Kammerspiele Maria Stuart von Friedrich Schiller


 

 

Theatralische Punktlandung

Andreas Kriegenburg fungierte auch in dieser Inszenierung wieder in Personalunion als Regisseur und Bühnenbildner. Er schuf für das hochkomplexe Historiendrama, das Schiller mit „Trauerspiel in fünf Aufzügen“ unterschrieb, einen Guckkasten-Kerker, der je nach Licht, zwei Spielorte bezeichnete. Es war der dunkle, quälende Kerker Maria Stuarts, in dem sie physisch gefangen war und auf ihre Hinrichtung, von der englischen Justiz längst beschlossen, wartete. Derselbe Raum war, in gleißendes, unbarmherziges, alle Regungen entblößendes Licht getaucht, auch das Gefängnis der Elisabeth, die als Repräsentant und Souverän des englischen Volkes nicht minder gefangen war in religiösen, staatspolitischen und moralischen Zwängen.

Es war immerhin bereits das zweite Mal, dass Elisabeth I. um ihr Leben fürchten musste. Schon ihre Schwester Maria Tudor (auf sie geht die Bezeichnung „Bloody Mary“ zurück), erste Königin auf Englands Thron, hatte in der noch blutjungen Schwester eine Bedrohung ihrer Rekatholisierung des Landes gesehen und sie in den Tower von London sperren lassen. Elisabeth musste unbedingt um ihr Leben fürchten. Das musste sie auch angesichts des Herrschaftsanspruchs ihrer Cousine Maria Stuart, katholische Königin von Schottland, deren Hände bereits mit dem Blut ihres Ehemanns besudelt waren. Als es in Schottland zum Bürgerkrieg kam, floh sie nach England, wo sie nicht nur um Asyl nachkam, sondern auch klammheimlich die Übernahme der Krone betrieb. Dies sollte mit Hilfe der katholischen Opposition in England, aber auch mit Verbündeten aus Spanien geschehen. Maria Stuart war für die Königin eine reale Gefahr und ihre Hinrichtung, die sie sich durch umstürzlerische Intrigen „redlich verdient“ hatte, wäre ohne viel Aufheben geblieben, hätte Elisabeth ihre eigenen, sehr menschlichen Skrupel überwinden können. Dass und wie der Vollzug des Urteils stattfand ist echtes Weltbühnentheater.

Schillers Drama, mit allen Facetten der Historie aufgeladen, ist fraglos ein großes Drama voller Aktualitäten, die man jedoch nicht einfach herausstellen kann, ohne dem Werk damit Gewalt anzutun. Andreas Kriegenburg vermied klugerweise jegliche Anspielung auf die heutige Realität, die sich, da eine der wesentlichen Triebfedern der Geschichte der unerbittliche und auch fanatische Kampf zweier Religionen ist, ohnehin aufdrängte. Vielmehr schuf er ein sehr menschliches Kammerspiel, in dem die Psychologie der Figuren, ihre Motive, ihre Sehnsüchte, auch ihre sexuelle Begierden sichtbar wurden. Dass diese Lesart nicht nur legitim, sondern auch naturgemäß sein kann, zeigt einer der ersten Kommentare, abgegeben noch vor der Uraufführung des Stückes am 14. Juni 1800 (Regie: Friedrich Schiller) von keinem geringeren als Goethe: „Mich soll nur wundern, was das Publikum sagen wird, wenn die beiden Huren zusammenkommen und sich ihre Aventuren vorwerfen.“ (nach Friedrich Schlegel) Das Weimarer Publikum war begeistert und das Münchner Publikum in den Kammerspielen war es auch. Dabei bewies Kriegenburg viel Mut, als er konsequent nicht nur auf den (stark verkürzten) Schillerschen Text setzte, sondern auch dem Vers auf dem Fuß folgte, dem fünfhebigen Jambus. Dass der Blankvers auch heute noch bestens funktioniert, zeigte bereits die „Nathan“-Inszenierung eine Woche zuvor am Volkstheater.

Mit Brigitte Hobmeier als Maria und Annette Paulmann als Elisabeth waren die beiden Protagonistinnen wahrlich königlich besetzt. In ihrem historischen, gelbgoldenen Kostüm (Andrea Schraad) schien Anette Paulmann unantastbar und auch unerschütterlich zu sein. Ihr Umgang mit den Lords, sämtlich mit schwarzen Anzügen uniformiert und mit protestantischer Halskrause, wie man sie von nordischen Geistlichen kennt, war bestimmt, staatsmännisch und souverän, selbst in Momenten, in denen Gefühlsstürme in ihr tobten. Erst am Ende, als sie sich selbst von ihrer „Schuld“ freizusprechen versuchte, brach die königliche Fassade auf. Brigitte Hobmeier agierte hingegen völlig gegensätzlich. Sie kehrte alle Gefühle nach außen, glich nicht selten einem gehetzten Tier, und hatte schließlich doch ihren königlichen Moment, als sie in der „Parkszene“ ihrer demütigenden Kontrahentin gegenüber und im Regen stand, ihren Anspruch auf die Krone herausschrie.

Obgleich in der äußeren Erscheinung weitestgehend uniformiert, gelang es den männlichen Darstellern, ausgefeilte Charaktere zu skizzieren. Jochen Nochs Wilhelm Cecil war die starke Hand im Staat. Unerschütterlich setzte er seine, dem Kalkül des politischen Pragmatismus folgenden Entscheidungen um und durch. Der von Wolfgang Pregler gespielte Georg Talbot war loyal und stets auf das Wohl der Königin bedacht. Bis zum letzten Augenblick kämpfte er um das Leben Marias. Er erlaubte es sich am Ende durchaus glaubhaft, seiner Monarchin nicht zu vergeben und ihr den Dienst aufzukündigen. Oliver Mallisons Robert Dudley war der eigentliche Bösewicht im Spiel. Rückgradlos, verräterisch mit den Gefühlen beider Frauen spielend, blieb er bis zuletzt auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Ihm galt auch der letzte Satz im Stück, nachdem er sich wimmernd davon gemacht hatte: „Der Lord lässt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich.“ Ihn machte Andreas Kriegenburg auch noch zu einem feigen Mörder, in dem Dudley den jungen, durch papistischen Glauben fanatisierten Mortimer (Max Simonischek) vergiftete. Mortimer, der die Befreiung Marias betrieben hatte, richtete sich bei Schiller selbst mit dem Dolch, nachdem sein Plan gescheitert war.

Andreas Kriegenburgs Inszenierung war kein verstaubtes Historiendrama, den Klassiker ehrend und tötend. Es war ein Psychodrama und ein Gesellschaftskrimi, gänzlich frei von Eitelkeiten oder Manierismen. Ästhetisch gelungen, gradlinig und übersichtlich erzählt gab es weder Längen, noch peinliche Plattitüden. Es war, wie man so schön sagt, eine gelungene Punktlandung und somit ein echtes Plädoyer für die deutsche Klassik, die immer noch ihren theatralischen und moralischen Wert hat. Es gab lang anhaltenden Applaus und viele Bravos für die Darsteller und für die Regie.

 

Wolf Banitzki

 


Maria Stuart

von Friedrich Schiller

Walter Hess, Brigitte Hobmeier, Oliver Mallison, Jochen Noch, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, Max Simonischek, Edmund Telgenkämper, Vincent zur Linden

Regie: Andreas Kriegenburg

Kammerspiele Exiles von James Joyce


 

Ein skurriles Panoptikum menschlichen Verhaltens

James Joyce’s Literatendasein begann mit der Selbstbehauptung, dass er ein Literat sei, und zwar einer, der die Welt verändern werde. Zeitgenossen nahmen den anmaßenden und schrulligen Gesellen kopfschüttelnd zur Kenntnis. Dennoch, die literarische Welt hat er verändert, spätestes mit seinem Roman „Ulysses“. Die wichtigste Person in seinem Leben, seine Ehefrau Nora Barnacle, gab allerdings nicht allzu viel auf sein Gerede. Sie vertrat die Ansicht, ihr lieber James wäre besser Sänger geworden. Dem Maler Frank Budgen gegenüber äußerte sie: „Mein Mann schreibt ein Buch, aber ich sage Ihnen, das Buch ist ein Schwein.“ Joyce war entsetzt: „Sie macht sich nichts aus meiner Kunst“, schrieb er verzweifelt an seinen Bruder Stanislaus.  Freund Budgen ließ er wissen: „Du hast Verständnis, du kannst erkennen, dass ich eine Art Persönlichkeit bin. Ich übe eine bestimmte Wirkung auf die Leute aus, die mit mir in Berührung kommen, mich kennen und meine Freunde sind. Aber die Persönlichkeit meiner Frau ist gegen jeden Einfluss meinerseits völlig gefeit.“

Der Ausspruch Noras stammte aus der Zeit des Aufenthalts in Zürich während des ersten Weltkriegs, nachdem die beiden bereits mehr als zehn Jahre miteinander leiert waren. Es war auch die Zeit, in der das Stück „Verbannte“ entstand. Dieses Ehedrama hat durchaus autobiografische Züge und geht auf das Jahr 1904 zurück, in dem sich James und Nora kennen und lieben lernten. Als Joyce 1909 in Dublin weilte, hinterbrachte man ihm, sein Freund Vincent Cosgrave, der ebenfalls um Nora geworben hatte, wäre auch nach ihrem Bekenntnis zu Joyce noch ihr Liebhaber gewesen. Joyce, Arno Schmidt nannte ihn den „Mann mit dem Hahnrei-Komplex“, stürzte in eine tiefe Krise. John Francis Byrne, ein Jugendfreund, berichtete, er habe noch nie „ein menschliches Wesen schlimmer zerrüttet gesehen, (Joyce) weinte und stöhnte und gestikulierte in sinnloser Schwäche“. Joyce selbst meinte: „Ich bin in absurdem Grade eifersüchtig auf die Vergangenheit.“ (21. August 1909) Am Tag darauf fordert er in einem weiteren Brief: „Noch schwelt die Eifersucht in meinem Herzen. Deine Liebe zu mir muss stürmisch und gewalttätig sein, um mich völlig vergessen zu machen.“

In „Verbannte“ versucht Joyce die Problematik literarisch zu überwinden. Es handelt sich dabei nicht nur um ein Ehedrama, sondern um den Versuch, einen tauglichen Ansatz für den Umgang mit dem Treuebruch zu finden. Eingedenk der Tatsache, dass ‚die Sünde erst mit dem Gesetz in die Welt kam‘ (Paulus), glaubte Joyce in einer Welt der Unaufrichtigkeit und der Bigotterie an die unbedingte Offenheit und Aufrichtigkeit in einer Beziehung. Weiß Mann oder Frau erst um den „Fehltritt“ oder den „Ehebruch“ des Partners, wird man ihn oder sie erkennen/verstehen und auf besondere (im Sinne einer neuen Qualität) Weise lieben können. So sehr sich Joyce, der psychische Krisen anzog wie Licht die Motten, auch nach einem schmerzfreieren Umgang mit der Problematik sehnte, er selbst blieb der beste Beweis des naturgemäßen Scheiterns. Immerhin, der Versuch war es wert.

Das Drama erlebte 1919 seine Uraufführung an den Münchner Kammerspielen. Jetzt brachte Regisseur Luc Perceval das Stück in einer durch ihn, dem Ensemble und den Dramaturgen Jeroen Versteele erarbeiteten Fassung erneut auf die Bretter des traditionslastigen Hauses. Perceval, der 2009 mit einer eigenen Lulu-Fassung in den Kammerspielen für heftige Diskussionen sorgte, ist einer der ambitioniertesten Theaterkünstler unserer Zeit. Seine Inszenierungen spalten und polarisieren, werden gefeiert und geschmäht. Es sind stets hochartifizielle Geschichten, in denen das (geschriebene) Drama häufig zu Gunsten einer eigenwilligen Ästhetik in den Hintergrund tritt. So auch im Fall von „Exiles“ wie das Joyce-Drama im Original heißt. Zum Stück meint Luc Perceval: „Es ist wie ein Thriller geschrieben, als eine spannende Reihe von Begegnungen zwischen Menschen, die ein gefährliches Spiel miteinander treiben.“ (Programmheft)

Percevals Inszenierung zielte genau auf diese Momente des gefährlichen Spiels. So blieb der große Rahmen der Vorlage auch recht undeutlich. Darum sei dem Besucher empfohlen, sich vorab über den Inhalt des recht faden Konversationsstückes zu informieren. Bereits das Bühnenbild von Katrin Brack entschlüsselte sich nicht automatisch. Es wurde von einem übergroßen Porträt eines Vorstehhundes dominiert. Das Bild resultierte nicht aus dem Text, sondern aus der Tatsache, dass während der Proben die Hunde der Darsteller anwesend waren. Perceval bemerkte, wie anders die Tiere auf die Vorgänge reagierten und erkannte den Kontrast. So war der Schritt, einen Hund auf die Bühne zu bringen, naheliegend und tatsächlich war dieser Kontrast zwischen dem (scheinbar wissenden und erkennenden) Blick des Hundes und den Vorgängen unübersehbar.

Das Besondere an der Ästhetik Percevals dieser Inszenierung war vornehmlich der Umgang mit der Zeit. Die wurde bis an die Schmerzgrenze gedehnt. Scheinbar endlose Pausen lagen zwischen den Reaktionen und den Sätzen der Darsteller. Handlungsarmut erklärte Entscheidungsunfähigkeit, aber auch Ängste. Es war ein ständiges Lauern, ein Belauern, ein Abwarten, ein Aussitzen. Doch die Konflikte eskalierten, mussten eskalieren, so sah es das Stück vor. Und wenn es zu emotionalen Ausbrüchen kam, dann wurden sie in endlosen Wiederholungen herausgeschrien. Alle Vorgänge gerieten unnatürlich, das „normale“ menschliche Verhalten blieb aus, erlag einer geplanten und organisierten Diskontinuität und ermöglichten in einigen Situationen Blicke hinter die scheinbar schützenden Fassaden.

Bei Joyce werden als Handlungsorte der Salon des Schriftstellers Richard Rowan und das Cottage des Journalisten Robert genannt. In Percevals Inszenierung wurde auf konkrete Orte gänzlich verzichtet, wodurch die Handlung in eine Schwebe geriet. Sie blieb unverortet. Den Schriftsteller Richard spielte Stephan Bissmeier leise und sparsam. Seine stärksten Momente waren die Augenblicke der Verunsicherung, die der intellektuelle Richard sichtlich bemüht zu verbergen suchte. Das war nicht leicht, denn seine Ehefrau Bertha, gespielt von Sylvana Krappatsch, ließ ihm nicht viel Spielraum, taktierte ebenso gerissen, wie er sie zu führen versuchte. Der Journalist Robert, der seinem Freund Richard, dessen Frau er heiß begehrte,  zu einem Lehrstuhl verhelfen wollte, gab in der Kammerspielinszenierung eine grotesk-komische Figur ab. Kristof Van Boven, zu einem „dicken, alten Mann“ aufgepolstert, kaufte man den erfolgreichen Womanizer nur schwerlich ab. Doch das muss in der Intention der Regie gelegen habe, sonst hätte Luc Perceval die Figur anders geführt. Der Erfolg bei den Frauen blieb bloße Behauptung. Marie Jung als Beatrice, Muse des Schriftstellers Richard und Cousine und Ex-Geliebte Roberts, verlor sich im Kontext der (nicht oder kaum) erzählten Geschichte. Sie blieb unentschieden, wie beinahe alle anderen Rollen letztendlich auch. Immerhin bekannte sich Bertha nach den heftig geschlagenen Schlachten zu ihrem Mann. Hier deckte sich die Geschichte mit der von Joyce und Nora.

Es gab allerdings noch den Sohn der Familie Rowan, Archi, der in Percevals Inszenierung zwar stumm blieb, aber dennoch einen gehörigen Beitrag leistete. Dank Dine Doneffs musikalischer Begleitung auf dem Kontrabass entstanden spannungsvolle Momente, die über die Zähigkeit der Vorgänge hinweg trugen.  

Es steht außer Frage, dass auch diese Inszenierung Percevals nicht zum Amüsement des Besuchers entstanden ist, sondern um eine durchaus aktuelle Problematik zu diskutieren und die vielleicht so etwas wie eine Katharsis im Auge hatte. Allerdings verstieg sich Perceval auch in dieser Inszenierung in derart artifizielle Regionen, dass es dem Zuschauer kaum möglich war, mit den Figuren zu fühlen. Es gab kaum emotionale Verbindlichkeiten und blieb somit ein skurriles Panoptikum menschlichen Verhaltens in Situationen, die beinahe jeder Zeitgenosse kennt.  

Wolf Banitzki

 


Exiles    
von James Joyce

Stephan Bissmeier, Dine Doneff, Marie Jung, Sylvana Krappatsch, Kristof Van Boven

Regie: Luk Perceval

Kammerspiele Geschichten aus dem Wiener Wald von Ödön von Horváth


 

 

Die Gesellschaft erodiert im Walzerschritt

Am Tag ihrer Verlobung gibt sich Marianne, Tochter des Zauberkönigs, wie sich der Scherz- und Zauberartikelhändler selbst nennt, hin. Doch nicht ihrem Verlobten, dem tumben Metzger Oskar, sondern dem Spieler und Gigolo Alfred. Der Akt hat Folgen. Die Verlobung platzt, Marianne wird verstoßen und schwanger. Das Zusammenleben der beiden endet nach einem Jahr in einer Misere. Alfred, inzwischen Kosmetikvertreter, fühlt sich zu Höherem berufen und kehrt Marianne den Rücken. Die muss den Ihrigen in einem „international renommierten“ Varieté als „künstlerische Aktskulptur“ zur Schau stellen. Das Kind namens Leopold, nach dem ablehnenden Großvater benannt, wird zu Alfreds Mutter in die Wachau abgeschoben, wo es von der garstigen Großmutter weiterbefördert wird, nämlich zum Herrgott. Als Marianne, einer böswillige Verleumdung zur Folge, wegen des Verdachts auf Diebstahl ins Untersuchungsgefängnis muss, ist sie endgültig gebrochen und kehrt in die Metzgerarme Oskars zurück. Ihren Vater, den Zauberkönig, ereilt ein Schlaganfall, als er vom Tod des Enkels erfährt, den er gerade akzeptieren gelernt hatte und auf den er sich ehrlich freute.

Stephan Kimmig inszenierte das emotionsüberfrachtete Rührstück distanziert und mit dem kühlen Blick des Analytikers. Er vermied dabei jeglichen Befindlichkeitsausdruck, überhöhte die Szenen mimisch artifiziell und ließ seine Akteure sprechen, als führten sie keine Dialoge sondern permanente Selbstbehauptungen. Bereits beim Betreten des Foyers wurde der Besucher mit Walzerklängen und tanzenden Senioren empfangen. Was anfangs mit Verblüffung und Belustigung registriert wurde, schlug bald in quälende Belästigung um. Als sich endlich der eiserne Vorhang zur Vorstellung hob, die Walzerklänge verstummten, ging ein Aufatmen durch die Reihen. Doch Regisseur Kimmig beließ es nicht bei dieser seltsam anmutenden Introduktion, sondern verfolgte sein Konzept, die Handlung in rhythmischen und auch arhythmischen Tanz zu transferieren, konsequent. Sichtbar wurde die innere Zerrissenheit der einzelnen Figuren, wenn sie sich bemühten im Rhythmus der Masse zu verbleiben. Doch immer wieder schlugen ihre Bemühungen fehl und sie verfielen in spastisch anmutende Bewegungen.

Katja Haß hatte die Bühne mit einem hölzernen Tanzboden versehen, der drehbar war und der an die ärmlichen „Tanzpaläste“ erinnerte, in denen sich das Volk billig amüsierte. Die Musik, so verbissen sie auch Harmonie einzufordern versuchte, konterkarierte die auszutragenden Konflikte. Der Vater verstieß „wegen der Moral“ die Tochter; der egoistische, hypertrophe Mann verriet die vorgeblich geliebte Frau; die bösartige Großmutter stellte den Säugling jede Nacht in den kalten Durchzug, bis dieser endlich am Fieber verstarb. Doch am Ende entstand wieder so etwas wie eine heile Welt, eine Welt aus Bigotterie und der gnadenlosen Unterdrückung eines individuellen Glücksanspruchs. Oskar, proper-blöde von Stefan Merki gespielt, sollte Recht behalten, als er Marianne drohte: „Du entgehst meiner Liebe nicht!“ Am Ende resignierte sie und offenbarte schlicht: „Ich kann nicht mehr.“ Sie hatte das für sie arrangierte Ziel erreicht. Der Rest war Grauen.

Stephan Kimmigs Inszenierung brach radikal mit einer scheinbar unausweichlichen Gefühlsduselei, die zweifelsohne unterhaltsam sein kann, sich in bestem Wiener Schmäh ergeht und dabei in der Wirkung über ein ehrliches Schaudern nicht hinaus gelangt. Kimmigs Sicht war existenzieller und endgültiger. Wenn Peter Brombacher in seiner lächerlichen Verkleidung als Großmutter das Lied von der Wachau sang, säuerte der Heurige und ätzte den Lack von der bürgerlichen Fassade. Ausbrüche wahrhaftigen Mitgefühls nahmen zerstörerische Züge an. So brach Sylvana Krappatsch als Valerie unter dem Druck der verdrängten Emotionen schlichtweg zusammen. Doch ihre Auferstehung führte sie schnell zurück in die bürgerliche Scheinwelt, in der sie durchaus einen Preis hatte und den sie auch lebensgierig einforderte. So kehrte die verwelkende Schönheit der Wahrheit, die sie gerade noch so unbarmherzig gefällt hatte, den Rücken. Man muss ja schließlich irgendwie weiterleben...

Max Simonischeks Alfred war die erbärmlichste Figur im kleinbürgerlichen Panoptikum. Seine pseudophilosophischen Argumente sind selbst heute durchaus modern und zeitgemäß, wenn es darum geht, eine parasitäre Lebensform zu begründen. Charakterlosigkeit war, ist und bleibt die Basis einer wohlfeilen Gesellschaft, die für alles einen Preis berechnen kann. Beim Rittmeister hingegen fanden sich noch rudimentäre Moralvorstellungen. Jochen Noch spulte sie geradezu mechanisch ab, als könnte er sich gegen diese Relikte vergangener Zeiten nicht erwehren. Wolfgang Preglers Zauberkönig indes nahm groteske Züge an, wenn er über den frühen Tod seiner Frau, über die feindlichen ökonomischen Bedingungen oder den tiefen Fall seiner Tochter in Larmoyanz verging. Anna Drexlers Spielgestus war ebenso distanziert wie Stephan Kimmigs gesamte Sicht auf das Stück. Sie verdeutlichte dem Publikum, dass es sich bei ihr nicht um ein zutiefst unglückliches Mädchen handelte, sondern um eine Schauspielerin, die die Geschichte von einem unglücklichen Mädchen darstellerisch und nicht ohne Komik erzählte.

Das war bestes episches Theater, stark verfremdet und gut funktionierend. Der Blick der Zuschauer blieb (von Tränen des Mitgefühls) ungetrübt und die Botschaft war darum umso radikaler: Die Welt findet im Wiener Wald statt; der Wiener Wald ist die Welt, und zwar hier und heute. Der allgemeine Rückzug in die Egomanie beginnt endlich gesellschaftliche Früchte zu tragen. Die Gesellschaft erodiert im Walzerschritt. Selbst Auslassungen über die „Naturgesetzlichkeit“ von Kriegen kann man in der heutigen Situation nur schwerlich widersprechen. Die Argumente gehen uns langsam aus. Das war, vielleicht auch wegen der momentanen weltgeschichtlichen Situation, eine neue Qualität. Das Publikum nahm diese schmuck- und emotionslose Inszenierung (2. Vorstellung) geradezu euphorisch an und lobte mit vielen Bravos. Und das gewiss nicht ohne gute Gründe!

 

Wolf Banitzki

 


Geschichten aus dem Wiener Wald

von Ödön von Horváth

Peter Brombacher, Anna Drexler, Sylvana Krappatsch, Stefan Merki, Jochen Noch, Wolfgang Pregler, Max Simonischek, Jeff Wilbusch, Joachim Wörmsdorf

Regie: Stephan Kimmig

Kammerspiele Warum läuft Herr R. Amok? von R.W. Fassbinder und Michael Fengler


 

 

Viel Realismus im unrealistischen Spiel

Der Titel des Films von R.W. Fassbinder und Michael Fengler, wie auch der Titel des Stückes, das in der Regie von Susanne Kennedy am 27. November an den Münchner Kammerspielen Premiere hatte, ist ein Frage. „Warum läuft Herr R. Amok?“ In zwei Stunden und zehn Minuten sezierte Susanne Kennedy das Leben des in einem Architekturbüro arbeitenden Herrn Kurt Raab. Der Filmdarsteller war übrigens kein Geringerer als der Schauspieler gleichen Namens.

Der Mann, der zu Dickleibigkeit neigt, ist in jeder Hinsicht durchschnittlich und unauffällig. Seine Familiensituation, er hat eine hübsche, blonde Frau und einen wohlerzogenen Sohn, ist nach außen hin, von unbedeutenden Schönheitsfehlern abgesehen, geradezu vorbildlich. Doch der Schein trügt. Den allgegenwärtigen Anpassungsmechanismen unterworfen, verliert sich Herr Raab mehr und mehr, zieht sich immer weiter zurück und wird zunehmend stiller. Er spürt, dass er den Anforderungen seiner Familie und seines Chefs nicht gerecht wird. Die Kritik eskaliert, als er bei einer Betriebsfeier seinen Chef mit den lautersten Vorsätzen nötigten will, „Bruderschaft“ mit ihm zu schließen. Schließlich ging es ihm nur um die „freundliche Atmosphäre“ im Unternehmen. Seine Frau: „Hast du gar kein Interesse, befördert zu werden? (…) Je älter du wirst, umso dümmer wirst du und fetter. Die Nachbarn reden schon…“ Das Leben wird Herrn Raab schleichend, aber unaufhaltsam zur Hölle und am Ende seines Weges steht, keineswegs überraschend, die Katastrophe.

Nachdem Susanne Kennedy mit „Fegefeuer in Ingolstadt“ von Marieluise Fleißer in der vergangenen Spielzeit einen triumphalen Erfolg feiern konnte, die Inszenierung wurde aus vielen guten Gründen zu den „Berliner Theatertagen“ eingeladen, ließ sie sich von dem Fassbinder/Fengler Film zu einer weiteren Arbeit inspirieren, in der eines nahezu identisch mit der vorangegangenen Arbeit war: die Ästhetik. Das Bühnenbild von Lena Newton atmete den Charme eines überdimensionalen Kaninchenstalls. Der Raum, eine klassische Guckkastenbühne, war gänzlich mit Holz ausgekleidet, ein bevorzugter Baustoff zur Herstellung deutscher Gemütlichkeit in den 70er und 80er Jahren. Szenenwechsel wurden realisiert, indem ein Vorhang herabgelassen wurde, auf den ebenfalls ein gänzlich mit Holz ausgeschlagener Raum projiziert wurde. Darin fanden minimalistische Szenen, wie das Gießen einer Blumen oder das Hereinbringen eines Stuhls statt, Szenen die mit den Vorgängen innerhalb des Guckkastens korrespondierten. Eine computergenerierte Stimme bezeichnete die Handlungsorte der nachfolgenden Szene: Im Wohnzimmer, im Auto, im Büro....

Die Protagonisten des Spiels waren mit Masken ausgestattet, die im Ausdruck durchaus an Cartoon-Figuren von Loriot erinnerten. Körperlich fast bewegungslos wurden die Texte gesprochen, gestammelt, gebrabbelt, unterstützt von Posen oder befremdlichen Blicken. Bei Kenntnis der Arbeiten von Frau Kennedy fällt ein Wirkprinzip ins Auge, das den üblichen und nicht minder erfolgreichen Theaterästhetiken konträr entgegen steht.

Susanne Kenndy arbeitet mit extremen Mitteln der Verfremdung. An erster Stelle sind die Gesichtsmasken zu nennen, hinter denen nur die Augen und der Mund sichtbar waren. Hinzu kam ein nahezu statuarisches Spiel, das das gesprochene Wort extrem in den Vordergrund stellte. Die Sprache war, genau wie das körperliche Spiel, in beachtlichem Maß entschleunigt. Doch nicht genug damit, eine weitere Entfremdungsstufe wurde erreicht, indem die Texte Playback eingespielt wurden und die Darsteller nur vorgaben, sie zu sprechen. Mehr Verfremdung ging nicht. Doch die Wirkung war ungeheuerlich, denn es stellt sich beim Betrachter ein Unbehagen ein, das ihn sensibilisierte für die Semantik der Sprache und des Spiels und ihn (unfreiwillig) zu einem Oszillographen machte. Wem es da nicht gelang, sich auf die Geschichte einzulassen und somit zum Mitspieler zu werden, ging durch einige Höllen. Bewusst provozierte Langsamkeit wurde quälend, obgleich diese Inszenierung eine Vielzahl entsetzlich-komischer Momente beinhaltete. Einige (sehr wenige) Zuschauer hatte es bedauerlicherweise aus dem Raum getrieben. Ja, Theater ist manchmal nicht nur anstrengend, es kann auch dazu führen, dass man sich selbst nicht aushält.

Das „Wirkprinzip Kennedy“ ist in jedem Fall äußerst effektiv. Selten wurde auf der Bühne mit einem so radikalen Minimalismus ein so effizientes Verstehen, ein geradezu sinnliches Begreifen provoziert. Der Erklärung, warum Herr R. Amok lief, war nichts mehr hinzuzufügen.

Erstaunlich waren auch die schauspielerischen Leistungen, der nahezu unsichtbar gebliebenen Darsteller. Sie spielten in schnellem Wechsel viele unterschiedliche Rollen, wobei jeder in beinahe jeder Rolle (seines Geschlechts) auftrat. Es waren vornehmlich die kleinen Gesten, mit denen sie sich zu erkennen gaben. Christian Löbers Amadeus war kindlich-komisch, nie kindisch-albern. Walter Hess steuerte, sowohl als Kollege von Herrn R. als auch in der Rolle des Vaters, mit seiner feinen Gestik und seinen Posen enorm viele schlüssige Kommentare zur emotionalen Verrohung von Herrn R. bei. Dieser wurde hauptsächlich von Edmund Telgenkämper gestaltet, dessen gehetzte Schweigsamkeit sich über seine physische Stärke zunehmend zu einer durchaus sichtbaren Bedrohung auswuchs. Anna Maria Sturm und Çiğdem Teke waren verantwortlich für das sinnentleerte Geschwätz der Ehefrau oder der Freundinnen, für das tumbe Dasein zweier Plattenverkäuferinnen oder die Bissigkeit frustrierter Frauen, die das Fass letztlich zum Überlaufen brachten. Die Inszenierung erzählte eine bitterböse Geschichte mit viel Verständnis für die menschliche Kreatur, aber auch mit einer seltsamen Lakonie, die uns das (mitfühlende) Grauen vom Leib hielt. Es steckte erschreckend viel Realismus in diesem unrealistischen Spiel.

Es war in jeder Hinsicht gelungenes und großartiges, hochartifizielles Theater, sehr anspruchsvoll und unterhaltsam zugleich. Es bleibt allerdings zu hoffen, dass das „Kennedy-Prinzip“ nicht irgendwann zur Manier verkommt. Die Wege, die die noch junge Regisseurin beschritten hat, können sie in viele verheißungsvolle Richtungen weiter führen. Möge sie nie der Mut verlassen, auch zukünftig radikale Wendungen zu vollziehen.

 

Wolf Banitzki

 


Warum Läuft Herr R. Amok?

von R.W. Fassbinder und Michael Fengler

Kristin Elsen, Walter Hess, Christian Löber, Sybille Sailer, Anna Maria Sturm, Çiğdem Teke, Edmund Telgenkämper, Herbert Volz

Regie: Susanne Kennedy

Kammerspiele  Die Neger von Jean Genet


 

 

Welche Farbe hat Rassismus?

Sein Werk ist ohne Einschränkungen „politisch inkorrekt“. Es ist pure Provokation. „Ich will zunächst, dass mich die Menschen verachten“, schrieb Jean Genet im „Tagebuch eines Diebes“, eines der „widerlichsten und erschütterndsten Bücher unseres Jahrhunderts“, wie Georg Hensel bemerkte. 1948 durch Fürsprache von Cocteau, Sartre und Gide von einer lebenslangen Gefängnishaft verschont geblieben, gelang es nur unter Mühen, Genet davon abzuhalten, sich in einem Radiointerview über die unangemessene Milde gegen seine Person zu beschweren, die „den Verbrecher des Erlebnisses seiner Haft beraubt“.  Genet verstand sich als die Erfüllung dessen, was ihm die Gesellschaft abverlangte: Die Vollendung des absolut Bösen. Darauf bestand er mit Stolz.

Es war gerade dieser Ansatz, den Genet wählte, als er 1957 „Die Neger“ schrieb. Die Botschaft: Seid Neger! Seid es mit allen Konsequenzen und erfüllt alle Vorbehalte, Klischees und Mythen, die man euch nachsagt und die ihr selbst in euch tragt. Genet war unmittelbar inspiriert von der 1954 an der Goldküste aufgezeichneten Dokumentation „Les Maîtres Fous“, in dem Schwarzafrikaner Weiße spielen und mittels Tötung eines Hundes einen Exorzismus praktizieren. Kennt man diese Dokumentation, ist der Einstieg in die „Clownerie“ Genets wesentlich unproblematischer. So verstörend der Film auch sein mag, er ist auf faszinierende Weise nicht mehr und nicht weniger als ein Spiegel, der der weißen Rasse vorgehalten wird. Rassismus wird verblüffend real. Man riecht den Schweiß und das Blut, dass Weiße vergossen haben, um sich ihren heute noch existierenden fundamentalen Reichtum schaffen zu lassen. Genet war nicht nur erklärter Anhänger von Befreiungsbewegungen wie der PLO oder den Black Panthers, aber auch der RAF, er war auch Befürworter der denkbar radikalsten Methoden.

Die Handlung des Stücks ist ein Spiel, eine rituelle Veranstaltung oder ein Theater. Die Grundsituation: Schwarze spielen für im Zuschauerraum sitzende und auf der Bühne agierende Weiße einen Lustmord an einer weißen Frau. Sie fordern ein Tribunal ein, das sie für ihre Taten aburteilen soll. Dieses Tribunal besteht aus einer Königin, einem Gouverneur, einem Richter, einem Missionar und einem Diener. Alle tragen Masken, die nur unzureichend kaschieren können, dass es sich bei den Spielern um Schwarze handelt. Der Tanz um den weißen Leichnam ist schleppend, denn immer wieder müssen die Darsteller zu Ordnung, zur Handlung gerufen werden. Irgendwann allerdings entdeckt man auf der Bühne, dass es gar keine Leiche gibt und alles nur ein ekstatischer Wunschtraum war, eine symbolische Ermordung eines Weißen. Immerhin haben die Schwarzen sämtliche Erwartungen, die man gemeinhin an sie stellt, erfüllt. Nun sind die Weißen dran. Sie starten eine Strafexpedition in den Dschungel, ergehen sich in poetischen Rededuellen, werden schließlich von den Schwarzen mittels Worten gemeuchelt und ihre Leichen malerisch drapiert. Gemeinsam fahren sie in die Hölle, die sie eigens für die Schwarzen erdacht haben. Soweit die sichtbaren Vorgänge. Und die unsichtbaren:  Ein Bote verkündet, dass in der Kulisse gerade ein Schwarzer wegen eines Verrats abgeurteilt und hingerichtet worden ist. Die Schwarzen formieren sich neu zum Kampf gegen die Weißen.

Johan Simons Inszenierung beeindruckte fraglos. Geprägt war die Bühnenästhetik vom  Maskenspiel. Allerding waren die Masken vollständig gesichtslos, wiesen allenfalls einige Insignien einer gesellschaftlichen Stellung auf (Krone, Gesetzbuch). Die Verfremdung hin zur völligen Identitätslosigkeit war gespenstisch und verbreitete Unbehagen, denn man bekam kaum Kenntnis von handelnden Individuen. Ein wenig Bedauern löste diese Ästhetik schon aus, denn neben den wunderbaren Kammerspielschauspielern hatte Simons Darsteller wie zum Beispiel Anja Laïs, Christoph Luser, Maria Schrader oder Bettina Stucky verpflichtet, deren Gesichter man erst bei der Verbeugung sah. Das einzige reale Gesicht, in das der Zuschauer schauen konnte, war das von Felix Burleson, dem aus Surinam stammenden dunkelhäutigen Darsteller, der bereits in „Schande“ zu erleben war. Er repräsentierte das schwarze Element. Seine Anwesenheit veränderte die Bühne merklich. Über die reine Repräsentanz ging seine Darstellung allerdings kaum hinaus, obgleich er eigentlich als Archibald den Spielleiter auf der Bühne vorzustellen hatte. Diese Rolle übernahm Stefan Hunstein, der mit dem farbigen Gesicht von Felix Burleson ausgestattet, spielerisch aufwendig und dominant dessen Double gab.

Für die Existenz, resp. Nichtexistent der weißen Leiche hatte man einen wächsernen Frauenkörper aufgebahrt, der über die knapp zwei Stunden Spieldauer hinweg schmolz. Das Spiel fand sowohl auf der Vorderbühne um die aufgebahrte Leiche herum als auch als farbiges Schattenspiel hinter einem großen papiernen Vorhang statt. Für die abstrakte und zugleich durch praktikable Bühne zeichnete Eva Veronica Born verantwortlich.
Stärkstes Ausdrucksmittel war neben der Sprache die körperliche Pose und hier hatte Spielleiter Simons ganze Arbeit geleistet. Neben der Radikalität des zum Teil sehr finsteren und abstoßenden Textes, erspielten die Darsteller aus der äußerlichen Formlosigkeit der agierenden Geschöpfe heraus immer wieder situationskomische Momente, die das düstere Stück nicht nur erträglich, sondern über weite Strecken auch unterhaltsam machte.

Es war ein beeindruckender Abend, nicht leicht zu rezipieren und vielleicht in der einen oder anderen Szene auch ein wenig zu lang. Doch es gelang auch dieser Inszenierung nicht, so provokant sie auch sein mochte, dem Publikum wirklich etwas zum Thema Rassismus an die Hand zu geben. Wieder einmal verließen weiße Zuschauer das Theater in dem unerschütterlichen Bewusstsein, für viel, sehr viel Elend auf der Welt verantwortlich zu sein. Dieser Schuldkomplex, und mit Schuldkomplexen kennt sich kaum jemand bessere aus als wir Deutschen, ist wieder einmal das letzte Gefühl. Warum stellt Genet eigentlich die Frage: „Was ist eigentlich ein Schwarzer. Und vor allem, welche Farbe hat er?“ Ganz einfach, weil er Schwarz und Weiß nicht akzeptiert. Die Frage ist doch: Welche Farbe hat ein Rassist? Wer sich ein wenig auf der Welt umgeschaut hat, der weiß, dass Rassismus jede Farbe haben kann und auch hat. Rassismus hat seinen Ursprung im Unbehagen oder in der Angst vor allem Fremden, fremd Aussehenden. Diese Angst ist jedem Menschen eigen. Er kann sie mittels Vernunft und empirischer Erfahrung mit dem Fremden überwinden, oder aber er wird Rassist, bewusst oder unbewusst.

Es war sehr wohltuend, das Wort „Neger“ immer und immer wieder auf der Bühne zu hören, denn die heutigen Tendenzen, Sprache, einzelne Wörter zu eliminieren, weil wir unsere (von den Vorvätern ererbte) Schuld nicht mehr aushalten, ist nicht nur dumm, sondern höchst lächerlich und auch gefährlich. Sprache ist materialisiertes Denken. Sprache verhindern hieße Denken verhindern. Wenn das Wort „Neger“ aus Kinderbüchern eliminiert wird, versucht man damit Geschichte auszulöschen. Sicher ist, dass das Wort nicht eliminiert werden kann. Sprache ich nicht rassistisch, nur das Denken hinter der Sprache. Sprache kann Ausdruck von Rassismus sein. Wenn das Denken hinter der Sprache nicht rassistisch ist, ist auch gegen die Sprache nichts einzuwenden. Wie wollen wir noch rassistisches Denken erkennen, wenn wir den Ausdruck dafür unsichtbar machen wollen? Man sollte in diesem Zusammenhang darüber nachdenken, Orwells „1984“ neuerlich ins Bewusstsein zu rücken, um derartigen schwachsinnigen und ideologischen Tendenzen entgegen zu wirken.

 

Wolf Banitzki

 

 


Die Neger

von Jean Genet
Eine Koproduktion mit den Wiener Festwochen und dem Schauspielhaus Hamburg

Felix Burleson, Karoline Bär, Benny Claessens, Stefan Hunstein, Hans Kremer, Anja Laïs, Christoph Luser, Oliver Mallison, Maria Schrader, Bettina Stucky, Edmund Telgenkämper, Kristof Van Boven, Jeff Wilbusch, Gala Winter

Regie: Johan Simons

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