gehen, dann stellt sich Lachen ein. Damit meinte er nicht, dass man die größtmögliche Zahl an Opfern wählen sollte, und die Umstände der Tötungen und der kriminalistischen Aufklärungsversuche zur Projektionsfläche komödiantischer Brechungen oder Verballhornungen zu machen, um Lachen zu erzeugen. Entstehung und Erzeugung sind zwei unterschiedliche Dinge und wenn man die, aus welchen Gründen auch immer, verwechselt, kann es passieren, dass man (hoffentlich unwissentlich) die unschuldigen Opfer verhöhnt.
Hinter dem Projekt stand durchaus ein ernsthaftes Anliegen. Es sollte aufgezeigt werden, dass das Böse durch exzessiv aufgeputschte mediale Begleitung angefeuert wie ein Schiffsmotor, nun erst richtig Fahrt aufnimmt und in seiner Dynamik nur noch durch die Katastrophe zu stoppen ist. Und eine Katastrophe ist eine Tötung immer, selbst wenn das Opfer Bin Laden heißt. Man mag diese Pazifismus entschuldigen oder nicht. Doch Gewalt ist durch Gewalt, und Hinrichtungen sind auch Gewalt, nicht aus der Welt zu schaffen, sondern sie ist lediglich die Fortsetzung der Gewalt. Amerikas Justiz folgt noch immer den Gesetzen des Alten Testaments und versteht sich dabei als die höchste kulturelle Stufe. Wie blind muss man eigentlich sein? Serienmorde sind kein Paradoxa oder Mystifikationen, sie sind Produkt der gesellschaftlichen Zustände. Wenn man sich in der theatralen Fragestellung bis zu diesen Höhen nicht aufzuschwingen vermag, bleibt man im Schrebergarten des Lebens hängen und da tröstet es nicht, wenn er betörend bunt ist.
Wolf Banitzki
Call me God
von Gian Maria Cervo, Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier, Rafael Spregelburd
Koproduktion mit dem Teatro di Roma (Teatro Argentina), Romaeuropa Festival und Festival "Quartieri dell’Arte"/Viterbo
Katrin Röver, Genija Rykova, Thomas Gräßle, Lukas Turtur
Regie: Marius von Mayenburg
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