Münchner Kammerspiele Das schweigende Mädchen von Elfriede Jelinek


 

 

Wahrheit adé

Ein Aufschrei ging durchs Land, als die Sitzvergabe für Journalisten im NSU-Prozess bekannt wurde. Die ausländische Presse sei zu kurz gekommen, hieß es. Das hat doch wohl was zu bedeuten. Da geht’s schon wieder los, die Heimlichtuerei. Hat da einer Angst vor dem, was herauskommen wird? Also wurde verlost. The winner is: … Sogar die Yellow Press schaffte es in den Gerichtssaal. Beeindruckend, wie die Medien um die Wahrheit bemüht waren. Heute nach fast einem und einem halben Jahr geht das Interesse weitest gehend gegen Null. NSU-Prozess? Ach, den gibt es auch noch? Ein Bekannter riet mir, mich einmal hineinzusetzen. Es habe tatsächlich etwas von Theater, meinte er nicht ohne Faszination. Wenn das so ist, warum die Geschichte nicht auf die Bühne bringen. Kaum gedacht, schon geschehen, und zwar noch vor dem Ende, vor einer Urteilsverkündung, vor der Offenlegung der Wahrheit.

Und wer beging den Frevel, in Aussicht zu stellen, dass wir keine Wahrheiten erfahren werden? Elfriede Jelinek. „Das schweigende Mädchen“ heißt Beate Tschäpe und sie schweigt, nein, nicht weil sie aus weltanschaulichen Gründen ihre „Sache“ nicht verraten will, sondern weil die Anwälte es ihr geraten haben. Das ist ihr gutes Recht. Doch Beate Tschäpe ist die einzige, die Licht in den braunen Sumpf, in die kruden Gehirnwindungen neonazistischer Kameradinnen und Kameraden bringen könnte. Wer ist „Das schweigende Mädchen“? „Jungfrau ohne Jugend und Hausfrau ohne Haus“, heißt es im Lied: „Sein und Wahrheit“. Weit gefehlt wäre der Schluss, Elfriede Jelinek hätte ein Stück über die NSU, den Nationalsozialistischen Untergrund, geschrieben, wie dereinst mit „Ulrike Maria Stuart“ ein Stück über die RAF, in dem sie Schillers Maria Stuart und Elisabeth I. als Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin in Stammheim aufeinander treffen lässt. Diesmal greift Frau Jelinek weiter. Sie erhebt den noch laufenden Vorgang des Prozesses gegen Beate Tschäpe und vier weitere Gesinnungsgenossen zum Jüngsten Gericht.

Es hätten gespielt, wenn sie denn gespielt hätten: drei Engel des Herrn (Wiebke Puls, Steven Scharf und Benny Claessen), zwei Propheten (Annette Paulmann und Hans Kremer), ein Fremder (Risto Kübar) und der verhandelnde Richter (Thomas Schmauser). Es wurde gelesen: „Der Text lässt einem keine Möglichkeit zu ankern. (…) Die Realität da draußen scheint viel theatralischer zu sein als das, was im Theater stattfindet.“ (Johan Simons) Doch es wurde auch gespielt, minimalistisch, verhalten, bewegungsarm, versteckt. Das erzeugte Spannung; das hatte fast mystischen Charakter, wenn sich die Engel nach ihren Auslassungen wieder in ihre schwarzen weiten Roben in die Unsichtbarkeit zurückzogen. Nebendran der Fremde, in messianischem Weiß, linkisch, unbeholfen, zart. Messianisch, nicht weil er die Wahrheit verkündet, sondern weil sich die Wahrheit über diese Gesellschaft an ihm, an seinesgleichen verkündet. Die Propheten, kurzärmelig und im Rock, züchtig bis über die Knie, in ausgefeilter Synchronität, zelebrierten Gelassenheit, die an Resignation grenzte. Nicht alles klang weise, manches zynisch, kam es doch von einer höheren Instanz und war weitestgehend ideologiefrei oder sollte es zumindest sein. Es waren schließlich wahre Propheten. Die falschen sind ja schließlich immer die anderen.

Zeuge Stefan Hunstein eröffnete das Spiel mit einem Präludium. Ort der Handlung: Ein Internetcafé, in dem gerade ein Mitbürger (mit Migrationshintergrund) erschossen wurde. Ein V-Mann des Verfassungsschutzes war anwesend, chattete auf Seiten, von denen seine frischangetraute Ehefrau nichts wissen sollte. Er verkrümelte sich. Der Zeuge Hunstein war fassungslos. Er brüllte bis zur Atemlosigkeit gegen die Stigmata unserer Zeit an, die Verantwortungslosigkeit, das geübte Wegschauen, die Apathie, der latente Hass gegen die/das Fremde. Dann kam der Richter: „Guten Morgen. Guten Morgen. Guten Morgen.“ Er stellte die Präsenz aller Personen fest. Viele Namen wurden genannt, an die hundert. Dann stellte die Verteidigung des „schweigenden Mädchens“ einen Befangenheits- oder Misstrauensantrag und die Verhandlung wurde um eine Woche verschoben. Machte da jemand eine Theaterfarce aus einem Gerichtsprozess? Ganz und gar nicht, denn genau so geschah es am 1. Gerichtstag im Strafjustizzentrum in der Nymphenburger Straße. Elfriede Jelinek nahm die originalen Gerichtsprotokolle als Vorlage und stattete ihren Richter, im wahren Leben heißt er Manfred Götzl, mit einer Brille aus, deren linkes Glas abgedunkelt oder blind war. Unübersehbar war, dass Thomas Schmauser in diese Rolle hineingeboren zu sein schien.

Elfriede Jelinek reichte 220 Seiten Fließtext ein und dem Dramaturgen Tobias Staab kam es nun zu, eine praktikable Spielfassung (42 Seiten, zwei Stunden) zu erarbeiten. Es liegt auf der Hand, dass es nur eine von vielen Möglichkeiten sein kann. Doch das ist vielleicht das Grandiose an der naturgemäßen Unentschiedenheit, dass man, wenn der Prozess vielleicht in einem Jahr beendet ist, eine ganz andere, neue Fassung aus dem vorliegenden Text erarbeiten könnte. Bei Frau Jelinek wird ja auch nicht der Fall des mörderischen NSU-Trios verhandelt, sondern Deutschland, die Gesellschaft, der Bürger, die Historie, die mit der Wende eine neue Qualität bekam: „Es ist so traurig, das Land hat sich gewendet, und dann war es völlig anders als vorher, es ist grauenhaft, vorher war es das nicht.“ (Prophetin Paulmann) Hier wird das Jelinek-Prinzip deutlich, ihre gewaltige schöpferische Kraft, denn sie verweigert sich einer angestammten Kommunikationssprache, die kaum mehr als ein gesellschaftlicher Kompromiss ist, den alle mitspielen. So verkommt Sprache zu Hülsen. Kabarettist Nuhr gab ein Beispiel: „Ich bin doch kein Rechtsextremist, ich nur extrem Rechts!“ Frau Jelinek bricht jede Metapher auf und überrascht mit neuen, zum Teil entlarvenden Bedeutungen. Sprache ist erbarmungslos und kaum jemand beherrscht das Spiel so virtuos wie Frau Jelinek.

„Das Land schweigt, indem es unaufhörlich redet, und wenn es nicht redet, dann schreibt es was oder redet über das, was es geschrieben hat, im Fernsehen, meist in Kleingruppen, dort geben sie Entwarnung, und es gibt auch keinen Nachweis, dass ein Netzwerk von Helfern existiert, die machen ganz allein so ein schlechtes, schlichtes Programm dort, diese Terrorzelle, das ganze Land ist eine Terrorzelle, die sich am Bildschirm wiederspiegelt, wo die einzelnen Kontaktpersonen unterdrückt werden.“  Wahrlich, so spricht der Prophet Kremer. Und der Engel Claessens stellt fest: „Dieses Land ist verlorengegangen, es ist selbst verloren, ja, wo ist es denn hin?“

Antworten sucht man vergeblich, doch es werden sehr gute Fragen gestellt und/oder aufgeworfen und das ist ein guter Ansatz, aus einer Zeit herauszufinden, die so gänzlich ohne Wegweiser ist und nur ans Auspreisen denkt. In dieser Inszenierung sitzt man nicht nur im Gericht, hier sitzen wir über uns selbst zu Gericht. Es ist ein düsterer Ort, in dem man den berüchtigten „Meister aus Deutschland“ beschwörte. Die Walküren ritten wieder und „jeder ist ein Hunding, ganz Deutschland ist ein Hunding, der die lieben Menschen, von mir aus auch die Liebenden, verfolgt…“  Die Musik von Carl Oesterhelt erinnerte an Filmmusiken expressionistischer Meisterwerke wie „Von morgens bis mitternachts“ von Georg Kaiser, der Gesang an Brechts „Mahagonny“.

Das puppenstubenhafte Bühnenbild wurde dominiert vom „Erbschaftsamt“. Hier wird das Erbe verwaltet, das wir hinterlassen. Flankiert war das turmartige Gebäude von den „Seynshütten Ost“ und „West“, eine Anspielung an Martin Heideggers Seynshütte in Todtnauberg im Schwarzwald, vor der er in seinen selbstgestrickten Schafwollunterhosen saß und visionär in die teutschen Lande schaute. Er war einer der grandiosesten  Verdränger der Geschichte und der eigenen Rolle darin.  Im Vordergrund das „Konservatorium“. Hier lagerte man den konservierten Humus der Geschichte ein.

In einer TV-Dokumentation zum Thema NSU war zu sehen, dass Frau Tschäpe hinter einem Banner mit der Aufschrift: „Nationalismus – Eine Idee sucht Handelnde“ marschierte. Es war eine Demonstration gegen die „Wehrmachtsausstellung“. Sie und ihre beiden Brüder im Geiste sind Handelnde geworden. Nun mag es Terrorismus zu beinahe allen Zeiten gegeben haben. Der heutige, weltweite Terrorismus hat allerdings eine entscheidende neue Qualität, die nihilistischer nicht sein kann. An die Stelle des Zerstörungs- oder Tötungsaktes mit anschließender Strafe, auch Buße und gelegentlicher Resozialisierung, wenn man der Täter habhaft wurde, ist jetzt die massenhafte Selbsttötung als finale Botschaft getreten. Fatalerweise ist sie irreversibel und hat damit uneingeschränkte Erfolgsgarantie. Sollte das Mädchen weiter schweigen, kommt das einer Selbsttötung gleich. Welchen Schaden nimmt die Gesellschaft, wenn es ihr nicht gelingt, das Schweigen des Mädchens zu brechen.

Und was meint Staatsbeamter Richter Schmauser dazu? „Sie reden nicht, obwohl sie es könnten? (…) Da kann man nichts machen. Das sorgt zwar für Spekulationen, aber bei denen gewinnt keiner, es hat ja auch keiner was einzusetzen, außer seiner guten Laune, seinem aufrichtigen Bedauern, was weiß ich, und das alles verliert er, kaum dass er gesetzt hat, es hat ja auch keiner auf ihn gesetzt. Nur der Richter fragt immer noch, ist es denn die Möglichkeit? Die Möglichkeit schon, aber wahr ist es nicht. …“

 

Wolf Banitzki

 

 


Das schweigende Mädchen

von Elfriede Jelinek

Benny Claessens, Stefan Hunstein, Hans Kremer, Risto Kübar, Annette Paulmann, Wiebke Puls, Steven Scharf, Thomas Schmauser
Musiker: Gertrud Schilde, Salewski, Sachiko Hara

Regie: Johan Simons

Kammerspiele Die Zofen von Jean Genet


 

 

Gut und Böse als siamesische Zwillinge

Jean Paul Sartre nannte das Leben Genets in seinem Buch „Saint Genet“ (Schriften zur Literatur) ein liturgisches Drama und beschrieb es wie folgt: „ Ein Kind stirbt vor Scham, ein Ganove tritt an seine Stelle; der Ganove wird später von dem Kind heimgesucht.“ Genet sieht es mit Entsetzen, mit dem gleichen Entsetzen, mit dem Kafkas Gregor Samsa seine Verwandlung in ein Ungeziefer konstatieren musste. Höchsten Ausdruck fand dieses Entsetzen  Genets in seinem Roman „Querelle“: „Querelle konnte sich nicht an die nie formulierte Idee gewöhnen, dass er ein Ungeheuer war.“

Der „Ganove“ Genet saß etwa ein Dutzend Male in unterschiedlichsten Besserungsanstalten und Gefängnissen ein und blieb nur dank der persönlichen Fürsprache Sartres und Cocteaus beim französischen Staatspräsidenten von lebenslanger Haft verschont. Das „Kind“ Genet hingegen trieb den Mann an, seine Revolte literarisch auszuleben, was dieser tabulos und mit titanischer Sprachgewalt tat. Zentrales Thema war der Tod. Das unterschied ihn nicht unbedingt von anderen Schriftstellern und Dichter. Was ihn unterscheidet ist: „dass (die geistigen Exerzitien) fast nie seinen künftigen Tod, sein Sein zum Tode betreffen, sondern sein Tot-sein, seinen Tod als vergangenes Ereignis.“ Hat Genet jemals getötet? Die Frage beantwortete er nicht. Doch er schreckte nicht davor zurück, von der Schönheit des Mordens (nicht des Mordes) zu schwärmen. Dieser Akt bedeutete ihm Revolte und Freiheit.

Auch in „Die Zofen“, die erste Fassung kam 1947 im Pariser Théâtre de l'Athénée unter heftigen Protesten auf die Bühne, die letztgültige erschien 1958, geht es um Mord. Die Schwestern Claire und Solange, Zofen in einem gutbürgerlichen Haushalt, haben mittels gefälschter Briefe den Hausherren ins Gefängnis gebracht. Der Inhaftierte avanciert bei den beiden Frauen sogleich zum angebeteten, ruchlosen Verbrecher. Die Vorstellung, ihm freiwillig bis in die entfernteste Strafkolonie zu folgen, entzückt. Doch vorerst wird die Ermordung der „gnädigen Frau“ geplant, minutiös und mit großem Aufwand. Schließlich sollen die beiden das Erbe der Dame antreten und das ist mehr als verlockend. Als der tödliche Lindenblütentee serviert wird, erfährt die Dame des Hauses, dass der Ehemann auf freiem Fuß ist und sie in der Stadt erwartet. Madame verzichtet auf den Lindenblütentee und eilt zu ihrem Gatten. Champagner ist angesagt. Claire und Solange bleiben desillusioniert zurück. Doch sie verzichten nicht auf ihr Vorhaben, da es kein Zurück gibt. Früher oder später wird ihre Intrige auffliegen. Claire wandet sich in eine Robe der Hausherrin und nimmt den vergifteten Tee zu sich. Solange stellt sich daraufhin den Behörden. Sie wird mit dem unerschütterlichen Bewusstsein, die Schwester für immer in sich zu tragen, ins Gefängnis gehen.

Für Genet waren das Gute und das Böse unauflöslich metamorphisch miteinander verbunden und so stellt sich diese Dualität auch im Schicksal der beiden Schwestern dar. Immerhin war Solange bereit, auf das mörderische Vorhaben zu verzichten. Doch Claire, das Biest, wie sie sich selbst nennt, dringt auf Konsequenz. Fraglos hat dieses Drama, dass die Gesellschaft als eine Klassengesellschaft enttarnt, politische Dimensionen. Doch um die ging es weder Genet, noch Stefan Pucher, der das starke Stück Dramatik auf die Bühne der Münchner Kammerspiele zauberte.

Barbara Ehnes Bühnenbild bestand in einem großen ovalen, tunnelartigen Raum von bestechender Eleganz, in Schwarz oder Anthrazit gehalten. Im Hintergrund befand sich ein Kamin mit Spiegel. Gazevorhänge im Hintergrund und an der Bühnenrampe dienten als Videoprojektionsflächen. Als im zweiten Teil die Hausherrin auftrat, kamen einige wenige, nicht minder elegante Möbel hinzu. Dass dieser Ort während des Spiels eine zwingende Magie entfaltete, lag nicht zuletzt an dem ausgefeilt und opulent eingesetzten Licht von Stephan Mariani.

Stefan Puchers Inszenierung war in jeder Hinsicht eine hochartifizielle Angelegenheit. Neben der suggestiven Raumbefindlichkeit kamen Videosequenzen (Livecam: Ute Schall) oder Filmzitate hinzu, die den Raum zusätzlich überhöhten. So begann das Stück mit einem Zitat aus Genets 1950 gedrehten Film „Un chant d’amour“, einem Werk, das wegen seiner homosexuell-pornografischen Bilder lange nicht zur Aufführung kam. Auf der vorderen Leinwand erschienen Claire und Solange, die sich gegenseitig mittels eines Strohhalms Zigarettenrauch in die Münder bliesen. In Genets Film rauchen zwei homosexuelle Häftlinge, die einander heftig begehren, mittels eines Strohhalms gemeinsam eine Zigarette durch ein kleines Loch in der Wand, die die beiden trennt.

Im Verlauf der Vorstellung wurden immer wieder Sequenzen aus dem Genet-Film eingespielt, deren fast hypnotischer Charakter zusätzlich an Kraft gewannen, da sie, wie z.B. die Bilder von Georg Baselitz, auf dem Kopf stehend abgespielt wurden. Auch Fassbinders, sechs Monate nach dessen Tod erschienenem Film „Querelle“ entlieh Pucher Bilder und auch den Song „Each man kills the thing he loves“ (im Fassbinder-Film von Jeanne Moreau dargeboten). In einer eingespielten, ebenfalls verkehrt herum projizierten Szene schickten sich Querelle (Brad Davis) und Gil (Hanno Pöschl) an, sich gegenseitig abzustechen, während sie einander begehrten und sich gegenseitig ihre physische Zuneigung gestanden. Vor der Leinwand vollführen Claire und Solange den gleichen tänzerischen Kampf mit Klappmessern. Am Ende, wenn Claire den todbringen Tee zu sich genommen hat, erlebte der Zuschauer, wie die beiden Schwestern in der Videoprojektion miteinander verschmolzen und zu einer Person wurden.

Es waren allesamt Zitate, die die „unzivilisierte“ und darum so verstörende Weltsicht Genets erklärten und die Fassbinder mit folgenden Worten kommentierte: „Das hängt damit zusammen (...), dass man, um vollständig zu sein, sich selber noch einmal braucht. (...) Jeder, der sich an Grenzen begibt, oder an gesellschaftliche Grenzen, oder alles, was sie übertritt, muss zwangsläufig in dieser Gesellschaft pornographisch sein, und jede denkbare Utopie birgt natürlich in sich die Gefahr faschistoider Momente.”

Die beiden ungleichen Schwestern wurden von Brigitte Hobmeier (Claire) und Annette Paulmann (Solange) gespielt. Frau Hobmeier drohte mit ihrer mörderischen Energie schier zu zerbersten. Ihrer Entschlossenheit begegnete eine zurückhaltendere, bescheidenere Annette Paulmann so sinn- wie erfolglos mit Erklärungsversuchen, die eine spießige (Dienstboten-) Weltsicht verrieten. So artifiziell, wie der ganze Raum angelegt war, so artifiziell waren auch die wunderbaren Kostüme von Annabelle Witt und auch die stark überzeichneten Masken und Perücken, die beinahe clowneske Charaktere hatten. Die Schwestern waren in ihrer Hässlichkeit, Produkt ihrer Verbannung in die Subalternität, ohne reale Chancen auf Selbstbestimmtheit, Entfaltung oder Befreiung, auch bedauernswerte Kreaturen.

Dieser Eindruck verdichtete sich noch, als die beiden Schwestern durch die Gnädige Frau kontrastiert wurden. Als Wiebke Puls den Bühnenraum durchmaß, schrumpften die Zofen unweigerlich ins Zwergenhafte. Dabei war die Größe der Gnädigen Frau nur äußerlich. Wiebke Puls gab eine egoistische Zynikerin mit Anflügen von Dämlichkeit. Diese komplexe Charakteristik konnte sich auch schon mal in einem einzigen Satz äußern, wenn sie zum Beispiel bemerkte, wie gut es den Zofen doch ginge, denn sie bekämen die schönen Dinge des Lebens geschenkt, während sie selbst sich diese Dinge kaufen müsste. Eines allerdings ließ sie nie aufkommen, Zweifel am sozialen Unterschied: „Durch mich, durch mich allein, kommt der Zofe ihr Dasein zu. Durch mein Rufen und meine Gesten.“

Nicht nur, dass der Zuschauer am Premierenabend eine grandiose, in sich geschlossene und ästhetisch absolut überzeugende Inszenierung erleben konnte, es wurde ebenso Schauspiel in Vollendung geboten. Was die drei Damen darbrachten erzeugte Gänsehaut und ließ auch schon mal den Atem stocken. Lange Rede, kurzer Sinn: „Die Zofen“ an den Münchner Kammerspielen ist großartiges Theater, wie man es selten zu sehen bekommt. Glückwunsch!

Wolf Banitzki

 


Die Zofen

von Jean Genet

Brigitte Hobmeier, Annette Paulmann, Wiebke Puls, Ute Schall

Regie: Stefan Pucher

Kammerspiele Tauberbach von Alain Platel


 

 

Die Schönheit des Unvollkommenen

Alain Platel ist studierter Psychologe, der seine Berufung ans Theater auch durch die Arbeiten Pina Bauschs erfuhr. Bauschs Tanztheater überwand die Barrieren zwischen dem Wort und dem körperlichen Ausdruck und gelang eine bis dahin nie erreichte Direktheit in der Verschmelzung zwischen Schauspiel und Tanz. Für „Tauberbach“ ließ sich Alain Platel aus zwei Quellen inspirieren, dem Film „Estamira“ von Marcos Prado  (Brasilien 2004) und dem musikalischen Projekt von Artur Zmijewski, der 2002 mit dem Chor der Samuel-Heinicke-Schule für Schwerhörige und Gehörlose die Bachkantate „Jesu, der du meine Seele“ in der Leipziger Thomaskirche zur Aufführung brachte.

Den roten Faden für „Tauberbach“ lieferte die Geschichte von Estamira, die, 63 Jahre alt, an Schizophrenie leidet und zwanzig Jahre lang auf der Müllhalde von Jardim Gramacho in der Nähe von Rio de Janeiro überlebte. Zu Drehbeginn hatte sich Estamira in psychiatrische Behandlung begeben. Doch sie kehrte immer wieder auf die Müllhalde zurück, wo sie glücklich zu sein schien. Dort, inmitten von Outlaws, die sich längst aufgegeben hatten, schuf sie ihr eigenes Universum, ihre eigene Sprache und kommunizierte mit den Stimmen außerhalb von ihr, mit den Stimmen in ihr und mit der Stimme über ihr. Ihr Kampf war ein sehr ernsthafter und in höchster Not rief sie ihren Gott an. Estamira nannte es, „mit Gott telefonieren“. Marcos Prado  schuf mit dem Bild von Estamira ein Bild von einer Urfrau, die alles Leid dieser Welt auf sich vereinte, die aber ungeachtet dessen an ihrem Lebenswillen festhielt. Sie formulierte unvermittelt verblüffend klare Vorstellungen von der Welt, aber auch fundamentale Wertsätze, die der Zivilisation als Basiswissen scheinbar abhanden gekommen sind.

Für die ästhetische Brechung dieser zum Teil unerträglichen Realität berief sich Alain Platel auf den Gesang des Gehörlosenchores. Hinter diesem musikalischen Projekt steht ebenso der Gedanke, dass J.S. Bach nicht nur der geniale Schöpfer war, sondern ein Mensch, der in seinem Leben durch alle möglichen Höllen gehen musste. Was läge also näher, einmal nicht der zum Common sense geronnenen Vorstellung von hochästhetisierter Darstellungsweise zu folgen und den Versuch zu wagen, auf die intellektuellen und technischen Fähigkeiten von  Hochleistungssängern zu verzichten, statt der Vollkommenheit die (gesellschaftliche oder körperliche) Behinderung zu Wort kommen zu lassen. Der erstaunlichste Effekt dabei war, dass auch darin eine beeindruckende und berührende Schönheit schlummerte, die der „Bildungsbürger“ jedoch bislang nicht sah, weil er sie wohl gar nicht für möglich hielt. Es ist das Verdienst von Alain Platel und seinen sechs Darstellern, diese Schönheit herausgefiltert und sichtbar gemacht zu haben. Mit seiner radikalen Theaterauffassung beschreitet Platel neue Wege und schreibt wohl auch Theatergeschichte. In dieser Auffassung liegt allerdings auch die Gefahr, in Zeiten der Dekadenz und des ästhetischen Überdrusses, menschliches Elend gewinnbringend zu vermarkten, mit dem Dilemma dieser Welt und der künstlerischen Betrachtung von der bourgeoisen Position herab „Marktlücken“ aufzutun. Doch wer diese Performance gesehen hat weiß, dass hier aufrichtiger, mitfühlender und wahrhaftiger Wille am Werk war.

Elsie de Brauw schlüpfte in die die Rolle der Estamira und zog brabbelnd und lamentierend ihre Kreise über die Müllkippe der Zivilisation, von Alain Platel und les ballets C de la B als ein Meer aus textilem Müll dargestellt. Eine Schubkarre und zwei auf und ab schwebende Beleuchtungsbrücken waren die einzigen Elemente in der Endlosigkeit der Verrottungsgeschichte. Sie, die in ihrem Überlebensdrang unentwegt Aktive, wurde umkreist von den auf ihre letzten vitalen Interessen zurück geworfenen Trabanten. Es waren Kreaturen, nicht immer Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft, so sie jemals einen einnahmen,  verloren hatten. Ihr Kreisen im Überlebenskampf hatte eine eigene Geografie und individuelle Bewegungsmuster, scheinbar willkürliche, kaum voraussehbare. Sie waren die „Bastarde“ der Gesellschaft, Spastiker, Deformierte, Verängstigte, Verzweifelte. Ihre Bewegungen wurden, begleitet von dem kakofonen Gesang, der in Gebrüll, in Geröhre kippte und zum Teil Entsetzen erzeugte, zum „Bastardtanz“. Nicht selten entstand der Eindruck, dass der Betrachter, die Bachschen Klänge in schönster Reinheit im Ohr, in eine vorzivilisatorische Zeit zurückgeworfen wurde, in der die Artikulation vorerst nur Wille, dieser aber schon spür- und ahnbar war. Selbst dieser Ausdruck verfügte bereits über eine innere Logik, auch über eine Ästhetik, die wir allerdings allzu leichtsinnig als die Kategorie des Hässlichen begreifen. Die Darsteller belehrten uns eines Besseren. Ein Schlüsselwort im Verständnis der Vorgänge war Scham. Diese (dargestellte) Scham verwandelte die Nacktheit, das Enblößtsein (auch das innere) durch den Filter des verzweifelten Verbergens in Schönheit, in eine zweckfreie Schönheit, wie wir sie vornehmlich in der Natur finden. Die Darstellung aller Beteiligten verriet Meisterschaft. Das Unvollkommene wurde in höchster Perfektion dargeboten.

Das Projekt „Tauberbach“ gefällt sich nicht in seiner ungewöhnlichen Ästhetik. Es begnügt sich auch nicht damit, uns ein apokalyptisches Bild von der Realität zu zeigen, in der fern von unserem Mitgefühl Zeitgenossen vegetieren. Alain Platel gab uns mit Estamira, wie zuvor schon der Filmemacher Marcos Prado, eine Erlöserfigur, und zwar eine Erlöserfigur, die mit Gott hadert, ihn auch des Bösen beschuldigt. Wie glaubhaft kann eine Holzfigur am Kreuz sein, angesichts einer Figur wie Estamira? Wenn es ums Überleben geht, ist uns diese Frau um ein Vielfaches überlegen. Wer hätte die Kraft, ihren Platz einzunehmen?

Der artifizielle Ansatz aller Handlungen, aller Sprache, allen Gesangs transzendierte das Dokumentarische ins Universale. So wurden Tänzer zu Gedanken, zu Tieren, zu Bestien, zu Brüdern und Schwester. Am Ende im Gesang vereint, fand sich die Schar der vermeintlich Ausgestoßenen in einer wahrhaften Gesellschaft wieder, die die Kontrolle über ihr Sein (zumindest für den Augenblick) zurückgewonnen hatten und die für und nicht gegeneinander standen. Das war eine schöne Vision, frei von Kitsch und Sentimentalität. Mit dieser letzten Szene verarbeitete Alain Platel hommageartig auch die Erkenntnisse Fernand Delignys über Autismus und Aggression, deren Quintessenz darin besteht, dass der Frieden nur errungen werden kann, wenn das Anderssein von der Gesellschaft toleriert wird.

Das Publikum bejubelte die (zweite) Vorstellung vorbehaltlos und einhellig. Doch ehe der Applaus losbrach, mussten sich die Zuschauer, wie die Darsteller auch, aus dem Bann des Gesehenen und Gehörten lösen. Es war ein magischer Abend, der uns von der Schönheit des Unvollkommenen überzeugte. So, wie die ungewöhnliche und magische Ästhetik in den Bann schlug, rüttelten die Bilder über den wahren Zustand dieser Welt auf, ohne sie in einem platten Realismus vorzuführen. Die Inszenierung sollte ein Muss für jeden Theatergänger sein. Gratulation den Machern!

 

Wolf Banitzki

 


Tauberbach

von Alain Platel

Eine Koproduktion von Les Ballets C de la B, Münchner Kammerspiele und NT Gent zusammen mit Theatre National de Chaillot (Paris), Opéra Lille, KVS Brüssel, TorinoDanza und La Batie, Genf. Mit Unterstützung der Flämischen Regierung, der Stadt Gent, Provinz Ostflandern.

Bérengère Bodin, Elsie de Brauw, Lisi Estaras, Ross McCormack, Romeu Runa, Elie Tass

Regie und Konzept: Alain Platel

Kammerspiele Liliom von Ferenc Molnár


 

 

Und „Liliom“ zum Dritten!

Was kann einem Autor besseres passieren, als wenn sich die Kritik über seine Rolle in der (Theater- und Literatur-) Geschichte in die Haare gerät. Die Mäkler unter ihnen sind längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen und vergessen. Die Großen unter den Kritikern aber haben es ganz im Molnárschen Sinn gerichtet. Während Friedrich Thorberg als Verteidiger des, wie er meint, „Brillant-Savarin des ungarischen Lustpiels“ auftrat, wies ihm Robert Musil zudem die Rolle des Übersetzers für ein „durch Lehár verwöhntes Publikum“ zu, dem er die  Welten „Dantes, Goethes oder Beethovens“ nahebrachte. Thorbergs Urteil ist eine kraftvolle und letztgültige Verteidigung: „Die Armen im kritischen Geiste aber, die in Franz Molnár, immer noch (1957), nichts weiter sehen wollen als den witzigen Bühnenroutinier …- sie werden alsdann, steifbeinig auf und ab, im himmlischen Trottelgärtlein promenieren, Arm in Arm mit jenen, die in Nestroy zeitlebens nichts weiter als einen Possenreißer gesehen haben.“ (Aus Georg Hensel: Spielplan.)

Nach einer desaströsen Uraufführung in Budapest im Jahr 1909, trat das Stück nach der Wiener Aufführung am Theater an der Josefstadt 1912 in der Bearbeitung von Alfred Polgar einen wahren Siegeszug an. 1934 wurde das Stück von Fritz Lang verfilmt und Richard Rodgers brachte es unter den Titel „Carousel“ als Musical heraus. Allein, den Zuschlag für eine Vertonung als Oper erhielt Puccini von Molnár nicht. Aus gutem Grund: „Wenn Sie mein Stück vertonen, wird alle Welt von einer Puccini-Oper sprechen. So aber bleibt es ein Stück von Molnár.“ Über ein Jahrhundert lang erschien das Stück immer wieder auf den Spielplänen in aller Welt. In München kam es nun zum dritten Mal in sieben Jahren auf die Bühne. Am 18.01.07 hatte Christine Eders Inszenierung für das Münchner Volkstheater Premiere. Ihr gelang eine ansprechende Interpretation voller Sinnlichkeit. Florian Boesch hingegen scheiterte mit seiner am 12.03.2010 im Residenztheater aufgeführten Inszenierung weitestgehend. Es mangelte dem vordergründig philosophischen Exkurs an Fleisch und Blut. Beiden Inszenierungen war eine starke Nähe zum Realismus eigen. Am 8. März unterbreitete Stephan Kimmig dem Münchner Publikum sein Angebot der Interpretation und das Publikum feierte seine Inszenierung – zu Recht!

Wer meint, er könne in Molnárs dramatischer Vorlage eine Vielzahl möglicher Lesarten finden, der irrt. Die Geschichte spielt auf einem Vorstadtrummelplatz und die Protagonisten sind so genannte „kleine Leute“, Menschen, deren Aufstiegsmöglichkeiten sehr begrenzt sind, insbesondere dann, wenn sie nicht bereit sind, sich selbst zu verleugnen. Liliom ist so einer. Bevor es sich verbiegt, sich seinen Stolz abkaufen lässt, steigt er aus. Doch dieser Ausstieg aus den ökonomischen und sozialen Regeln hat seinen Preis. Als Julie, die den Ausstieg gemeinsam mit Liliom vollzogen hat, schwanger wird, sieht sich der Zampano in der Verantwortung. Er versucht, angestiftet vom Kriminellen Fiscur, verzweifelt einen Raub. Als der misslingt, rammt er sich die Waffe selbst in die Brust. Nach 16 Jahren Fegefeuer darf er noch einmal auf die Erde zurück, denn Selbstmörder haben in ihrem Leben nie alles gänzlich erledigt. So begegnet Liliom seiner Tochter. Er versucht sich ihr zu nähern, doch sie weist ihn ab. In Zorn geraten schlägt er sie. Einer wie Liliom kann nicht aus seiner Haut. Soweit Molnárs Geschichte.

Stephan Kimmig definierte dieses „nicht herauskönnen aus der Haut“ als soziale Determinante und klagt damit eine Gesellschaft an, die in zunehmendem Maße soziale Ungerechtigkeiten schafft, die zudem in ebenso zunehmendem Maße gesetzlich verankert werden. Was noch vor wenigen Jahren überwunden schien, zeichnet sich immer deutlicher wieder ab: Die Existenz einer Klassengesellschaft. Tatsächlich hatte sie nie aufgehört zu existieren, doch für eine kurze Zeit der sozialen Marktwirtschaft gelang es, dieses hässliche Bild zu kaschieren. Kimmigs Vorstellungen vom Stück sind klar, einfach und einleuchtend. Dennoch gelang ihm eine Inszenierung, die überzeugender war als viele vorangegangenen. Dank seiner Ästhetik traf der Betrachter nicht nur auf formale Vertreter von sozialen Schichten, sondern auch auf sensible, berührbare, verletzliche, sehnsuchtsvolle, um Liebe und Existenz ringende Individuen.

Die Bühne von Eva-Maria Bauer war so simpel wie eindrucksvoll: Ein schwarzer Bühnenraum und darin, wie ein faszinierender Planet, eine riesige Discokugel. In diesen Raum, der nicht vorgab irgendwo irgendwas zu sein, platzierte der Regisseur weiträumig sein kleines Menschenuniversum. Steven Scharf als Liliom übte Tanzschritte. Er war sich bewusst, dass seine physische Präsenz das Geschäft boomen lässt, insbesondere die jungen Mädels anzieht. Groß, sehr groß, stark und schön ist er. Das wusste auch Frau Muscat, die Besitzerin des Ringelspiels. Wiebke Puls ließ keinen Zweifel daran, dass Liliom ihr auf mehr als eine Weise dienlich war. Verwegen ausschreitend eröffnete sie einen Revierkampf. Ihr gegenüber opponierte eine berührend naive Anna Drexler (Julie) und eine streitbare und angriffslustige Marie Jung (Marie). Der Vorwurf: Liliom hatte Julie den Arm um die Hüfte gelegt. Julie, ausgestattet mit einem natürlichen Gerechtigkeitssinn, setzte sich zur Wehr. Freundin Marie, auf jedermanns Recht pochend, verteidigte sie. Die Geschichte eskalierte und als Frau Muskat sie des Platzes verwies, fühlte sich Liliom ebenfalls angegriffen. Ohne auf besondere Weise Partei ergreifend, warf er stolz seinen Job hin. Steven Scharf gab sich brutal, um sich äußerlich zu behaupten. Er war ebenso voller liebenswerter Zärtlichkeit, wenn sein Panzer aufbrach. Das geschah immer dann, wenn er sich in höchster seelischer Not befand und die Gesellschaft floh.

Das Besondere an Stephan Kimmigs Inszenierung war, dass er jedes Gefühl unmittelbar physisch umsetzen ließ. Sämtliche Darsteller arbeiteten sowohl mit Mitteln der Pantomime, wie auch mit denen des Tanztheaters. Dabei blieb es doch immer Sprechtheater. Nur selten gewann die tänzerische Choreografie überhand, beispielsweise, wenn Steven Scharf und Anna Drexler gegen das Zerrbrechen der Liebe ankämpften. Immer wieder überraschten die Darsteller in den Nebenrollen mit großartigen Momenten. Christian Löbers Wolf Beifeld, ein opportunistischer und zielstrebiger Beamter, Ehemann von Marie, offenbarte mit minimaler Gestik und Mimik die innere Zerrissenheit und das Verlorensein eines Menschen, der stets den sicheren Hafen suchte und plötzlich seiner eigenen abgründigen Ohnmacht gegenüberstand. Gelegentlich waren die Mittel auch von faszinierender Einfachheit. Als der von Wuchs eher kleine Stefan Merki den unüberwindbaren Kassierer Linzmann spielte, überhöhte man ihn durch Stelzen. Das war komisch, aber auch sinnfällig.

Überhaupt gab es viele komische Momente, ohne dass dabei die Komik die Bitternis der Geschichte zukleisterte. Vielmehr verstärkte sie das Moment der nicht stattfindenden, weil unmöglichen Erlösung. Als Steven Scharf mit der sehr männlich wirkenden Katja Bürkle, die den Fiscur gab, um die zu erwartende Beute aus dem noch bevorstehenden Raubzug spielte, entglitt ihm die Selbstkontrolle so vollkommen, dass einem das Lachen im Hals unweigerlich stecken blieb. Am Ende griff Kimmig noch in den Ablauf des Stücks von Molnár ein. Als Liliom seiner Tochter begegnete, schenkte er ihr gleich einen ganzen Stern, die Diskokugel. Doch sie ignorierte die Geste und das Geschenk, denn die Mutter hatte ihr verboten, von fremden Männern etwas anzunehmen. So wurde nicht geschlagen, sondern ein großes poetisches und trauriges letztes Bild geschaffen.

Die Darsteller zeigten herausragendes Theater und Stephan Kimmig ermöglichte es ihnen durch intelligente und künstlerisch weit greifende Spielleitung. Eine Entscheidung für diese Inszenierung fällt nicht schwer: Und „Liliom“ zum Dritten! Kimmigs Arbeit bekommt vorbehaltlos und ohne Einschränkung den Zuschlag.

Wolf Banitzki

 


Liliom

von Ferenc Molnár

Katja Bürkle, Anna Drexler, Walter Hess, Marie Jung, Christian Löber, Stefan Merki, Wiebke Puls, Steven Scharf

Regie: Stephan Kimmig

Kammerspiele Schande nach J. M. Coetzee


 

 

Apartheid und kein Ende

Der weiße, 52-jährige Literaturprofessor David Lurie lebt und arbeitet in Kapstadt. Er ist zweimal geschieden, seine einzige Tochter Lucy, sie ist lesbisch, lebt gemeinsam mit der Lebensgefährtin auf einer Farm auf dem Land. Lurie, der dem Leben weitestgehend distanziert und zynisch gegenüber steht, befriedigt jeden Donnerstag seine sexuellen Bedürfnisse bei Soraya, einer Afrikanerin, die er bei einem Escort Service bucht. Doch dann läuft ihm die junge Studentin Melanie Isaacs über den Weg und entfacht ein „Feuer der Leidenschaft“. Seine sexuelle Annäherung geschieht lediglich mit Duldung der unbedarften Partnerin. Als die Geschichte ruchbar wird, David Lurie keinerlei Reue zeigt, verliert er seine Anstellung. Er wird exemplarisch unehrenhaft entlassen. Er erkennt zwar seine Gefühle und auch seine Verfehlung, gegen die Regeln verstoßen zu haben, an, unterwirft sich aber nicht dem ideologisierten Femegericht, das exemplarisch an ihm vollzogen wird. Er versteigt sich sogar soweit, die eigene Existenz im Camusschen Sinn weitestgehend als absurd zu definieren. Doch darauf hin intervenierte sein Richter lautstark: „Wollen Sie, dass mein Leben keinen Sinn hat?“ Nachgiebigkeit ist nicht Luries Stärke.

Er kehrt Kapstadt den Rücken und geht zu seiner Tochter aufs Land. Dort muss Lurie erkennen, wie sich die Verhältnisse gewandelt haben. Der schwarze Nachbar Petrus ist inzwischen Landbesitzer geworden, hat zwei Ehefrauen und seine Wirtschaft läuft so gut, dass Lurie bei ihm aushilft. Doch dann wird die kleine Farm von drei jungen Männern überfallen und Lucy vergewaltigt. Lurie selbst wird niedergeschlagen, mit Spiritus übergossen und angezündet. Er erleidet Verbrennungen, aber auch seelische Traumatisierungen, denn Lucy weigert sich, Auskunft darüber zu geben, was ihr tatsächlich widerfahren ist. Ein Rechtssystem und eine funktionierende Strafverfolgung gibt es ohnehin nicht. Bev Shaw, eine Freundin, die eine Tierklinik betreibt und ihre Zeit vornehmlich damit verbringt, Tiere einzuschläfern, reicht Lurie helfend die Hand und gibt ihm Gelegenheit, Buße zu tun.  Als ruchbar wird, dass die Vergewaltiger aus der Familie von Petrus stammen, drängt Lurie auf Strafverfolgung. Doch dann bekennt Lucy, aus der Vergewaltigung schwanger zu sein. Sie weigert sich standhaft, das Kind abzutreiben. Begründung: „Ich bin eine Frau, David.“

David Lurie indes flieht immer wieder in seine absurd anmutende Arbeit. Er versucht, eine Oper zu komponieren, dessen Held der romantische Dichter Lord Byron ist. Ziel dieser seltsam und realitätsfremd erscheinenden Bemühungen ist die Hoffnung, dass „irgendwo aus dem Chaos von Klängen eine einzige authentische Note der ewigen Sehnsucht aufsteigen wird, wie ein Vogel“. Der Mann, der Kommunikationswissenschaften lehrte, hat längst erkannt, „dass Englisch ein ungeeignetes Medium für die Wahrheit in Südafrika ist“.

David Lurie ist verzweifelt und er ist dies umso mehr, als er erfahren muss, dass seine Tochter das Angebot von Petrus, sie zu heiraten und sie somit unter seinen Schutz zu stellen, annimmt. Sie wird damit die (Stief-)Mutter ihres Vergewaltigers. Lucy lehnt es ab, das Land zu verlassen oder wenigstens nach Kapstadt zu ziehen. Sie betrachtet ihren Kompromiss als „eine gute Ausgangsbasis für einen Neuanfang“. Dieser Neuanfang bedeutet zugleich, „von ganz unten anzufangen: (…) Ohne Papiere, ohne Waffen, ohne Besitz, ohne Rechte, ohne Würde“. Wer glaubte, die Apartheid in Südafrika hätte ein Ende gefunden, wird spätestens jetzt eines Besseren belehrt. Lurie schmettert es Petrus ins Gesicht, wenn er sinngemäß behauptet, das sie auch dann noch weitergehen wird, wenn die beiden längst nicht mehr sind.

„Schande“ oder „Disgrace“, wie der Roman des Nobelpreisträgers John Maxwell Coetzee heißt, was allerdings auch mit „Ungnade“ übersetzt werden könnte, ist erschütternd. Er spiegelt nicht nur das Dilemma eines ganzen Kontinents wieder, er verheißt ebenso dessen düstere Zukunft. Luk Perceval, tief beeindruckt vom Werk, brachte es nun auf die Bühne der Münchner Kammerspiele. Seine Inszenierung wurde vom Premierenpublikum begeistert aufgenommen. Die Begeisterung ändert aber nichts an der Tatsache, dass viel, zu viel vom Roman und seiner Komplexität auf der Strecke geblieben ist.

Die Bühnenfassung kann höchstens als Exzerpt genommen werden, das informativen und weniger aufklärenden Charakter hatte. Die Geschichte gerinnt zu einem groben Holzschnitt, welcher die subtile Kritik an den Zuständen der Postapartheid überschattet und somit die traurigen Versuche, „Recht“ durch Psychoterror und ideologischen Fundamentalismus zu schaffen, verharmlost. Der Betrachter bekommt nur eine blasse Ahnung davon, dass in der durch archaisches Stammesrecht organisierten südafrikanischen ländlichen Gesellschaft Vergewaltigung ein legitimes Mittel der Unterwerfung ist, welches auch zukünftig praktiziert werden wird. Der Tod ist in Südafrika allgegenwärtig, denn das Elend und die Unbildung der breiten Bevölkerungsschichten ist keineswegs gemindert worden.

Auf der von Katrin Brack gestalteten Bühne war eine ganze südafrikanische Gesellschaft aufmarschiert. Sie wurde von buntbekleideten, schwarzhäutigen Kostümpuppen bevölkert. Das Bild war schon ein wenig anachronistisch, denn, wie unlängst die Trauerfeierlichkeiten um Nelson Mandela zeigten, geht jeder Vorgang in Südafrika mit aufwendiger Körperlichkeit und Rhythmus einher. Hier waren die Menschen eingefroren und es stellte sich die Frage nach der Bedeutung des recht plakativen Bildes. Aus diesem Labyrinth aus menschlichen Figuren traten die Protagonisten hervor an die Rampe und agierten. Allen voran Stephan Bissmeier als David Lurie. Da es sich um eine Romanadaption handelte, hatten die Texte, das wird hier nicht zum ersten Mal beklagt, narrativen Charakter. So wurde weitschweifig erzählt, ohne dass wirklich dramatische Spannung aufkam. Zwischendrin gab es dann doch Spielszenen, die aufregten, vorwiegend wenn Brigitte Hobmeier in Erscheinung trat. Ihre Lucy war ein in sich zerrissenen Wesen, traumatisiert und, um den poetischen Begriff zu bemühen: zu Grunde gegangen. Sie erstand auch nicht wieder auf wie Phönix aus der Asche, sondern arrangierte sich unter Verzicht auf menschliche Würde. Das war entsetzlich und nur schwer auszuhalten. Marginal blieben Darsteller wie Marc Benjamin (Melanie Isaacs´ Freund), Barbara Dussler (Melanie und deren Schwester Desiree) oder auch Angelika Krautzberger (Frau Isaacs ohne erkennbare Persönlichkeit). Selbst der großartigen Annette Paulmann gelang es nicht, als Bev Shaw einen wirklich bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Wolfgang Pregler immerhin schaffte es, sich für einen Augenblick aus der vorherrschenden Einförmigkeit zu lösen, als er am Ende sein Wertesystem definierte und man den Eindruck bekam, hier hatte jemand den Fall des weißen Apartheidsystems schlichtweg verpennt. Die Verkörperung des Familienoberhauptes der Isaacs entbehrte nicht einer gewissen Komik und erklärte zugleich die Apathie Angelika Krautzbergers in der Rolle der Ehefrau.

Wer den Roman aufmerksam gelesen oder auch in Percevals Inszenierung zugehört hatte, dem blieb die Häufung der testamentarischen Namen nicht verborgen. Isaacs und David, aber auch Petrus, für Jesus der Fels, auf dem er seine Kirche errichten konnte, kamen vor. Der Vergewaltiger Lucys hieß Pollux. Pollux, griechisch Polydeukes, war einer der Dioskụren (Zeussöhne). Tatsächlich ließ der aus der einstigen Niederländischen Kolonie Surinam stammende Felix Burleson als Petrus keinen Zweifel daran, dass die künftige Welt nach seinen Vorstellungen gestaltet werden würde. Sein physischen Präsenz und seine Stimmgewalt waren bemerkenswert. Die 1989 in Uganda geborene Lorna Ishema verlieh der Inszenierung durch ihre Darstellung der Soraya einige Authentizität in Fragen des Umgangs mit den schwarzen Frauen in Südafrika, durch ihre Darstellung der Ehefrau Petrus´ auch ein wenig Glanz. Aron Amoatey als der von Lurie angeklagte jüngste Sohn von Petrus befriedigte mit einem Ausbruch afrikanischen Temperaments eher die die ethnokitschigen Vorurteile der Weißen.

Nein, die Inszenierung überzeugte angesichts der großartigen Romanvorlage nicht. So galt der Premierenapplaus eher der gewaltigen Geschichte von J. M. Coetzee, die Luc Perceval ohne nennenswerte Bei- oder Zugaben als Light Version auf die Bühne brachte. Den Zuschlag bekommt also in diesem Fall unbedingt der Roman.

 

Wolf Banitzki

 

 


Schande

nach J. M. Coetzee

Aaron Amoatey, Marc Benjamin, Stephan Bissmeier, Felix Burleson, Barbara Dussler, Brigitte Hobmeier, Lorna Ishema, Angelika Krautzberger, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler

Regie: Luk Perceval

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