Teamtheater Tankstelle / Theater Viel Lärm um Nichts  Kleiner Mann - was nun? nach Hans Fallada


 

Rhetorik der Ohnmacht

„Kleiner Mann – was nun?“, der als Frage von Fallada formulierte Buchtitel erschien im Mai 1932 vor einem ganz besonderen politischen Hintergrund. Die Weltwirtschaftskrise dauerte seit drei Jahren an und erreichte zu diesem Zeitpunkt einen neuen Höhepunkt. Der Reichstag war aufgelöst, die zeitweilig verbotenen SA und SS wurden wieder zugelassen. Reichskanzler Brüning wurde durch Franz von Papen, einem Steigbügelhalter Hitlers, ersetzt und nach der Wahl am 31. Juli zogen 230 Nazi-Abgeordnete in den deutschen Reichstag ein. Das war auf den Tag genau ein halbes Jahr vor der Machtergreifung Hitlers. Der „kleine Mann“, fünf Millionen von ihnen waren arbeitslos, hatte die Orientierung verloren, bangte um die Zukunft und folgte der nationalen und sozialen Demagogie der Nazis. Der vierte Roman von Hans Fallada machte ihn berühmt, denn er traf wie kein anderes Werk den Nerv der Zeit. Der „kleine Mann“ stürzte sich geradezu auf das Werk, hoffend, Antworten auf die drängenden Zukunftsfragen zu erhalten.

Falladas Roman trägt durchaus autobiografische Züge, doch im Gegensatz zu seinem Helden Pinneberg und dessen Frau Emma, genannt Lämmchen, endete er nicht in der Mittellosigkeit ohne Ausblick auf Besserung, sondern in der (zumindest temporären) Wohlhabenheit, Dank des Romans, der ein Welterfolg wurde. Fallada konnte keine Antworten liefern, doch er war ehrlich und aufrichtig genug, die Probleme kritisch zu analysieren und zu benennen. In einem, für die Literaturwissenschaften aufschlussreichen und wichtigen „Vortragsmanuskript“ gestand Fallada ein, dass aus einem geplanten „leichten, beschwingten“ Roman über eine „kleine, einfache, helle Ehe zu zweien, dann zu dreien“ (Geburt des Kindes, genannt Murkel – Anm. W.B.) ein Buch über einen Mann mit einer Familie und der damit verbundenen Verantwortung wurde, der unaufhaltsam immer tiefer in die Krise schlitterte.

Das vermeintlich „kleine Glück, das kleine Leute herbeisehnen“, blieb aus. In der Welt regierten Herzlosigkeit, soziale Kälte und kriminelle Energien. Nimmt man einmal die emotionalen Bestandteile des bewegenden Buches, in denen Millionen ihr Schicksal gespiegelt sahen, soweit zurück, dass die sozialen, politischen und ökonomischen Mechanismen sichtbar werden, kommt man nicht umhin, deutliche Parallelen zur heutigen Realität zu bemerken. Obgleich es Deutschland noch nie so gut ging, ist eine tiefe Verunsicherung zu spüren. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst rasant. Zukunftsängste werden hemmungslos geschürt und Lügen sind dabei probate Instrumente. Das alles führt, gepaart mit politischer und moralischer Orientierungslosigkeit dazu, dass die Demagogen mit denselben Argumenten wie damals auf Bauernfang gehen und, man mag es kaum glauben, Erfolg haben.

  Kleiner Mann was nun  
 

Regina Soeiseder und Clemens Nicol

© Andreas Wiedermann

 

Andreas Wiedermann bewies mit seiner Wahl, diesen Text auf die Bühne zu bringen, wieder einmal großes Gespür für die gesellschaftliche Realität. Doch nicht nur die Wahl des Stoffes gereichte ihm zur Ehre, sondern auch die Umsetzung, die keinen Zweifel daran ließ, dass es sich um ein brandaktuelles Thema handelt, ohne der literarischen Vorlage dabei Gewalt anzutun. Mit nur vier Darstellern schuf er einen gesellschaftlichen Kosmos, der viel erklärte, emotional berührte und künstlerisch sehr unterhaltsam war. Regina Speiseder gab eine betörend sanfte und zerbrechliche Emma, genannt Lämmchen, die am Ende alle drei Leben der kleinen Familie in ihre Hände nahm und tapfer trug. William Newtons Pinneberg war ein Getriebener, ein von Ängsten und Sehnsüchten Gebeutelter, dem, bevor seine sanftmütige Ehefrau ihn auf- und umfing, unaufhaltsam jeglicher Würde beraubt wurde. Als er erkennen musste, dass Armut ein „Straftatbestand“ war, man ihn von den Schaufenstern dieser Welt mit Prügel vertrieb und ihm unmissverständlich bedeutete, dass er sich besser unsichtbar machen sollte, fiel er in eine paralytische Agonie. Die Hoffnung, die bekanntlich zuletzt stirbt, war für Hans Pinneberg, liebevoll Junge von seiner Frau genannt, gestorben.

Christina Matschoss und Clemens Nicol oblag es, sämtliche andere Rollen, es waren derer etwa zwanzig, zu gestalten. Dabei konnten die beiden ihr üppiges komödiantisches Talent vor aller Welt, also dem Publikum des Teamtheaters, ab 14. März auch dem Publikum des Theaters Viel Lärm um Nichts in Pasing, demonstrieren. Andreas Wiedermann hatte sie dabei angehalten, der Komik, die den Figuren innewohnte, keinesfalls zu zügeln und so war den beiden eine entfesselte Spiellust durchaus anzusehen. An Bühnenbild brauchte es nicht viel, zwei Vorhänge links und rechts, dazwischen verbunden mit einer reichlich behängten Kleiderstange. Immerhin arbeitete Pinneberg, abgesehen von einem Intermezzo in einer Firma für „Getreide- Futter- und Düngemittel“, als Verkäufer für Herrenkonfektion.

Der aus Ducherow (bei Anklam – auch heute wieder ein Hort nationalsozialistischen Gedankenguts) kommende Pinneberg, traf in Berlin auf eine halbseidene Welt, in der das moralisch Zwiespältige, das Kriminelle durchaus von Erfolg gekrönt war. Jachmann, der Liebhaber seiner Mutter Mia Pinneberg, die obskure Gesellschaften unterhielt und damit vermögend wurde, war ein Vertreter dieser Halbwelt mit besten Kontakten zu Oberschicht. Er verkörperte den Typus des Machers, der aus jeder gesellschaftlichen Situation, ob stabil oder krisengeschüttelt, sein Kapital zu schlagen verstand. Selbst eine Gefängnisstrafe ist für solche Leute, wir finden sie auch heute in den Illustrierten zu Hauf, kein wirkliches Handicap. Moral ist immer das, was die „kleinen Leute“ leben sollen, damit die Gesellschaft funktioniert. Die Unmoral ist dabei nicht selten in ihrem Überbau zu Hause. Man schaue sich nur einmal um, in welchem Zustand die „Führerschaft“ (im öffentlichen Sprachgebrauch benutzt man stattdessen das Wort „Leadership“) der Gesellschaft, der Institutionen oder auch der religiösen Einrichtungen dieser Welt momentan ist. Was früher Skandal genannt wurde, ist heute Bestandteil des allumfassenden News/Fake News-Entertainments. Gier, Selbstsucht, Missgunst, Asozialität werden unter der Hand als heldenhafte Eigenschaften gefeiert. Erfolg wird über Besitz definiert und dabei ist es ziemlich egal, wie dieser Besitz erworben wurde.

Das Stück handelt von einem Kapitalismus, dem menschliche Werte fremd (geworden) sind. Angesichts der Zustände, wenn wir einmal ehrlich sind, erscheint ein Satz wie: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ obsolet. Menschen werden heute massenhaft um ihre Würde gebracht und dabei sollte nicht vergessen werden, dass auch die Täter ihre Würde damit verlieren, denn Würde hat auch etwas mit Moralität und menschlicher Integrität zu tun. Große Worte, wird da mancher denken, doch wer sich die zweistündige Inszenierung angeschaut hat wird wissen, dass es um nichts Geringeres geht.

Wie Falladas Roman, gibt auch Andreas Wiedermanns Inszenierung keine praktikablen Antworten, doch eines ist sicher, es kann, es darf so nicht weiter gehen. Die Krise, die Fallada beschrieb, gipfelte im 2. Weltkrieg. Heute denken hochrangige Politiker laut über Kriege nach, die mit atomaren Mitteln ausgefochten werden. Dabei werden die Konflikte für diese Kriege vornehmlich herbeigeredet. In irgendjemandes Interesse indes werden diese Kriege ganz sicher sein! Die Pinnebergs dieser Welt haben jedenfalls kein Interesse daran. Und sicher ist auch, dass die Frage: Kleiner Mann – was nun? auch zukünftig nur rhetorisch sein wird. Es ist die Rhetorik der Ohnmacht.

Wolf Banitzi

 


Kleiner Mann - was nun?

nach dem gleichnamigen Roman von Hans Fallada

Christina Matschoss, William Newton, Clemens Nicol und Regina Speiseder

Regie Andreas Wiedermann

Teamtheater Tankstelle Der Zauberberg nach Thomas Mann


 

300 Seiten/h – Es funktionierte!

Hans Castorp, angehender Ingenieur und zukünftiger Schiffbauer aus Hamburg, reist nach Davos. Dort hält sich sein lungenkranker Vetter Joachim Ziemßen seit einigen Monaten auf. Hans ist ein wahrer Hans im Glück, denn er lebt in gesicherten Verhältnissen und kann es sich darum leisten, seinen Cousin drei Wochen lang in dem Sanatorium in luftiger Höhe zu besuchen. Dort trifft der „Flachländer“ überraschender Weise auf eine höchst skurrile bürgerliche Gesellschaft, die aus der Welt gefallen zu sein scheint. Das erkennt Castorp zuallererst an deren Umgang mit der Zeit. Sie ist herausgelöst aus einer durchrationalisierten Welt, deren wohl blödsinnigster Spruch lautet: „Zeit ist Geld!“ Castorp, selbst Techniker und rational veranlagt, sieht sich plötzlich mit der Poesie des Vergänglichen, mit der Verheißung der Spiritualität, mit der schwer fassbaren Dimensionaliät der Liebe konfrontiert. Der Berg wird nicht von ungefähr als „Zauberberg“ begriffen, denn schon nach kürzester Zeit, jeder Insasse und jedes Mitglied des medizinischen Personals erwartet das, bricht auch in Hans Castorp eine bis dato schlummernde Lungenerkrankung aus, die zwar vergleichsweise harmlos verläuft und schnell ausheilt, ihn dennoch sieben Jahre an den Ort fesselt. Entlassen wird der junge Mann in einen mörderischen Krieg, in die reale Welt des Jahres 1919.

Thomas Mann begann den Text 1912 als Novelle. Er verstand ihn als „Satyrspiel“, als heiter-positives Gegenstück zu seiner gerade fertiggestellten Novelle „Der Tod in Venedig“, einer „novellistischen Tragödie der Entwürdigung“, wie er konstatierte, in dem der „Tod als komische Figur“ um seinen Erfolg gebracht werden soll. Allerdings hatte Thomas Mann zu diesem Zeitpunkt noch keine rechte Vorstellung, wie dieser „Triumph des Lebens über den Tod überzeugend motiviert werden sollte“. Und so wuchs sich die kleine Geschichte, die ihre novellistische Herkunft nicht leugnen kann, zu einem üppigen Roman aus. Im Prozess des Schreibens wurde dem Autor klar, dass er von einer Zeit berichtete, die es so nicht mehr gab, von einer Zeit „vor einer gewissen, Leben und Bewusstsein tief zerklüfteten Wende und Grenze“. Diese Zeitenwende deutet sich auch im Sanatorium an. Sympathischer Vertreter eines Humanismus, der längst in die Phase der Dämmerung eingetreten war, ist der italienische Nachfahre von Freiheitskämpfern, der vernunftgläubige Aufklärer und bürgerliche Demokrat Settembrini. Ihm gegenüber steht der Jesuit Naphta, der Settembrini in beunruhigender Weise überlegen zu sein scheint, entlarvt er Settembrinis Thesen doch als unhaltbare Beschränktheit und hilflos romantische Philanthropie. In der schillernden Figur Leo Naphtas nehmen Thomas Manns düsterste Ahnungen Gestalt an. Dessen buntschillernde Mixtur aus Kapitalismuskritik, klerikal und faschistisch eingefärbte soziale Demagogie und sein Nihilismus verkörpern für Thomas Mann die „Kinderkrankheiten“ des neuen heraufziehenden Zeitalters, das, so der Autor, einen neuen Humanismus gebären würde. Weit gefehlt, wie die Geschichte zeigte. Thomas Mann entledigte sich dieser Figur auf wenig überzeugende Weise. Naphta wendet die Pistole gegen sich, als Settembrini im Duell mit ihm, seinem Gegenspieler, „hochherzig“ in die Luft geschossen hatte. Dieses Eingeständnis des geistigen und moralischen Bankrotts überzeugt nicht wirklich.

Es ist fraglos ein gewaltiges und hochriskantes Unterfangen, diesen 1000seitigen Roman auf die Bühne zu bringen. Immerhin weist die Spielfassung von Vera Sturm und Herrmann Beil echte dramatische Qualitäten auf und so lief auch die Inszenierung von Andreas Wiedermann im Teamtheater Tankstelle auf bestes Spiel- und nicht wie üblich bei Prosavorlagen auf Deklamationstheater hinaus. In seiner Lesart rückte Regisseur Wiedermann allerdings weniger den weltanschaulichen Disput zwischen Settembrini, ganz wunderbar lebendig gespielt von Constanze Fennel, und Naphta, ein somnambuler, dem irdischen scheinbar abhanden gekommener Urs Klebe, in den Vordergrund, sondern vielmehr die prismatisch aufgefächerte Gefühlslage einer untergehenden gesellschaftlichen Schicht, die schon ihrerzeit auf der „Suche nach der verlorenen Zeit“ war. Und er tat gut daran, denn zwei wesentliche unausgesprochene Argumente flankierten die Geschichte aus der Vergangenheit: die zwei schlimmsten und katastrophalsten Weltkriege der (vorläufigen) Menschheitsgeschichte. Soviel historisches Wissen und Gefühl kann dem Publikum allemal abgefordert werden. Die Premiere erbrachte den Beweis.

  Der Zauberberg  
 

Ensemble

© Uli Scharrer

 

Was das Publikum in den 165 Minuten (ohne Pause) erlebte, war kurzweiliges, spielfreudiges Theater, nicht gänzlich frei von szenischem Holpern, das wohl in erster Linie der Größe der Bühne, oder besser deren Begrenztheit geschuldet war. Immerhin war sie von bis zu zwölf Darstellern bevölkert und manchem gelungenen szenischen Einfall, der an der Peripherie der Handlung ablief, war nicht der nötige Raum und die Aufmerksamkeit vergönnt. Es tat dem Gesamtbild der Inszenierung jedoch keinen Abbruch, die sich sehr um die Komik der Geschichte und der Figuren bemühte. Das mag auf dem ersten Blick ein wenig unglaubhaft erscheinen und in der Tat denkt man bei hanseatisch, und das ist wohl eine Grundfarbe der Kunst Thomas Manns, nicht unbedingt an Komik. Dennoch war sie drin und Wiedermann kitzelte sie heraus. Besonders Clemens Nicol profitierte in der Rolle des Hofrat Behrens davon. Allein, dieser doppelbödigen Komik, resultierend aus der Selbstentlarvung und –entblößung, zum Beispiel wenn Behrens, der auch malt und bildhauert, seine Kunstauffassung darlegt, ist das heutige Publikum durch Comedy und allgegenwärtige plattitüdenhafte Kalauerei ziemlich entwöhnt. Es war allemal Komik auf hohem Niveau.

Und es war wieder einmal solides Ensembletheater, in dem sämtliche Darsteller deutliche Charaktere in die Bühnenwelt brachten. Herausragend waren, ohne dabei die Ensembleleistung schmälern zu wollen, bereits oben genannte Constanze Fennel als Settembrini und Clemens Nicol als Behrens. Letzterer profitiert natürlich auch von seiner physischen Präsenz und Stimmgewalt. David Thun durchlief als Hans Castorp glaubhaft eine Metamorphose vom nüchternen Skeptiker zum liebenden Schwärmer. Die entgegengesetzte Entwicklung durchlief sein Cousin Joachim Ziemßen. Von mangelndem Selbstwertgefühl wegen seiner Krankheit befreite er sich durch die wahnhafte Vorstellung, dieses Manko im Krieg wettmachen zu können. Simon Brüker überzeugte mit seiner Gestaltung. Ebenso überzeugte Christina Matschoss in der Rolle der Clawdia Chauchat, einer sehnsuchtsvollen Frau auf der Flucht vor sich selbst, für die ein Sanatoriumsaufenthalt einen ebensolchen Stellenwert hat wie eine Vergnügungsreise an die Côte d'Azur oder ein Ballbesuch. Überaus komisch waren die Überzeichnungen der Figuren des Dr. Krokowski (Andreas Niedermeier), der Zwergin (Sönke Küper) oder der schwäbelnden Frau Stöhr (Conny Krause). Gerade diese Figuren verwandelten den großen Roman in eine Groteske, was sich als durchaus legitime Lesart erwies.

Zudem war es ein sehr musikalischer Abend, denn die fast dreistündige Inszenierung war gespickt mit musikalischen Live-Einlagen, von Sarabande bis Wiegenlied, von Flick-Flack bis singende Säge. Wiedermann weiß mit Musik zu handeln. Sie ist stets ein inszenatorischer Gewinn. Stellt sich die Frage, was die Inszenierung nicht war? Sie war, bei aller unübersehbaren Aktualität kein Diskurstheater, das die brennenden Probleme unserer Zeit thematisierte und durchkaute. Der Versuch, politische Themen als solche auf die Bühne zu bringen, mag zu Einsichten führen, es mag auch Impulse geben, es hat allerdings in den seltensten Fällen gutes Theater hervorgebracht. Und gutes Theater ist, wenn der Zuschauer verändert, weitsichtiger, moralisch gewachsener, gut unterhalten und nicht mit einem Katalog politischer Forderungen im Kopf das Theater verlässt. Der Roman von Thomas Mann ist ein großartiges Kunstwerk, sprachlich und kompositorisch, doch betrachtet man die philosophischen und gesellschaftlichen Aspekte, tun sich beträchtliche Mängel auf. Dennoch: Die Krisenhaftigkeit des bürgerlichen Daseins schimmert immer durch und das macht den Roman so wertvoll und zeitlos, denn überwunden ist sie ja keinesfalls. Selten war die Krisenhaftigkeit so deutlich sichtbar wie im Moment. Die Welt steckt auch und vor allem in der Krise, weil sie sich die große Frage nach dem Sinn des kapitalistischen Systems nach dem kläglichen Scheitern des Sozialismus (wohlgemerkt nicht der Ideen, sondern deren Protagonisten) nicht zu fragen getraut. Aus dem Teamtheater ging man indes mit dem untrüglichen Gefühl, dass wir uns endlich was Neues einfallen lassen sollten, um zu verhindern, dass Menschen wie Hans Castorp, den man unweigerlich ins Herz geschlossen hatte, nicht so enden müssen wie sie bislang auf sinnlose Weise endeten.

Wolf Banitzki

 


Der Zauberberg

nach dem Roman von Thomas Mann
Fassung von Vera Sturm und Herrmann Beil

Franz Brandhuber, Simon Brüker, Constanze Fennel, Urs Klebe, Conny Krause, Sönke Küper, Matthias Lettner, Christina Matschoss, Clemens Nicol, Andreas Niedermeier, Eva-Maria Piringer und David Thun

Instrumentalisten: Andreas Hirth, Martina Mühlpointner, Linda Nolte

Regie: Andreas Wiedermann
Musik: Bernhard Zink

Teamtheater Tankstelle   Wahlverwandtschaften nach Johann Wolfgang von Goethe


 

3 : 2 für den Tod

Eigentlich sollte es nur eine Novelle werden, die mit anderen in dem großen Schauspielerroman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ aufgehen würden. Hintergrund waren Goethes naturwissenschaftliche Studien, in denen er immer wieder Analogien und Phänomene zu entdecken glaubte, die, zumindest symbolisch, Entsprechungen im menschlichen, im gesellschaftlichen Leben fanden. Doch die „Neuigkeit“, wie dieses Genre der Kurzepik übersetzt heißt, wuchs sich aus und wurde in neunmonatiger Arbeit, verteilt über die Jahre 1808 und 1809, ein zweiteiliger Roman. Es wurde nicht nur ein beliebiger Roman, sondern er stand für den Beginn des modernen Gesellschaftsromans, der ungeheure Aufmerksamkeit erregte.

Das Buch wurde sowohl gefeiert als auch verrissen. Letzteres kam vornehmlich aus den Reihen der konservativen Vertreter des deutschen Geisteslebens. Einer tat sich dabei besonders hervor. Der ehemalige Goethefreund Friedrich Jacobi schrieb am 10. Januar 1810 mit einigem Entsetzen nach der Lektüre: „Dieses Goethesche Werk ist durch und durch materialistisch oder wie Schelling sich ausdrückt, rein physiologisch. Was mich vollends empört, ist die scheinbare Verwandlung am Ende der Fleischlichkeit in Geistlichkeit; man dürfte sagen: die Himmelfahrt der bösen Lust.“ Jacobi war augenscheinlich entgangen, dass er in Goethe einen Pantheisten vor sich hatte, dem Fleischlichkeit und Geistlichkeit untrennbar verschmolzen war. Aber auch andere Größen der Zeit waren sichtlich überfordert. Tieck nannte den Roman „Qualverwandtschaften“; Börne nannte ihn einen „chemischen Roman“. Es herrschte ein konfuses Durcheinander aus Unverständnis und Enthusiasmus, emotionaler Ergriffenheit und rationaler Verstörtheit

Aus heutiger Sicht mutet der Roman natürlich antiquiert an, weil die Protagonisten eigentlich nie wirklich „zur Sache kommen“ und mit äußerster Sorgfalt immer wieder Konstellationen herbeiführen, die eine verbale Auseinandersetzung ermöglichen. Alles hat „Artigkeit“. Zum besseren Verständnis für die jüngeren Mitbürger: man folgte nicht dem ersten emotionalen Impuls, sondern bemühte sich, Klarheit über die Konsequenzen des Handelns zu erlangen. Tatsächlich ist der ganze Roman ein einziges mentales und emotionales Bemühen, der Liebesfalle zu entrinnen. Man kann wohl davon ausgehen, siehe auch das Drama „Stella“, dass es sich dabei um ein Lieblingsthema Goethes handelte.

Die Geschichte spielte in feudalen Adelskreisen, wobei Goethe nicht müde würde, bürgerliche Tugenden unterzubringen. Der Gutsherr Baron Eduard lebt mit seiner Angetrauten Charlotte auf einem Gut, auf dem es gehörigen Gestaltungsbedarf gibt. Beide sind in zweiter Ehe miteinander verbunden; ihre ersten Ehen waren Mesalliancen, die sich zumindest finanziell für beide gelohnt und sie sorgenfrei gemacht haben. Eduard möchte das Gut und die umliegenden Landschaften neu gestalten, hat ziemlich genaue Pläne, jedoch nicht die praktische Erfahrung, diese sinnvoll umzusetzen. Also lädt er einen Freund ein, einen tatkräftigen, tugendhaften Mann, der, in der gehobenen Gesellschaft als Unterhalter fungierend, unausgelastet und frustriert ist. Der Mann, man feiert ihn am Namenstag für den Namen Otto, bleibt beinahe namenlos, ist anfangs der Hauptman, im zweiten Teil, nach einer Beförderung, der Major. Der Hauptmann, soviel sei verraten, hegte seit Jahren eine innige Zuneigung Charlotte gegenüber. Charlotte hat eine Tochter, Luciane, im heiratsfähigem Alter, die gemeinsam mit einer Nichte, Ottilie, in einer Pension ihrer Lebensreife entgegengehen. Als Luciane, die nun günstig verheiratet werden muss, die Pension verlässt und an einen attraktiven Hof geht, beschließt Charlotte, Ottilie zu sich und dem Baron zu nehmen. Eduard sträubt sich ein artiges Weilchen, sieht aber dann doch die Möglichkeit, den Hauptmann mit holder Weiblichkeit zu versorgen. Die beiden kommen und alles beginnt gedeihlich zu sprießen.

  Die Wahlverwandtschaften  
 

Laura Tashina, Clemens Nicol, Lisa Wittemer, Ferdinand Ascher

Foto: Clemens Nichol

 

In einem abendlichen Gespräch erläutern die beiden Herren den Damen das chemische Verhalten von bestimmten Stoffen, die bei der Hinzufügung eines dritten Stoffes ihre chemische Bindung aufgeben und mit dem anderen Stoff eine neue, eine zwingende eingehen. Die Herren nennen es „Wahlverwandtschaften“ und spätestens hier weiß der vorausschauende Leser, worauf es hinausläuft. Eduard verliebt sich in Ottilie, Charlotte in den Hauptmann. Tatsächlich sollen sie zu einander nicht kommen und das Ganze endet sehr drastisch. Allein, das Bemühen aller Beteiligten, die nicht nur auf die vier Liebenden beschränkt bleiben, könnte ein psychologisches Kompendium füllen.

Goethes Verdienst bestand vornehmlich darin, ein Werk von unglaublicher Komplexität geschaffen zu haben, in dem sämtliche Figuren in ihren Widersprüchlichkeiten vorgeführt werden. Diese spiegeln sich allerdings erst in ihrer Bezogenheit zueinander. Eduards Weichlichkeit steht seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber, wenn es um seine Liebe zu Ottilie geht. So nennt er den Beischlaf mit seiner Ehefrau, einen Moment der Schwäche, angesichts seiner Liebe zu Ottilie ein „Verbrechen“. Die Besonnenheit des Hauptmanns entpuppt sich angesichts der Verwirrung seines Freundes als Mangel und auch Charlottes strenge Umsicht kapitulierte vor der Anmut des schönen jungen Mädchens. Goethe enthielt sich dabei einer Wertung und beließ es bei der Darstellung verschiedener Haltungen. Er gestand seine eigene Unzulänglichkeit, die Problematik erschöpfend behandeln zu können und bekannte noch 1827: „Da sich gar manches unserer Erfahrung nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspielende Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.“

Andreas Wiedermann verzichtete in seiner dramatisierten Fassung des Romans auf die Episoden des zweiten Teils, in denen die Konflikte eine weitere Überhöhung erfahren und beließ es bei der unerfüllten Liebe zwischen den vier Protagonisten, die nur Charlotte und der Hauptmann überleben. Eine abgemessene rechteckige Fläche aus Kunstrasen, mehr brauchte es nicht als Bühnenbild. Der Rest waren Sprachkulissen, ergaben sich aus den jeweiligen Szenen und wurden mit einfachen Mitteln durch die Darsteller gespielt. Auf historische oder historisierende Kostüme wurde verzichtet und dennoch entstand kein Widerspruch in Spiel und Sprache, die dem Salonduktus des Spätbarock oder der Klassik entsprach. Wiedermann hatte seine Darsteller angehalten, bei aller Manieriertheit der Syntax eine weitestgehend natürliche Haltung anzunehmen, was bei aller Gespreiztheit, die den Gedanken bisweilen innewohnte, weitestgehend gelang. Tatsächlich entfaltete die Goethesche Sprache eine wunderbare Leichtigkeit, Melodiösität und einen geschmeidigen Rhythmus. Alle vier Darsteller erwiesen sich als gleichermaßen befähigt, diese überhöhte Kunstsprache zu bedienen.

Clemens Nicol, zuletzt auf der Bühne des Teamtheaters in „Moby Dick“ in der Rolle des ersten Harpuniers Queequeg, eines wilden, baumstarken Südseeinsulaners zu sehen, fiel der Part des adligen und feinsinnigen Barons Eduard zu. Obgleich er von unbändiger physischer Kraft beseelt zu sein schien, gelangen ihm ohne Problem auch leise und zarte Töne. Ihm gegenüber Lisa Wittemer als Charlotte, aufrecht wie ein Tänzerin, fragil, sehr beherzt und einen raueren Ton gelegentlich nicht meidend, ganz und gar einer Baronesse würdig. Ferdinand Ascher gab einen Hauptmann, der ein Herz und eine Seele mit dem Freund war und der dennoch in seiner Verzagtheit dem Freund gegenüber großen Anteil an dessen Untergang hatte. Laura Tashinas Ottilie indes war die Sonne im Universum des in der Zurückgezogenheit das private Glück suchende adligen Paars. Die Frage, warum sich Eduard früher oder später in sie verlieben musste, stellte sich nicht. Zu anmutig, zu strahlend war ihre Erscheinung. Doch täuschte ihre schöne Maske, ihre berückende Erscheinung nicht darüber hinweg, dass sie bereits stigmatisiert war. In die Pension abgeschoben, winkte ihr keine strahlende Zukunft wie beispielsweise Charlottes Tochter. So war sie trotz aller Vorzüge, die auch darin bestanden, dass sie als Wirtschafterin des Gutes durchaus ihre Frau stand und den Plänen der Männer so manche geschickte Idee beifügen konnte, sehr introvertiert und bescheiden.

Die knapp zwei Stunden wiesen, obgleich viel theoretisiert, lamentiert und philosophiert wurde, keine Längen auf. Das lag nicht zuletzt auch daran, dass es Andreas Wiedermann gelungen war, die komischen Züge der Personen und auch der Situationen sichtbar zu machen, ohne, wie heute durchaus üblich, ins Kabarettistische abzugleiten. Zu sehen war ein spannendes Kammerspiel tragödischen Ausmaßes. Es stirbt darin ein Kind von nicht einmal einem Jahr, eine junge, überaus begehrenswerte Frau und der Baron Edmund. Um es sportlich zu formulieren, es endete 3 zu 2 für den Tod. Der rauchig-melancholische Abgesang war, von wem auch sonst, von Tom Waits.

 

Wolf Banitzki

 


Wahlverwandtschaften

nach dem gleichnamigen Roman von Johann Wolfgang von Goethe

Ferdinand Ascher, Clemens Nicol, Laura Tashina, Lisa Wittemer

Inszenierung Andreas Wiedermann

Teamtheater Tankstelle  Kein Honigschlecken  von Greg Freeman


 

Vorsicht vor Clowns!

Die Clowns haben die Macht an sich gerissen. Man hatte sie unterschätzt, denn sie sehen nicht so dämlich aus, weil sie es sind, sondern weil sie vorgeben, dämlich zu sein, damit man über sie lacht. Indes sind sie kühl kalkulierend, sophistisch und unterschwellig aggressiv. So sind Tyrannen nun mal, insbesondere wenn sie sich bedroht fühlen und eine wesentliche Eigenschaft von Tyrannen ist nun mal ein ausgewachsener Verfolgungswahn. Die beiden Teddybären Julius und Ludovic lassen sich allerdings ihr Dasein von einer clownesken Diktatur nicht verdrießen und folgen gelassen einer Einladung des Clowns BoBo zu einem Workshop über autoerotische Praktiken, verbunden mit einem recht mäßigen Picknick. Als sich BoBo versehentlich bei einer Übung zu sexueller Grenzerfahrung erhängt, ist der Schlamassel für die Bären groß. Ehrlich und aufrichtig wie sie nun einmal sind, es ist ihnen sogar in die Unterhosen gestickt, stellen sie sich die Frage, ob sie das Unglück hätten verhindern können? Und war ihre unterlassene Hilfeleistung nicht vielleicht sogar ein Mord? Sie suchen Hilfe bei einer sonderbaren Puppe, die Anwältin zu sein vorgibt, dies aber selbst in Zweifel zieht. Schnell nimmt alles konspirative Formen an, doch im Gegensatz zu den Clowns, haben die Teddybären Skrupel. Die Clowns indes nutzen den Unfall und deklarieren ihn als einen Anschlag auf die gesellschaftliche Grundordnung. Schließlich hat es harsche Konsequenzen für die vermeintlichen Täter. Jetzt ist Widerstand angebracht.

„Kein Honigschlecken“ ist in der Tat eine sehr schwarze Komödie, die bereits 2012 unter dem Titel „No Picnic“ am Londoner Tabard Theatre uraufgeführt wurde. Damit bewies der Autor Greg Freeman große Weitsicht und politische Sensibilität, denn die Zeiten von „Fake News“ brachen so richtig erst mit der Amtseinführung von Donald Trump an. Und während breite Massen der Bevölkerung um Orientierung im politischen und gesellschaftlichen Sprachdschungel ringen, wird deutlich, dass Wahrheiten längst keine mehr sind, da es scheinbar zu jeder Wahrheit eine Alternativwahrheit gibt. Zu lange hat die Bevölkerung der politischen Rhetorik der etablierten Parteien geglaubt; zu lange hat sie den Eliten ihr Vertrauen geschenkt. Plötzlich werden Stimmen laut, die „Wahrheiten“ verkünden, die zwar hässlich, aber scheinbar so unwahr und von der Hand zu weisen nicht sind. Selbstredend werden diese Stimmen sofort als radikal, verleumderisch und die gesellschaftliche Grundordnung gefährdend diskreditiert. Doch viele Menschen im Land können und wollen das nicht glauben. Vermeintliche Wahrheiten, über Jahrzehnte mantraartig verbreitet, erscheinen plötzlich wie Unwahrheiten und ist das Vertrauen in die Protagonisten, die den Menschen die Welt bislang so routiniert erklärten, erschüttert, setzt ein Dominoeffekt ein.

  Kein Honigschlecken  
 

Martin Schülke, Daniela Voß, Mario Linder

© Ludo Vici

 

Regisseur Philipp Jescheck, er bescherte den Besuchern des Teamtheaters mit „Paarungen“ oder „Tante und Ich“ grandiose Komödienabende, inszenierte „Kein Honigschlecken“ als putziges Guckkastentheater. Die Bären Julius und Ludovic, knuffig und emotional facettenreich gespielt von Mario Linder und Martin Schülke, hätte selbst den höchsten Ansprüchen eines guten Kindertheaters genügt, wenn nicht die komplizierten Denkweisen und die philosophienahe Sprache den komödiantischen Spaß in Grenzen gehalten hätte. Dieser Vergleich scheint insofern angebracht, da wir definitiv zu wenig gutes und aufklärerisches Kindertheater haben. Es geht schließlich um unsere gesellschaftliche Zukunft!

Die phantasievolle Ausstattung des Guckkastens (Bühne/Kostüm Michele Lorenzini ) und die manierierte und marionettenhafte Spielweise von Daniela Voß als sonderbare Puppe entführten den Zuschauer effektvoll in die Welt kindlicher (oder teddybärenhafter oder puppenartiger) Geschöpfe. Allein, der visuelle Unterschied zum aufklärerischen Anspruch, er konnte krasser nicht sein, tat der ganzen Sache absolut keinen Abbruch, denn dank der präzisen Spielweise und der sehr guten Sprechkultur der Darsteller wurde der Zuschauer von der Aktualität des Themas geradezu überrollt. Immerhin kam sogar ein blutiger Schrumpfkopf vor. Als Armin Hägele als Clown seine rhetorische Tyrannis entfesselte, wurde deutlich, wie nah wir uns bereits am Abgrund zum Verfall der Demokratie befinden. Das Ende mutete dann schließlich gar nicht märchenhaft an, denn die Lüge oder die alternative Wahrheit wurde zur nützlichen Waffe.

Das Spektrum der behandelten Themen war auf sehr unaufdringliche und keineswegs zeigefingerhaft abgearbeitete Weise gewaltig groß. Die Subjektivität von Alter und Schönheit war ein Thema. Man begriff, dass viele erbrachte Leistungen unseren Mitmenschen gegenüber durchaus auch in die Kategorie Korruption und Filz passt, dass eine Lüge nur eine falsch interpretierte Wahrheit sein kann; dass Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit in Anbetracht der möglichen Ergebnisse auch nur Dummheit sein können. Und man wurde sensibilisiert zu erkennen, was ein Clown seinem Wesen nach auch sein kann und dass man nicht unbedingt wie ein Clown aussehen muss, um ein solcher zu sein. Und plötzlich musste man erkennen, wie viele Clowns es um uns herum gibt und dass wir uns vor ihnen in acht nehmen sollten. Und es zeigte sich, dass Angst unser ärgster Feind ist.

Es war eine kluge und darstellerisch wunderbar umgesetzte Inszenierung, die, was Aktualität betrifft, Ihresgleichen momentan auf den Bühnen Münchens sucht. Es war kein „Schenkelklatschtheater“ und es war auch nicht zum Brüllen komisch, denn es steckten zu viele bittere Wahrheiten darin. So kafkaesk das Spiel auch anmutete, es steckte blanke Realität darin, was im Umkehrschluss bedeutet, dass unsere Realität momentan ziemlich kafkaesk ist. Unterhaltsam und lehrreich war es allemal, und so kann man nur hoffen, dass die verbleibenden Vorstellungen gut besucht werden.

 

Wolf Banitzki


Kein Honigschlecken
von Greg Freeman

Deutsche Erstaufführung

Daniela Voß, Mario Linder, Martin Schülke und Armin Hägele

Regie: Philipp Jescheck

Teamtheater Tankstelle  Der Fall Patricia Highsmith von Joanna Murray-Smith


 

Die Geschichte fortschreiben

Sterbensangst liegt über der Gesellschaft, verbreitet sich in ihr wie eine emotionale Seuche, ist sie doch immer das Letzte, das vom Leben bleibt. Getrieben vom täglich mehrfachen Morden in den Medien bis zur massiven Überalterung drängt sich das Thema immer mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Was für die Opfer im Augenblick des Zufalls geschieht, beschäftigt Täter weitaus intensiver, denn das aktiv wahrgenommene Sterben, das Zugehen auf den Tod, ist eine mörderische Erfahrung. Besonders, wenn es sich um ein starkes, ausgeprägtes und millionenfach bestätigtes Ego handelt, das doch in seiner engen Welt, der eigenen Natur gefangen und alleine ist. Das letzte Geheimnis lösen ... oder ein lukratives Thema am Markt bedienen ...

Die Einsamkeit einer persönlichen und doch bekanntermaßen wiederholten Welt füllte die Bühne, lag vor den Augen der Zuschauer. Ein großer Raum, Schreibtisch mit Schreibmaschine und zwei angefangenen Flaschen Whiskey, ein Stuhl davor und eine kleine Bank, abseits, bildeten das Mobiliar. Vorhänge suggerierten eine geschlossene Fensterfront, gaben partiell den Blick auf Schweizer Berge und die mächtige dominierende Natur im Hintergrund frei. Freiraum, Weite mit deutlichen Grenzen vermittelte das von der Münchnerin Manuela Müller gestaltete Bühnenbild. Und tatsächlich verbrachte die gebürtige Texanerin Patricia Highsmith ihre letzten Tage in Locarno, der Schweiz, welche sich als unabhängige Nation gibt und bereits zahlreiche Schriftsteller, Künstler aus der ganzen Welt aufgenommen hat.

„Ich werde nicht ruhig dahinscheiden.“ … „Ich habe es mir verdient meinen eigenen Tod zu schreiben.“ … „Wenn ich gehe, dann mit einem Knall.“ Einmal noch an sich erinnern, einmal noch die Aufmerksamkeit der vielen Anhänger genießen, wollte wohl die völlig zurückgezogen lebende, menschenverabscheuende Schriftstellerin, denn für ein letztes Buch fehlten längst die Kraft und die Inspirationen. Am Ende gerät auch die mit Sinnesleistung verbundene Fantasie an ihre Grenzen. Was bleibt sind die Erinnerungen, die sich mit Träumen mischen. Astrid Jacob verkörperte eine übelgelaunte, zornig einsame Patricia Highsmith auf fabelhaft überzeugende Weise. Als Herrin in ihrer Welt erschien sie im Kontakt zu den Vertretern des Verlages, welche sie heimsuchten und zu einem weiteren Abenteuer ihres Helden Tom Ripley überreden wollten. Klar konsequent, bisweilen altersgemäß stur, verteidigte die Schauspielerin die Position und verweigerte die Unterschrift zum vorgelegten Vertrag. Kaufmännische Argumente wischte sie mit einer leichten Handbewegung beiseite. „Sie brauchen dieses Buch … genauso wie …“

„Wieviel Zeit haben Sie noch?“, fragte der junge Verlagsvertreter Edward Ridgeway. Er war extra aus New York angereist, um den nächsten Bucherfolg auf den Weg zu bringen. Ein junger Mann, für den Erfolg auf der Prioritätenliste ganz oben steht, will er doch überleben im Wettkampf des Business und eben von dem Erfolg der Vertragsunterzeichnung hängt sein Überleben ab. Immer wieder rutschte eine Locke in seine Stirn, und die Nervosität mit der er sie zurückschob war fühlbar bis in die hinteren Reihen des Zuschauerraums. David Tobias Schneider überzeugte in dieser zeitgemäßen Rolle ebenso wie in der des scheinbaren, oder doch echt erfundenen, Tom Ripley. Literatur als sein Leben zu vermitteln, gelang ihm spielerisch und eben auf dieser Ebene knüpfte er die Verbindung zu dem gealterten Gegenüber. Eine Blutspur an seinem Hals setzte der Verhandlung ein Ende, das jedoch den Anfang für eine neue Geschichte bildete. Als wäre er Tom Ripley, war er am darauffolgenden Tag auferstanden, swingte durch den Arbeitsraum und ließ die Tastatur der Schreibmaschine erklingen, ebenso herrlich leicht wie unbekümmert und inspiriert.

„Ich wäre eine begnadete Mörderin.“ Um Geschichten glaubhaft zu Papier zu bringen, muss eine Kriminalschriftstellerin das sein, zumindest in der wirklichen Fantasie. Die Grenze zur Realität einhalten können, ist eine weitere geforderte menschliche Fähigkeit. Und schließlich verfügt der Mensch über eine Fülle von Fähigkeiten, welche er ausspielt. Regisseur Dieter Nelle verstand es, die feinen Facetten der Schauspieler ins Gleichgewicht zu setzen und dadurch ein wundervolles Spannungsfeld zu schaffen, in dem Text und Darstellung sichtbar strahlten. Das Spiel mit Realität, Rolle, Einbildungskraft eröffnete neue Horizonte im Dickicht der menschlichen Psyche und dem Ursprung der Instinkte. Der Traum vom wirklich ungebundenen Leben, der über allen Köpfen kreist, wurde schon immer mit dem Tod verbunden. Allein, er ist das aus der Rolle scheiden und nur der Humor, welcher in der Aufführung keinesfalls zu kurz kam, lässt damit umgehen.

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David Tobias Schneider, Astrid Jacob

Foto: Dieter Nelle

 

Die Verbindung der Schriftstellerinnen durch die Namensbrücke – Smith – könnte wie eine Erbfolge erscheinen und ist doch nur Zufall des Lebens per se. Doch auch der Zufall folgt einfach nur seinen Möglichkeiten. Zudem enthält das Theaterstück von Joanna Murray-Smith (Sie ist ebenso weltweit bekannt wie die Protagonistin.) weitaus mehr, als die letzten Stunden einer realen Schriftstellerin, die letzten Stunden von Patricia Highsmith. Als folgte sie ihr auf den Spuren der Gedanken und hatte sich längst anhänglich in deren Welt eingenistet, bzw. diese für sich geklont, um sie in die Gegenwart der nachfolgenden Generationen weiterzuführen und, der wohl wichtigste Aspekt, die Spuren in weitere Dimensionen zu verfolgen. In der Form des Dialogs, pointiert präzise, setzt sich die Dramatikerin Joanna Murray-Smith mit der Erzählung und der männlichen Hauptfigur in Patricia Highsmith Dasein auseinander – Der talentierte Mr. Ripley. Highsmith bekannte sich in ihren Tagebüchern zu diesem Alter Ego und ihr Talent zur erzählerischen Darstellung und Entwicklung von außergewöhnlichen Charakteren ist unbestritten. Was eine gerne leben würde, was gerne erleben … davon schreibt sie. Kann man mit Worten zur Mörderin werden? Realität, Wirklichkeit und Fiktion tanzen einen Reigen und die dabei entstehenden Bilder öffnen den Blick für Lebens- wie für Todeserkenntnis. Am Ende ist der Mensch was er denkt, von sich, von der Welt.

Am Ende kann man Edward Ridgeway als Tom Ripley (als David Tobias Schneider) oder umgekehrt ausnehmen. Der Geist, der die Welt der Patricia Highsmith ausmachte, hat sich längst in unzählbar vielen Leben dupliziert, ist er doch über die von ihr zusammengefügten Buchstaben, die Worte aufgenommen worden und zu Bildern, Leitbildern in deren Köpfen geworden. Diese Bilder, diese Welt fortzuspinnen als eine Aufgabe, wählen die gegenwärtig Befähigten und sie folgen ihr. Das Gedankengut geistert weiter. Wer es betrachten und aufnehmen möchte, der kann dies facettenreich, lebendig, sehenswert erfahren, in der Inszenierung von Dieter Nelle, die das bunte Spektrum zwischen Leben, Lebensende und Tod ausbreitet. Das pure Vergnügen für alle mörderisch Süchtigen.

C.M.Meier

 

 


Der Fall Patricia Highsmith

von Joanna Murray-Smith

 Astrid Jacob, David Tobias Schneider

Regie: Dieter Nelle

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