Kammerspiele Gasoline Bill von René Pollesch


Polleschs Anarchotheater

Die „ganz großen Themen" sind passé! … Wirklich? Nun ja, beschäftigen wir uns halt mit den kleinen Themen. Davon gibt es ohnehin mehr, so viele, dass wir wirklich frei wählen können. Auch auf die Gefahr hin, dass wir uns im Diskurs gar nicht mehr treffen. Und wenn dann noch der Name Max Weber fällt, befreit uns das erst einmal grundsätzlich von konkreten Ideen. Max Weber verstand nämlich die Geschichte als einen „ungeheuren chaotischen Strom von Ereignissen“. Die Wirklichkeit ist für ihn lediglich ein komplexes Gemenge vieler Ereignisse ohne objektiven Zusammenhang und somit als Ganzes auch nicht erklärbar. Nicht, dass René Pollesch sich auf die Seite des südwestdeutschen Neukantianisten schlägt, er macht eben dieses Chaos, als welches Weber die Welt sieht, zur dramaturgischen Folie für seine Exkurse.

Keine Bange, so arg wird es nicht. Schließlich hat René Pollesch noch andere Standbeine. Eines davon ist die wunderbare Welt der Schwerkraft und anderer Gesetze von Monty Python. Und so finden sich in „Gasoline Bill“ (Ist es ein Eigenname oder doch nur eine Benzinrechnung?) auch schon mal ganze Sketche der britischen Blödelphilosophen, die der Welt mehr bedeutende Einsichten schenkten als, nun, sagen wir mal, Heidegger. Oder war es Adorno, den man mit Monty Python verwechselte. Vielleicht weiß das auch Mr. Brainsample. … Wer war noch gleich Mr…? Jedenfalls ist das alles nicht zu vergleichen mit „Gravity“. Zum besseren Verständnis, das ist der Film „Sandra Bullock allein im All“. Als ihr bewusst wird, dass sie sterben muss, klopft der Geist von George Clooney ans Raumschifffenster. Er ist sowas wie ein Busfahrer im Orbit und er erklärt ihr, dass sie jetzt alles abschalten, die Augen schließen, sich zurücklehnen und alles ausblenden kann, denn sie ist ja allein(!). Klar, das können wir nicht, denn wir sind nicht allein; wir haben ein Sozialleben. Und dann gibt Clooney ihr noch den Tipp, dass die Bremsvorrichtung an einem Raumschiff auch nur ein Antrieb ist. Was würden wir nur ohne den Optimismus der Amerikaner machen, z.B. den der „lässigen coolen Kapitalistenschweine“ wie Zuckerberg, Gates oder Jobs. (Slavoj Žižek: Die bösen Geister des himmlischen Bereichs)

Es gab durchaus ernsthafte Aussagen, die man mit nach Hause nehmen konnte. Da wäre die Tatsache, dass alle Empfindungen Schwindel sind und dass die Aufgabe der Psychiater darin besteht uns zu „entleeren“. Das ist notwendig, denn die Überfülle an Empfindungen führt nur zu wildem Aktionismus und wir vergessen darüber, wo wir unseren Füllfederhalter verlegt haben. Wir wären rettungslos verloren, gäbe es da nicht das Theater und die Schauspieler, denn die nehmen uns die emotionale Last ab und wir können uns wieder daran erinnern, wo wir den Federhalter verloren haben. (Jaques Lacan: Entlastung I – Delegiertes Zittern) Oder hatten wir gar keinen Füllfederhalter? So, wie wir uns entlasten, indem wir das Zittern delegieren, können wir auch stellvertretend für uns genießen lassen! (Robert Pfaller: Entlastung II - Delegiertes Genießen) Genug davon.

Eine Frage sollte unbedingt noch gestellt werden: Wo finden wir endlich Erlösung? Im Protestantismus nicht. Der ist zwar die Legitimation des Kapitalismus, (Diese Rolle Luthers nimmt man selten wahr!), der Protestantismus widerspricht aber der These, dass unsere Taten einen Einfluss auf Erlösung hätten. (Max Weber) Wir finden keine Erlösung und genau das hat „eine unendliche Betriebsamkeit ausgelöst, (…), die den Blick auf das, was wir tatsächlich tun, vor uns verbirgt.“ (Gasoline Bill) Jedenfalls gesteht sich René Pollesch in einem Interview, abgedruckt im Programmheft, ein, dass er keine Position einnehmen kann, von der aus sich Kritik formulieren lässt. Übrig bleibt Anarchotheater. Fragt sich, wie sehenswert und unterhaltsam es ist, wenn es uns denn in unserer Sehnsucht nach Antworten nicht weiterhilft. Die Frage kann beantwortet werden: Es war eine Mordsgaudi.

Auf der von Bert Neumann gestalten Bühne, sie war gänzlich umrahmt von einem buntschillernden Lamettavorhang (ausschließlich hergestellt aus Audiokassetten der Beasty Boys), befand sich der verbliebene Rest eines Doppelhauses, das irgendwer irgendwem einmal geschenkt hatte und von dem nun eine Hälfte fehlte. Vermutlich hatte es der Wind fortgetragen. Dieses Haus, oder besser das Fragment eines Hauses, konnte gedreht und somit zu einer Gebetsmühle verwandelt werden, die, hatte man erst mal das Manuskript des Souffleurs (Joachim Wörmsdorf) hineingeworfen, den Part der Schauspieler übernahm. Dazu bedurfte es allerdings eines Dorns, der die Hütte durch den Bühnenboden hindurch fixierte, damit es nicht schlackerte, was Benny Claessens peinlich genau erklärte und was dem Publikum auch vorgeführt wurde. Das mit der Gebetsmühle funktionierte allerdings nicht und so wurden die Schauspieler nicht „entlastet“. Gedreht wurde viel und das sah nach harter Arbeit aus.


Man konnte das großartige Spiel von Katja Bürkle, Benny Claessens, Sandra Hüller und Kristof Van Boven durchaus auch als sportliche Herausforderung nehmen. René Pollesch trieb sie mit affenartiger Geschwindigkeit durch den Text und ebenso über die Bühne, Slapsticks inbegriffen. Ähnlich wie bei Castorf (Siehe Kritik zu „Reise ans Ende der Nacht), an dessen Berliner Volksbühne Pollesch seit 2001 kontinuierlich arbeitet, verwischt diese gehetzte Spielweise allerdings die darstellerischen Eigenarten der Schauspieler. Dennoch waren sie durchweg grandios und auch einprägsam in ihrem Spiel.  


Kostümbildnerin Nina von Mechow hatte die Darsteller so ausgestattet, als kämen sie direkt von einem texanischen Folkfestival mit Rodeo. Kontinuität in der Erzählung suchte man vergeblich, denn es gab keine wirkliche Geschichte. Umso mehr Brüche gab es und die wurden z.T. grandios verarbeitet. Auch wenn man nicht selten ratlos davor saß, weil die intellektuell anspruchsvollen Sätze, die nicht selten nach wissenschaftlicher Diktion klangen, so schnell vorgetragen wurden, dass die Gedanken schwirrten wie ein Schwarm Insekten, blieb viel Anregendes hängen. Zum Beispiel, dass wir in einem Mitmenschlichkeitszirkus gefangen sind. Und, Obacht, wir sind alle umgeben von „toxischen Subjekten“! Was das ist? Finden Sie es selbst heraus. Vielleicht sind Sie ja auch eins.


Im Gegensatz zu früheren Inszenierungen von René Pollesch war „Gasoline Bill“ um ein Vielfaches unterhaltsamer. Dass immerhin entschädigte für das Manko an Taten stiftenden Sinn. Der These, dass die „ganz großen Themen" passé sind, sollte nicht unwidersprochen hingenommen werden. Vielleicht verstecken sich diese Themen in der vom Kapitalismus entfesselten „unendlichen Betriebsamkeit“ ja einfach nur.

Wolf Banitzki

 


Gasoline Bill

von René Pollesch

Katja Bürkle, Benny Claessens, Sandra Hüller, Kristof Van Boven

Regie: René Pollesch

Kammerspiele Ilona. Rosetta. Sue. von Aki Kaurismäki, Luc & J.-P. Dardenne, Amos Kollek


 

 

Lakonie und Tristesse

Drei Filmgeschichten von Frauen hat Sebastian Nübling in seinem dramatischen Konstrukt miteinander verwoben: „Wolken ziehen vorüber“ von Aki Kaurismäki, „Rosetta“ von den Brüdern Dardenne und „Sue“ von Amos Kollek.
Der Name Aki Kaurismäki steht für eine Ästhetik des radikalen Verzichts. Lakonie ist das Wort, mit dem sich seine Arbeit am besten umreißen lässt. Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern hat Kaurismäki ein Vorleben, das in eben jenen Gefilden angesiedelt war, in denen seine cineastischen Helden agieren. Diese Helden sind Philosophen wider Willen. Sie sind keine Besserwisser und keine Etablierten. Sie sind nur selten im sozialen Kontext integriert. Zumeist sind es Menschen, denen das Leben nichts schenkt und die allesamt mehr oder weniger um das Überleben kämpfen. Trotz der Kargheit des Ausdrucks, trotz der permanenten Abwesenheit dessen, was wir als Schönheit bezeichnen, um eine Minimum von Behaglichkeit zu erlangen, sind die Charaktere von berührender Menschlichkeit. Kaurismäkis Ilona hat viele Jahre im Restaurant „Dubrovnik“ als Oberkellner gearbeitet. Als die Besitzerin Konkurs anmeldet, beginnt nicht nur der soziale Abstieg Ilonas, sondern auch der ihres Mannes Lauri. Lauri ergibt sich langsam aber sicher dem Suff. Melartin, der ehemalige Portier des „Dubrovnik“ inspiriert Ilona, ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Sie will eigentlich nur arbeiten, doch das reicht heutigentags nicht mehr. Das Scheitern ist vorprogrammiert.

Der Film „Rosetta“ von den Brüdern Luc und Jean Pierre Dardenne erinnert in seiner Machart an Dogma-Filme von Vinterberg und Trier. Erzählt wird die Geschichte des Mädchens Rosetta, die verzweifelt nach Arbeit sucht, von den Arbeitgebern allerdings schamlos ausgenutzt und nach Ablauf der Probezeit immer wieder auf die Straße gesetzt wird. Schließlich denunziert Rosetta den einzigen Freund, den sie hat, um an dessen Job zu gelangen. Sie lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter, die sich für eine Flasche Schnaps bei Jedermann prostituiert, in einem Trailerpark. Rosetta entwickelt aberwitzige Überlebensstrategien und wandelt dabei unentwegt an den Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit. Im Film klebt die Kamera geradezu an der Darstellerin und so durchlebt der Zuschauer die Hatz der jungen Frau nach jeden Pfennig, nach jeden Happen Essen hautnah mit. Die Bilder sind derart intim, dass das Leid der Rosetta vom Betrachter nahezu physisch durchlitten wird.

Amos Kolleks Film „Sue“ erzählt die Geschichte einer Frau in New York, die bereits seit einiger Zeit arbeitslos und inzwischen mit ihrer Miete soweit im Rückstand ist, dass ihr die Räumung droht. Sie ist depressiv und durchhastet schlaflos die Stadt New York nach einer menschlichen Begegnung. Im einem Gespräch entschlüpft ihr der Satz: „Ich kommuniziere mit Sex.“ Dem gibt sie sich mit einer Vielzahl von Männern hin. Schließlich begegnet ihr Ben, ein Reisejournalist, der sie aufrichtig zu lieben beginnt. Und da ist noch Linda, eine Aspirantin auf den Doktor der Psychologie, die ihr bereitwillig Hilfe anbietet. Doch Sue ist längst soweit aus der Welt gefallen, dass sie alle Angebote ausschlägt. Ihr Weg endet ganz lakonisch an einem kalten Tag in einem Park.

Ene-Liis Sempers Bühnenbild bestand aus einer langen Reihe von Werkbänken, die den schwarzen Bühnenraum diagonal durchzog. Sie stellten alle Topoi vor, die benötigt wurden. Darüber ein Laufband für die Obertitel, denn es wurden in mindestens vier Sprachen gespielt. Dass Themen wie Vereinsamung, seelische Deformation, darwinistischer Überlebenskampf, Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Selbstaufgabe keine hellen Farben vertragen, liegt auf der Hand. Bei Nübling versinkt alles in Düsternis. Es gibt keinen Hoffnungsschimmer. Allein, man kann ihm nicht vorwerfen, Schwarz zu malen, denn die Schicksale, die die Diktatur der Ökonomie massenhaft produziert, sind hinlänglich bekannt. Auch ließe sich jede Anklage an das System und ihre Protagonisten beweisen.

Doch es klagt niemand an. Die Zustände mögen uns moralisch empören, die Rechtsstaatlichkeit schützt das System. Und das System hat sich die Rechtsstaatlichkeit längst dienstbar gemacht und wuchert in seiner Profitsucht wie ein Krebsgeschwür dahin. In Kaurismäkis Film „Wolken ziehen vorüber“ gibt es ganz nebenbei eine Fernsehmeldung, in der von der Hinrichtung Ken Saro-Wiwas (Schriftsteller und Politiker) im Jahr 1995 berichtet wird. Zur Erinnerung: Er prangerte in Nigeria die Zerstörung des Lebensraumes der Ogoni, ein indigenes Volk im Nigerdelta, durch Royal-Dutch-Shell-Gruppe an. Saro-Wiwa wurde nach einem politischen Schauprozess gemeinsam mit acht Mitstreitern gehenkt. Als sich die Weltöffentlichkeit empörte, zahlte Royal-Dutch-Shell 15,5 Millionen US$ an die Hinterbliebenen, um sich einer Anklage wegen Menschenrechtsverletzungen vor einem US-Bezirksgericht zu entziehen.

Nüblings Inszenierung wird getragen von einem aggressiven Rhythmus (Musik: Lars Wittershagen) der sich durch die meisten Szenen zieht. Es beginnt mit dem Schaben von Möhren und steigert sich zum Trommeln auf  Mikrofone. Mikrofone waren ein choreografisches Element. Sie wurden ständig auf- und abgebaut, verschoben, umgelegt oder aufgehängt. Zwischen ihnen fand das Spiel statt. Die drei Frauen lösten einander mit ihren Auftritten ab und obwohl sie keinerlei Bezug zueinander hatten, entfalteten sich ihre Schicksale scheinbar n einer Stadt. Sebastian Nübling ging es auch darum, diesen neuen Typus Stadt zu definieren, in der, wie er meint, „Arbeitsämter, Arbeitsplätze, Cafés, Parks - potentielle Orte der Begegnung sein könnten, aber selten sind.“ Urbanität ist in den letzten Jahren zu einer Verheißung geworden, doch das Ergebnis ist ernüchtern.

So hastete „Sue“, grandios zerrissen und waidwund dargestellt von Wiebke Puls, von einer flüchtigen Begegnung zur nächsten, verbündete sich für kurze Zeit mit der kleinkriminellen Lola, schreckte vor der angebotenen Hilfe Lindas zurück, beide Frauen auf sehr eingängige Weise gekonnt konträr von Sylvana Krappatsch gestaltet, und rief schließlich die Telefonvermittlung an, um ein einminütiges Gespräch führen zu können. Ben, sensibel und mit artistischem Aufwand von Rasmus Kaljujärv gespielt, vermochte ihren Schutzschirm nicht zu durchdringen, selbst dann nicht, wenn es zu verschmelzend intimen Begegnungen kam.  Rosetta hingegen kämpfte auf ganz anderem Niveau ums Überleben. Bei ihr waren es die Basics, die es zu erlangen galt. Mirthel Pohla spielte sie ganz ähnlich wie die Darstellerin im Film, unnahbar, aggressiv, hochtourig und mit extremen körperlich Einsatz. Wenn sie nicht gefordert war, kroch sie wie ein zu Tode erschöpftes Tier unter den Trailer, also in die untere Ablage einer Werkbank. Starletta Mathatas Ilona hingegen war nicht gänzlich haltlos und taumelnd. Sie brachte viel Energie auf, um ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Den Untergang ihres Mannes Lauri kommentierte sie mit einem markerschütternden verzweifelten Lachen, das man homerisch nennen könnte. Am Ende streckte die kraftvolle Frau ratlos die Waffen und verblasste. Steven Scharf, wie immer mit einer großartigen Präsenz, demonstrierte die Demontage einer Persönlichkeit, deren Selbstbewusstsein anfangs unerschütterlich zu sein schien, hin zu einem physischen und psychischen Wrack. Es war zutiefst deprimierend, mit anzuschauen, wie dieser starke Man vor den Schaltern des Arbeitsamtes und der Behörden zu einem Bewusstseinszwerg zusammenschrumpft. Das alles barg einen echten Kern Wahrheit und Realität.

Es war eine starke Inszenierung, dessen ungewöhnliche Ästhetik, nämlich die Lakonie und die Tristesse Kaurismäkis, es dem Betrachter nicht immer leicht machte, einen Einstieg zu finden. Man musste dem Zuschauer auch zugestehen, dass er sich gegen diese Bilder der Hoffnungslosigkeit wehrte, so gut er konnte, denn auch in dieser Gesellschaft geht die Angst längst um wie ein Gespenst. So sollte Nüblings düsteres Weltbild als Angebot verstanden werden, dem Trend der Zeit, nämlich die Augen zu verschließen vor den globalen Problemen, zu widerstehen. Es geht für viele Menschen längst nicht mehr um die Würde, die ja bekanntlich unantastbar sein sollte. Für 1 Milliarde Menschen, also für jeden sechsten, gibt es keine Würde mehr, sondern nur noch Hunger. Arbeit sollte ein Menschenrecht sein, doch selbst in den hochzivilisierten und reichen Gesellschaften ist dieses Recht nicht verankert. Der Verlust von Arbeit ist der erste Schritt aus der Gesellschaft heraus. Der Rest ist beinahe ein Automatismus. Das vermittelte der Abend in den Münchner Kammerspielen sehr prägnant.

 

Wolf Banitzki

 

 


Ilona. Rosetta. Sue.   Eine trinationale Koproduktion mit Theater NO99 (Tallinn) und KVS (Brüssel)

von Aki Kaurismäki, Luc & J.-P. Dardenne, Amos Kollek

Jochen Noch/Margus Tabor, Rasmus Kaljujärv, Sylvana Krappatsch, Starlette Mathata, Mirtel Pohla, Wiebke Puls, Gert Raudsep, Steven Scharf, Marika Vaarik

Regie: Sebastian Nübling

Kammerspiele Dantons Tod von Georg Büchner


 

 

Gelungene Hommage für Georg Büchner

 

Es hatte etwas von Abschied, diese „Danton“-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen von Johan Simons. Diese Idee wäre sicherlich nicht aufgekommen, wüsste man nicht um den baldigen Abgang des Intendanten. Und so bleibt es vorerst nur Spekulation, zu behaupten, Simons hätte mit dieser Inszenierung auch den Sinn seiner eigenen Arbeit hinterfragt und am Ende herausgefunden, dass letztlich nur Heulen und Zähneklappern bleibt angesichts einer scheinbar unbelehrbaren Spezies, die die höchstentwickelte zu sein meint. So ganz aus der Luft gegriffen ist diese Behauptung bestimmt nicht, denn Simons gehört wohl zu den politischsten Intendanten in der Geschichte der Münchner Kammerspiele. Die Zeit braucht Menschen, Künstler wie ihn mehr denn je. Der Kunst tut die Politik keinen Abbruch, auch wenn ihr gelegentlich Schaden zugefügt wird, denn Kunst muss sich unbedingt unterscheiden von Politik. Kunst sollte nie Politik werden, denn dann begibt sie sich in die Niederungen des Geistes und der Moral hinab und wird stagnieren. Eine Aufgabe der Kunst ist es, die Ideale im Bewusstsein zu bewahren, die die Politik ausdauernd und vehement zu verhindern sucht.

Johan Simons Inszenierung trug den Charakter einer Leseprobe. Damit gesteht er wohl auch ein, dass dieser Brocken Dramatik kaum letztgültig spielerisch zu bewältigen ist. Recht hat er, was nicht bedeutet, dass es nicht großartige Versuche gegeben hat, ein Schauspiel aus diesem Jahrhunderttext zu machen. Regisseur Simons folgte in seiner ästhetischen Umsetzung Brecht und verfremdete, indem er die Darsteller mit Textbuch in der Hand „Diskussionsangebote“ machen ließ oder den Text thetisch in den Raum stellte. Damit schlüpften die Schauspieler nur bedingt in die Rolle, spielten sie nicht aus und zwangen somit zur absoluten Konzentration auf den Text. Der von Büchner in ganzen fünf Wochen unter widrigsten Bedingungen hingeworfene dramatische Entwurf hat titanische Ausmaße und verlangt dem Leser/Zuhörer/Zuschauer Außerordentliches ab, will sie oder er das Essentielle begreifen. Dabei hatte Simons es nicht bei dem Büchnerschen Drama belassen, sondern zusätzlich eine beträchtliche Anzahl Dichter, Schriftsteller und Denker von Georg Heym bis Marquis de Sade bemüht. Dankenswerter Weise kann man die Zitate im Programmheft nachlesen.

Empfangen wurden die Zuschauer von einem Kammerorchester, das viele Szenen und situative Stimmungen in Klang umsetzten. Carl Oesterhelt, der für diese, gelegentlich an Weill oder auch Ravel erinnernde Musik verantwortlich zeichnete, muss exzellentes Einfühlungsvermögen bescheinigt werden. Eva Veronica Borns Bühne bestand aus zwei großen Videowänden im Bühnenhintergrund, die als Fenster mit Blick auf unterschiedlichste Motive dienten, Topografien beschreibend, aber auch Stimmungen illustrierend. (Video: Lennart Laberenz) Eine lange Reihe aneinander gestellter Tische schuf die eingangs erwähnte Leseprobensituation. Während die Texte zum Teil in großer Nüchternheit dargeboten wurden, erzeugte die Musik im Zusammenspiel mit den Videoinstallationen eine starke unterschwellige Suggestion. Um die Geschichte, in der es um die heraufziehende und langsam aber unaufhaltsam eskalierende Feindschaft zwischen den Lagern Dantons und Robespierres mit Todesfolge ging, ließ Johan Simons einen Himmel aus bedrohlichen Wolken in den Bühnenraum zaubern. Der hatte sich verzogen, als die Urteile gegen Danton und seine Mitstreiter gesprochen waren.

Pierre Bokma gab einen Danton, der in seiner Expression über das Spiel der meisten anderen Darsteller hinausging. Er zeigte einen Mann, der glaubhaft seinen eigenen Epikureismus pries, selbstverliebt seine Rolle in der Revolution propagierte und der am Ende, als er den unweigerlich auf ihn zukommenden Richtspruch mit der Begründung fortzuleugnen versuchte: „Sie werden es nicht wagen!“, nur noch ein heulendes Häufchen Elend war. Erst auf dem Weg zur Hinrichtung richtete er sich wieder zur vollen Größe auf. Ähnlich emotional gestaltete Kristof van Boven seine Rolle als Camille Desmoulin, der erst im Angesicht des Todes heldenhaftes Format bekam. Gegenspieler Robespierre war kongenial mit Wolfgang Pregler besetzt, der scharfzüngig und unerbittlich seine eigene Tugendhaftigkeit, die im Grunde nur Lebensarmut war, zum letzten Banner der Revolution erhob und sie in den blutigen Abgrund führte. An seiner Seite brillierte Annette Paulmann als St. Just, Robespierre befeuernd und seine Entscheidungen in die blutige Tat umsetzend. Darsteller wie Stephan Bissmeier (Lacroix), Marc Benjamin (Legendre) oder Hans Kremer (Herman) beließen es weitestgehend dabei, den Text nachdrücklich ins Bewusstsein der Zuschauer zu rücken. Sich selbst nahmen sie sehr zurück. Mehr als ihr Spiel charakterisierten sie die Kostüme in ihrer Zugehörigkeit zu den Gremien oder Lager (Kostüme: Teresa Vergho). Unter den weiblichen Darstellerinnen stach besonders Sandra Hüller in der Rolle der Marion ins Auge. Sie präsentierte in ihrer Haltung ein wunderbares weibliches Selbstbewusstsein, das frei war von Ideologie und dem nicht der Geruch emanzipatorischer Obsession anhaftete.

Es war ein Abend der besonderen Ästhetik. Die Verfremdung irritierte auf den ersten Blick, doch schon auf den zweiten Blick konnte man den Sinn erkennen. Wohltuend gestaltete sich auch das minimalistische Spiel der Darsteller, nach dem es ein Weilchen gebraucht hatte, seine eigenen Sehgewohnheiten und Erwartungen umzustellen. Nichts lenkte von der Wucht der Sprache und der Ideen Büchners ab. Und da diese Inszenierung als eine Hommage für Georg Büchner zu seinem 200. Geburtstag gedacht war, ging es den Machern aus gutem Grund mehr um den Text, als um eine ästhetisch aufwendige Umsetzung. Diese Inszenierung war eine gelungene Verbeugung vor dem großen deutschen Dramatiker, der nur vierundzwanzig Jahre alt wurde und dessen Arbeiten nichts an Aktualität verloren haben.

 

Wolf Banitzki

 

 

 


Dantons Tod

von Georg Büchner

Marc Benjamin, Stephan Bissmeier, Pierre Bokma, Benny Claessens, Anna Drexler,Sandra Hüller, Marie Jung, Hans Kremer, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, ÇigdemTeke, Kristof Van Boven

 

Bassklarinette: Stefan Schreiber - Trompete: Reinhard Greiner/Robert Alonso - Spinett: Joerg Widmoser - Violine: Gertrud Schilde/Joerg Widmoser/Nora Farkas - Viola: Andreas Höricht/Tobias Weber - Cello: Jost-H. Hecker/Klaus Kämper/Mathis Mayr/Eugen Bazijan - Kontrabass: Juan Sebastian Ruiz



Regie: Johan Simons

Spielhalle Amerika von Franz Kafka


 

 

Kafka mit Herz

Karl Rossmann wird nach Amerika geschickt, um eventuellen finanziellen Verpflichtungen aus dem Weg zu gehen, denn der Knabe ist von einer Dienstmagd verführt worden. Die Frau wurde schwanger und gebar einen gesunden Knaben. Karl, ein ehrlicher und aufrichtig naiver Junge kommt mit dem Schiff in New York Amerika an und wird von seinem Onkel Jakob in Empfang genommen. Der Onkel breitet wie eine Glucke seine Fittiche über den Jungen. Als Karl gegen den Willen des Onkels einer Einladung Herrn Pollunders auf sein Anwesen folgt, wo er sich dessen Tochter Klara zu erwehren hat, wird ihm nach Ablauf einer bestimmten Frist sein Koffer und sein Schirm ausgehändigt und er wird vom zutiefst beleidigten Onkel Jakob aus dessen Obhut in die „Freiheit“ entlassen. Damit beginnt die Odyssee des unschuldigen und recht unbedarften Knaben durch Amerika, die erst in Oklahoma enden soll. Dabei begegnet er zwielichtigen Gestalten wie Robinson und Delamarche, die ihn immer wieder in Verlegenheit bringen. Durch sie verliert er seinen Job als Liftboy und kommt in den Haushalt von Brunelda, einer exzentrischen Dame im Rollstuhl. Schließlich gelingt es ihm auszubrechen und er gelangt nach Oklahoma, wo er im „Theater von Oklahoma“ aufgenommen wird. Mit der guten Aussicht auf Erfolg seiner Bemühungen, ein guter Mensch zu bleiben und so seine Eltern zu versöhnen, endet der Fragment gebliebene Roman Kafkas. Das Werk nimmt eine Sonderstellung im Œuvre Kafkas ein. Max Brod, der Freund, Vertraute und Nachlassverwalter Kafkas schlägt den Roman den beiden anderen Romanen „Das Schloss“ und „Der Prozess“ zu und betitelt sie gemeinsam als die „Trilogie der Einsamkeit“. Zugleich benennt er aber auch den Unterschied zwischen den Helden Josef K. und Karl Rossmann, der vornehmlich darin besteht, dass Karl in seiner naiven Aufrichtigkeit nie gänzlich Spielball der Umstände wird. Er kann der Allmacht des alles zermahlenden (kafkaesken) Systems entrinnen und es darf angenommen werden, dass Kafka den Roman, dessen Grundthema, wie in den anderen Romanen auch, „Fremdheit und Isoliertheit“ ist, zu einem „versöhnlichen“ Ende gebracht hätte. Brod meinte, dass Karl Rossmann durch die Aufnahme in das „Theater von Oklahoma“ „Beruf, Freiheit und Rückhalt, ja, sogar die Heimat und die Eltern durch paradiesischen Zauber “ in Aussicht gestellt sei. In diesem Sinn bekannte die Regisseurin Julie Van den Berghe: „Ich finde es ist eine sehr rührende, tragische Geschichte, die immerhin eine Atmosphäre von positiver Energie atmet.“ Diese Attribute versuchte sie gleichsam auf ihre Inszenierung in der Spielhalle der Kammerspiele zu übertragen. …

Die Bühne von ruimtevaarders (Karolien De Schepper und Christophe Engels) mit der größtmöglichen, grünen Spielfläche, wird im Hintergrund durch eine roh gezimmerte Wand begrenzt, die einige Ein- und Ausgänge vorhielt. In diese Wand eingelassen war ein winziger boxenartiger Raum, der Kajüte sein konnte, aus der Wand herausgelöst aber auch ein Lift. Ein Baum mit angeschraubtem Freiluftlautsprecher konnte auf Rollen beliebig verschoben werden, ebenso ein alter Scheinwerfer und ein liegenartiges Podest. Empfangen wurden die Zuschauer von zwei Karl Rossmanns, Christian Löber und Stefan Hunstein. Damit griff die Regisseurin die sehr frühe Idee Kafkas auf, das „Amerika“ die Geschichte zweier verfeindeter Brüder erzählen sollte, von denen einer in das Gelobte Land ging, während der andere in einem Prager Gefängnis saß. Löber, der mit Gitarren- oder Klavierspiel Stimmungen erzeugte oder musikalisch kontrastierte, und Hunstein wechselten einander in der Gestaltung der Rolle ab, wobei Stefan Hunstein den größeren Part zu bewältigen hatte. Beide gestalteten sie den Charakter des Auswanderers Karl als sensibel, zurückgenommen, naiv und gleichsam verzweifelt nach Wahrheit und Recht suchend. Hunstein und Löber waren unbedingt Garanten dafür, dass die Inszenierung tatsächlich „eine Atmosphäre von positiver Energie atmete“. Julie Van den Berghe machte aus der anrührenden Geschichte kein Rührstuck. Sie überzeichnete die Figuren im Gegensatz zu der des Karl Rossmann kräftig und trieb sie gelegentlich bis an die Grenzen des Clownesken. Katja Bürkle hatte die Rollen der jungen Frauen zu spielen, Klara und Therese. In letztere verliebte sich Karl. Sie interpretierte die Rollen sehr gegensätzlich und schuf damit eine das Verständnis der Geschichte erleichternde Unterscheidung, aber auch erheblich mehr Spannung. Diese Unterscheidung fiel bei den Herren Hess, Telgenkämper, Merki und Simonischek hingegen nicht allzu deutlich aus. Sie spielten fast durchgängig in ein und demselben Kostüm, was der emotionalen Annahme der Rolle nicht unbedingt dienlich war. So gab Stefan Merki, der mit seinem Bart und seinem agilen Auftreten in kurzen Hosen einen hervorragenden Asterix abgegeben hätte, einen Kapitän, einen Diener und Robinson. Edmund Tegenkämper wechselte zwar das Kostüm, doch hielt ihn die Regisseurin nicht zu einem deutlich unterscheidbaren Spielgestus an. Das traf ebenso auf den in seinen Rollen kraftmeiernden Walter Hess wie auf die bemerkenswert filigran gestaltende Christin König zu. Es mangelte schlichtweg an differenzierter Rollengestaltung. Das war umso bedauernswerter, da man weiß, zu welchem komödiantischen Feuerwerk diese Darsteller fähig sind. So schoren sie alle ihre Rollen mehr oder weniger jeder für sich über den ureigenen Kamm. Das war denn auch der Grund, warum sich die ohnehin schon langen 2 Stunden und 40 Minuten noch länger anfühlten. Es gab wunderbar poetische Momente, die vornehmlich vom Spiel Stefan Hunsteins ausgingen und in denen anrührende Menschlichkeit aufblitzte. Auch hatte sich Julie Van den Berghe viel Zeit genommen, um wichtigen Momenten ihren emotionalen Stellenwert zu geben. Das entspricht zwar nicht heutiger Sehgewohnheit, wie sie von der Werbeindustrie geformt wurden, doch diente es in jedem Fall der Wahrheitsfindung. An guten ästhetischen Ansätzen von Seiten der Regie mangelte es nicht, allerdings an einer konsequenten Durchführung derselben und so war die Erschöpfung beim Zuschauer größer als das Hochgefühl, eine bemerkenswerte Geschichte erlebt zu haben, die ganz nebenbei einige Streichungen vertragen hätten. Insbesondere die Episode um Frau Brunelda ist bei Kafka ein schwer erkennbarer und zu deutender Torso geblieben. Sie dennoch unterhalb des Bühnenbodens, also für den Zuschauer weitestgehend unsichtbar, zu spielen, war verwirrend und erzeugte Ratlosigkeit. Es war ein Abend, der temporär große Gefühle erzeugte, dem leider die komödiantische Leichtigkeit abging und dessen Atem einer „Atmosphäre von positiver Energie“ gelegentlich die Schwere eines Marathonlaufes anhaftete.

 

 

Wolf Banitzki

 

 


Amerika

nach Franz Kafka

Katja Bürkle, Walter Hess, Stefan Hunstein, Cristin König, Christian Löber, Stefan Merki, Max Simonischek, Edmund Telgenkämper

Regie: Julie Van den Berghe

 

Kammerspiele Seltsames Intermezzo von Eugene O'Neill


 

 

Großes Theater und beste Unterhaltung

 

Lebendig ist, was war oder was sein wird, nur die Gegenwart ist es nicht, die ist ein seltsames Intermezzo! Das ist eine der Quintessenzen, die Nina aus ihrem Leben destilliert hat. Wie alle anderen auch, läuft sie ihrem Glück hinterher und eigentlich auch davon. Noch ehe sie erfahren konnte, was Glück ist oder sein könnte, hat der Tod ihres angebeteten Gordon einen tiefen Krater in ihr Inneres gerissen, an dessen Rand sie nun lebenslang stehen wird, um immer wieder hinein zu schauen und um unglücklich zu sein. Gordon starb im ersten Weltkrieg als Pilot. Ninas Vater hatte eine überstürzte Heirat der beiden verhindert und so hatte sie nie erfahren, wie es sich angefühlt hätte, in Gordons Armen zu  liegen und von ihm geliebt zu werden. Das begründete einen Mythos, der Nina die Möglichkeit zum freien Handeln nahm. Sie entschied sich stets für das geringere Übel, denn alles war Übel, gemessen an dem, was hätte sein können und was nicht war.

Das ist üblicherweise eine gute Basis für eine Seifenoper. Und eine solche ist dieses überbordende Drama auch. In den fünfundzwanzig Lebensjahre der Professorentochter Nina Leeds ist alles untergebracht, was in eine Kolportage gehört: Liebe und Tod, Lüge, Verrat, Eifersucht und Untreue. Und doch ist das Werk von Eugene O'Neill alles andere als Kolportage, wenngleich viele Geschichten in der Lebensgeschichte die Anforderungen an eine solche erfüllen. Dieses Drama von O'Neill geriet auch und vor allem so umfänglich (mehr als vier Stunden auf der Bühne der Münchner Kammerspiele), weil er neben den zwei Dritteln Monolog- oder Dialogsprache etwa ein Drittel gedachten Text sprechen lässt. So erfährt der Betrachter neben den Äußerungen auch den gedanklichen Hintergrund, der sich nicht selten konträr verhält. Dadurch entsteht ein bisweilen erschreckende Aufrichtig- und Wahrhaftigkeit der agierenden Personen. „Ich glaube nicht, dass eine Idee einem Publikum übermittelt werden kann, außer durch Charaktere.“ (Eugene O'Neill) In diesem Sinne ist das Konzept, das hinter „Seltsames Intermezzo“ steht, ein echter Geniestreich.

Eugene O'Neill, der auch der amerikanische Sophokles genannt wurde, war ein Tragiker, der nichts anderes versuchte, als seine eigene Zeit zu überwinden. Der erste Weltkrieg zerstörte mehr, als nur Länder und europäische Städte. Er zerstörte Weltbilder und Lebensentwürfe. Dieser Umbruch wurde auch von O'Neill schmerzhaft wahrgenommen. Er war ein Mann, der ohne Gott schwer leben konnte. Dennoch verstand er, warum der Wandel von der viktorianischen Moralgesellschaft hin zu einer wissenschafts- und technikgläubigen, materialistischen Gesellschaft stattfand. Zumindest erklärte er viele dieser Phänomene sehr schlüssig in seinen Dramen. Das lag nicht zuletzt auch daran, weil er einige seiner Geschichten am eigenen Leibe erfahren hatte. Als Sohn einer strenggläubigen Katholikin und eines irischstämmigen Schauspielers, der um die Jahrhundertwende 16 Jahre lang mit einer einzigen Rolle, dem „Grafen von Monte Christo“, durch die ganze USA tourte und monatlich mehr als 3000 $ verdiente, wurde Eugene O'Neill quasi in die Welt des Theaters hineingeboren. Bereits früh erkannte er die Kommerzialisierung von Kunst, wandte sich angewidert ab und zog es vor, Gold in Honduras zu suchen, durch Argentinien zu trampen oder auf einer Dreimastbark anzuheuern. 1913 verfasste er sein erstes Theaterstück. Tatsächlich zeichnen sich seine Stücke dadurch aus, dass die Figuren aus Fleisch und Blut sind, dem Leben entsprungen, selbst wenn es sich dabei um Kunstfiguren handelt.

Die melodramatische Nina ist so eine Kunstfigur, in deren Welt es zwei Götter gibt: Gottvater ist verantwortlich für alle Katastrophen und alles Leid, das über die Menschen kommt. Gottmutter hingegen ist das duldende, das behütende Prinzip. „Unser Leben ist nichts als ein seltsames, dunkles Zwischenspiel im elektrischen Feuerwerk von Gottvater.“ Beste Voraussetzungen für ein Theater, in dem sich die Betrachter wieder finden können. Und wenn einem begabten Regisseur wie Ivo van Hove ein Ensemble wie das der Münchner Kammerspiele zur Verfügung steht, um dieses Spiel auf die Bühne zu bringen, ist ein Erfolg kaum mehr abzuwenden. Gespielt wurde auf schwarzem Sand. Jan Versweyveld hatte ein Oval auf die Bühne gebracht, das wie eine Arena von den Zuschauern umringt war. Darauf wurden die neun Szenen wie ein Kampf ausgetragen, denn ein Kampf war es allemal. Die barfüßigen Darsteller schrieben mit ihren Gängen eine Chronik des Kampfes in den Sand, die nach jeder Szene gelöscht wurde. Mit jeder Szene begann es aufs Neue und mit jeder Szene steigerte sich die Tragik, das Resultat aus Nichtverstehen, Egoismus, Nichthinschauen und Fehlentscheidungen.

Es war unbestritten der Abend Sandra Hüllers, die in der Rolle der Nina Leeds beeindruckendes Theater gestaltete und die über vier Stunden lang in den Bann schlug. Sie spielte bissig, sehnsuchtsvoll, zynisch oder auch nach Liebe gierend. Die Brüche, mit denen sie immer wieder verblüffte oder erheiterte, hätten mehrere Figuren in der einen vermuten lassen. Allein, Sandra Hüller bewältigte, verwob und verkörperte sie in einer Person. Ebenso großartig agierte Stefan Hunstein  als der Schriftsteller und Lebensflüchtling Charles Marsden, der am Ende der friedliche Hafen für Nina wurde. Hunstein brillierte mit komödiantischen Finessen, wie man sie selten zu sehen bekommt. Marc Benjamin überzeugte durch die Dualität der Figur des Sam Evans, des ersten Ehemanns von Nina. Zu Beginn gab er einen Mitleid erregenden Versager, der sich damit zufrieden gab, dass er an Ninas Seite sein durfte. Als sie ihm ein (nicht seins) Kind schenkte, entfaltete Benjamin einen geradezu exemplarischen, starken Unternehmertypen, der das Leben, zumindest das äußere, gestaltete. Maximilian Simonischek verkörperte den dritten Mann im Gefühlsreigen, den Arzt Edmund Darrell. Er gestaltete sensibel und überzeugend einen Charakter, den die unerfüllte Liebe langsam und unaufhaltsam zerstörte und in ein emotionales Wrack verwandelte.

Ivo van Hove vertraute ganz auf den Text. Er inszenierte diesen ohne aktionistische Beigaben oder äußerlichen Schnickschnack. Die Konflikte entfalteten sich wie die aufsteigenden Geister Goyas. In vier Stunden Spiel gab es keine Leerstellen, alles war aufgefüllt mit Wort, Klang und Bedeutung. Notwendige Pausen, aber auch besonders intensive Szenen wurden kommentiert oder auch gestaltet durch die Live-Musik von Daniel Freitag. Freitag ging dazu mit seiner Gitarre auch auf die Bühne, um sich zu Sandra Hüller zu gesellen. So verschmolzen ihre Worte mit der Musik. Freitag machte den Blues, der der Geschichte innewohnt, mit seinem Instrumentalspiel und auch mit seinem Gesang hörbar.

Selbst wenn zum Ende hin der Soap-Charakter immer deutlicher zutage trat, verlor die Inszenierung nicht. Vielleicht brauchte es auch der anfänglichen Nüchternheit, um immer tiefer im Strudel des Gefühls und des Mitgefühls zu versinken. Als die neunte Szene mit dem in jeder Szene eingebauten, obligatorischen Blitz endete, gab es frenetischen Applaus, Bravos und Standing Ovations. Zu Recht, denn es war großes Theater und beste Unterhaltung, und zwar vier Stunden lang. Bravo!

 

 

Wolf Banitzki

 

 

 


Seltsames Intermezzo

von Eugene O'Neill

Marc Benjamin, Peter Brombacher, Anna Drexler, Daniel Freitag, Stefan Hunstein, Sandra Hüller, Christian Löber, Annette Paulmann, Maximilian Simonischek

Regie: Ivo van Hove