Kammerspiele Onkel Wanja von Anton Tschechow
Tschechow trifft Beckett
Was wäre, wenn Lenin nicht gelebt hätte? Der russische Adel wäre trotzdem untergegangen und es wäre gekommen, wie Tschechow es in „Kirschgarten“ beschrieb. Die aufkommenden bürgerlichen Kapitalisten, hätten dem Adel die Konkursmasse ihrer (Kultur-) Geschichte abgekauft, zerstört und freie Fahrt für die freie Wirtschaft geschaffen. Immerhin hatte Lenin der Welt durch den Kampf der Systeme, neben zahllosen Opfern, auch eine kulturelle Verantwortung beschert. Mit dem Fall des Ostblocks ‚endete die Geschichte und der reine Geldverkehr begann’. (Heiner Müller)
Professors Serebrjakow war Wissenschaftler, umstritten, wie Onkel Wanja behauptete, denn immerhin „blockierte“ er ein Viertel Jahrhundert lang einen Lehrstuhl. In dieser Zeit schrieb der fleißige Mann über Kunst, ohne eine blasse Ahnung davon zu haben. Das ist in der Wissenschaft keine Seltenheit, auch heute nicht. Allerdings ist die Wissenschaft heute, wenn auch nicht unbedingt wahrhaftiger, so doch immerhin effizienter geworden, seit die neoliberalisierte Wirtschaft mehr und mehr die Finanzierung übernimmt. Da kann man auch schon mal die (für die Wirtschaft) passenden wissenschaftlichen Erkenntnisse in Auftrag geben. Vielleicht ist die Erde ja doch eine Scheibe? Alles nur ein Frage des Geldes.
Doch in Tschechows „Onkel Wanja“ geht es weniger um die gesellschaftliche Bedeutung im politischen Sinn, auch wenn die Frage nach der Existenz Lenins aus der Kammerspiel-Inszenierung stammte, sondern vielmehr um die Psychologie einer Epoche. Es herrscht allenthalben Agonie. Es gibt keine Visionen mehr und man gefällt sich in der Betrachtung des Untergangs. Arbeit? Wozu? Kommt einem irgendwie bekannt vor, oder? Besagter Professors Serebrjakow ist emeritiert worden, konnte sich das Leben in der Stadt ausschließlich mit den Einkünften aus seinem Gut, oder besser dem Gut seiner verstorbenen Frau, nicht mehr leisten und war gezwungen, auf eben dieses Gut zu ziehen. Der Ankunft des Professors und seiner jungen und schönen zweiten Ehefrau Jelena Andrejewna hatte man noch entgegengefiebert, denn die Verehrung des berühmten Mannes war ungebremst. Doch schon nach kurzer Zeit kam die Wahrheit ans Licht und sein Schwager Wanja, der mit der Tochter des Professors aus erster Ehe, Sofia Alexandrowna, das Gut verwaltet hatte, war völlig desillusioniert. Man verabscheute sich, quälte sich gegenseitig und teilte die Qualen, die man sich bereitete. Man aß und trank, und aß und trank, und ...
Es gibt auch im Stück „Onkel Wanja“ die üblichen Tschechowschen Verdächtigen: den verarmten Gutsbesitzer Telgin, der sich durchschmarotzt, wo er nur kann. Und es gibt den obligaten Idealisten. In diesem Fall der Arzt Michail Lwowitsch Astrow, ein Vorkämpfer der ökologischen Bewegung. Doch auch er ergibt sich schließlich dem Alkohol und Oblomow-Krankheit. Auch wenn er am Ende Onkel Wanja wissen lässt: „In diesem Landkreis gab es nur zwei anständige, intelligente Männer: du und ich“, reihen sie sich doch ein in die Kategorie der lächerlichen Menschen. Sie sind allesamt so lächerlich, dass es sich geradezu anbietet, ein Feuerwerk an Komik auf der Bühne zu zünden. Gute Regie zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie eben dies nur in Maßen tut, denn es sind allesamt auch tragische Menschen, weil hilf- und kraftlos.
So geschehen auf der Bühne der Münchner Kammerspiele. Es war unbedingt eine bemerkenswerte Arbeit von Karin Henkel, die Johan Simons wegen Erkrankung der Regisseurin zu Ende brachte. Simons hatte die Inszenierung zweieinhalb Wochen vor der Premiere übernommen. So kann man davon ausgehen, dass das ästhetische Konzept aus der Feder von Frau Henkel stammte, und das war erstaunlich. Wenn man bedenkt, dass das Tschechowsche Theater in der Umsetzung durch Stanislawaski sehr stark dem Naturalismus verhaftet war, überrascht doch, wie wirkungsvoll ein absoluter Gegenentwurf sein kann. Henkel verzichtete gänzlich auf Interieur, das an ein Gut erinnert. Lediglich ein kleiner schwarzer Guckkasten (Bühne: Muriel Gerstner) war den Darstellern gegeben, darin zu agieren. Gänge waren kaum möglich, ebenso große und ausladende Gesten. Die Charaktere mussten aus sich selbst heraus gestaltet werden, ohne Einbeziehung von effektvoller Theatermaschinerie. So blieb den Schauspielern kaum mehr, als die wunderbaren Texte mit minimalistischen Haltungen, Gesten und Mienen zu kommentieren. Das war hochkonzentriert, spannend und raumgreifend. Musikerin Pollyester sorgte mit wunderbarem Gesang russischer Weisen, begleitet von ihrer Bassgitarre für slawische Melancholie. Überflüssig, und angesichts der Formvollendung der Inszenierung auch ärgerlich, war die eingespielte Leuchtschrift mit in englischer (?) Sprache verfassten Fragen. Z.B.: „What if Lenin Hadn’t lived?”
Sämtliche Darsteller liefen dabei zu großer Form auf. Der Corona der lächerlichen Menschen stand Stephan Bissmeier als aufgeblasener, hypochondrischer und egomanischer Mensch vor. Als er am Ende den Verkauf des Gutes vorschlug, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, brachte das Wanja, gespielt von Benny Claessens, derart in Rage, dass er auf den Schwager schoss. Bissmeiers Flucht vor der Rache denunzierte den Professor zudem auch noch als einen ausgemachten Feigling. Sein Abgang war chaplinesk. Benny Claessens gab einen ebenso lächerlichen Menschen, der, bereits am frühen Morgen schon alkoholisiert, seinen trägen Körper längst nicht mehr hochbekam und die meiste Zeit auf der Bühnenrampe saß. Stefan Merkis Telgin war die typische positivistische Ordnungsmacht. Seine Kommentare verliefen sich immer wieder unerhört in den Wirrungen des Absurden. Dennoch war er, der es als Glück bezeichnet, ‚sich dort kratzen zu können, wo es juckt’, unverzichtbar für den Kosmos der Lächerlichkeiten. Wiebke Puls gab die schöne und begehrenswerte, aber doch uninteressierte und mit wenigen Talenten ausgestattete Ehefrau des Professors. Sie war im Stück die Figur, die die Verzweifelung und den Konflikt vorantrieb, denn sowohl Wanja, als auch der Arzt Iwan, wuchtig und sensibel zugleich durch Maximilian Simonischek gestaltet, hatten sich in sie verliebt. Hans Kremers Mutter des Professors, schwarz gewandet und erinnyenhaft, hatte das eigentliche Leben schon ausgehaucht. Sie (er) war vornehmlich dekorativ, aber das unbedingt mit Effekt. Die Entdeckung des Abends war Anna Drexler. Die Tatsache, dass sie Studentin der Falckenberg-Schule ist, lässt angesichts ihres schauspielerischen Repertoires und der Sicherheit, mit der sie das hässliche Entlein, die Tochter Sonja, gab, auf eine großartige Zukunft hoffen. Selten sah man so schräge und zugleich erfrischende Jugendlichkeit.
Der frenetische und nicht enden wollende Applaus des Publikums war gerechtfertigt und wohlverdient. Karin Henkel hatte Tschechow auf das Wesentliche reduziert und ihn in die Nähe von Beckett gerückt. (Das könnte durchaus auch hilfreich für das Verständnis von Beckett sein.) Das Zitat aus Becketts „Murphy“ trifft auf den Tschechowschen Kosmos ebenso zu, wie auf das Werk des Iren: „Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“ Wanja mag vorbei geschossen haben, Karin Henkel hatte es nicht getan!
Onkel Wanja
von Anton Tschechow
Stephan Bissmeier, Benny Claessens, Anna Drexler, Hans Kremer, Stefan Merki, Wiebke Puls, Maximilian Simonischek
Regie: Karin Henkel / Johan Simons
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Kammerspiele Fegefeuer in Ingolstadt von Marieluise Fleißer
Jedem seine Hölle
Olga ist schwanger. Das ist beinahe gleichbedeutend mit einem besiegelten Schicksal, zumindest in Ingolstadt. Roelle, der schlecht riechende Junge aus der Nachbarschaft nähert sich ihr immer wieder erfolglos an und wird als Abgewiesener zum Spielmacher. Doch er bleibt der von Olga verschmähte. Dabei ist er ein Besonderer, ein Heiliger. Er steht mit Engeln in Kontakt. Das seltsame Duo Gervasius und Protasius zwingen ihn, eine öffentliche Engelerscheinung herbeizuführen. Das Ergebnis ist ein Platzwunde an Roelles Kopf und seine Flucht ins Haus Berotters, Olgas und Schwester Clementines Vater. Olga geht in ihrer Verzweifelung in die Donau, doch Roelle rettet sie. Am Ende will Roelle beichten, doch er weiß nicht, wie er das anstellen soll und isst schließlich seinen Beichtzettel auf.
Es ist die Geschichte zweier ausgestoßener Menschen, die sich im Fegefeuer der Gesellschaft wiederfinden. Diese Gesellschaft zeichnet zwei Eigenschaften aus, die Gefangenheit in sich selbst und ihre inbrünstige Religiosität. Diese Religiosität führt jedoch nicht in die Erlösung, sondern ins Fegefeuer. In diesem Fegefeuer sind nicht nur die beiden Protagonisten Olga und Roelle, sondern die ganze Gesellschaft. Jedem ist seine Hölle gewiss und das nicht im Jenseits, sondern bereits im Diesseits. In ihrer Sehnsucht nach Liebe, Verständnis und ein Leben im Stand des Wohls kommunizieren sie nicht, sondern verletzten sich gegenseitig, wann und wo immer sie können. Und eben das bezeichnet das Fegefeuer.
Die Großartigkeit des Textes von Marieluise Fleißer resultiert aus dem unverstellten Blick auf die menschlichen Wesen, die gänzlich ungekünstelt und direkt unter die dramatische Lupe der großartigen Fleißer geraten waren. Obwohl alle Literatur mehr oder weniger fiktiv ist, lässt dieser Text vermuten, dass Frau Fleißer das Fegefeuer (in Ingolstadt) kennen gelernt hat. Die 1977 geborene Regisseurin Susanne Kennedy brachte dieses Fegefeuer auf die Bühne der Münchner Kammerspiele. Das ist nicht ohne Risiko, denn die sprachliche Gestaltung und auch das Sujet werden erst dann schlüssig, wenn deutlich hingewiesen wird auf Zeit und Raum des Geschehens. Nicht, dass das Thema nicht mehr aktuell wäre, doch heute würde Olga nicht mehr in die Donau gehen, sondern sich in einer Nachmittagstalkshow für bildungsferne Schichten mit Reolle auseinandersetzen und sich von neumalklugen Moderatorinnen die Welt erklären lassen. Doch Susanne Kennedy startete gar nicht erst den Versuch, dem Publikum die Modernität des Themas weiszumachen. Sie brachte einen konsequent artifiziellen Bilderreigen in einen Guckkasten und der wurde philosophisch verhandelt.
Konsequent artifiziell sollte hier unbedingt im Sinn des Wortes verstanden werden. Das Bühnenbild von Lena Müller bestand aus einem Guckkastenzimmer, meist gänzlich leer und mit einem weiß-bläulichen Anstrich, inklusive Gebrauchsspuren. Das Licht (Jürgen Kolb ) war häufig gleißend. Es war heiß (vom Fegefeuer). Die große Deckenlampe setzt knisternd immer wieder aus. Die Rückwand des Raumes vibrierte und ließ das kleine, aber gut sichtbare Kruzifix bedrohlich zittern. Es war, als tobte hinter der Wand eine gewaltige Feuersbrunst, die jeden Augenblick durch die Wand oder das einzige Fenster in der Rückwand zu brechen drohte. Das war kein konkreter Wohnraum, sondern so etwas wie ein Vorhof zur Hölle.
Gespielt wurden keine Szenen, sondern es wurden Bilder ausgestellt, in denen gesprochen wurde. Die Darsteller bewegten sich fast nie, verharrten in Posen und der Text wurde Playback gesprochen. Die getragene, langsame und introvertierte Sprechweise der Texte, die eingespielt wurden und zu denen die Darsteller mit großer Präzision die Lippen bewegten, waren scheinbar vom Körper abgekoppelt. Die Texte klangen, als würden sie aus dem tiefsten Innern der Figur, aus der „Seele“ heraus, aufsteigen, wie von einer Hefe getrieben. Damit erreichte Susanne Kennedy eine extreme Intensität und eine verblüffende Intimität. Die Szenen - „Bilder“ wechselten jeweils nach einem atmosphärischen Kurzschluss mit den dazugehörigen Geräuschen (Sounddesign: Richard Janssen), bei dem alles Licht verlöschte. Härtere Schnitte waren kaum denkbar.
Da es den Darstellern untersagt war, äußerlich zu spielen, von Hand- oder Kopfbewegungen einmal abgesehen, mussten innere Vorgänge sichtbar gemacht werden. Einmal mehr konnte der Zuschauer erleben, welche Klasse die Darsteller an den Kammerspielen haben. Sie alle waren in ihren Kostümen (Lotte Goos), in ihren Frisuren und in ihren Masken stark, aber immer noch maßvoll überzeichnet. Sie waren Kunstfiguren, hinter denen das menschlich Antlitz nicht verschwand. Schon die Bühne und die Ausstattung der Darsteller machte den Abend sehenswert.
Çigdem Tekes scharfkantige Olga war bereits von einem Bauch gezeichnet, wie man ihn frühestens im siebenten oder achten Monat hat. Anna Maria Sturm gab im schwarzen Minikleid und langen schwarzen Haaren die verbiesterte Schwester. Der Berotter von Walter Hess hätte in seinem schwarzen Anzug, mit schwarzer, dickrandiger Brille und kurzer schwarzer Mönchsfrisur dem Büro in einer Kafkaerzählung entsprungen sein können. Heidy Forster spielte eine unentwegt Gebete brabbelnde, essende oder fütternde, gänzlich in katholischem Schwarz gekleidete Mutter Roelle. Ihren Spross verkörperte Christian Löber in Netzhemd und beigefarbenen, knappen Hotpants. Mit seinem langen Haupthaar und seiner gelegentlich auf Kreuzigung hinweisende Haltung, verkörperte er tatsächlich etwas Messianisches. Marc Benjamin und Edmund Telgenkämper, zwei propere, stramme Buschen, ebenfalls in kurzen Hosen, gaben das seltsame Paar Protasius und Gervasius.
Drei Szenen ließ Susanne Kennedy mehrfach spielen. In der ersten, kurzen Szene schilderte Marc Benjamin/Protasius drei Mal die Rettung Olgas aus den Wassern der Donau, wobei er am Ende immer wieder drauf hinwies, dass er auf den letzten Metern Hand anlegte und sich so Menschlichkeit leistete. Die zweite, etwas längeren Szene handelte von den Selbstzweifeln Roelles, der beichten wollte, aber nicht mehr wusste wie er das anstellen sollte, und schließlich drei Mal seinen Beichtzettel aufaß. Und die dritte, lange Szene war zugleich das Schlussbild, in dem alle Beteiligten beteten. Diese inständigen Gebete wurden von Mal zu Mal in einer höheren Tonlage gesprochen und kulminierten schließlich in hysterischer, religiöser Entrückung.
Doch dieses letzte und wichtige Bild wurde bedauerlicherweise vom Premierenpublikum zerstört. Es waren einige Zeitgenossen im Saal, denen diese Wiederholungen auf die Nerven gingen, die sich bei mangelnder Sensibilität und wohl auch mangelnden Respekts den Darstellern gegenüber zu lautstarken, wenig qualifizierten Äußerungen hinreißen ließen. Eben dieses letzte Bild rundete diese schauspielerisch erstklassige, künstlerisch herausragende Inszenierung, die rundherum in Erstaunen und auch in Begeisterung versetzte, schlüssig ab. Über die Frage, warum diese hochpotente Inszenierung so stark polarisierte, zu so starken Unmutsäußerungen führte, kann nur spekuliert werden. Vielleicht lag es ja daran, dass der eine oder andere unbewusst von seiner eigene Hölle heimgesucht wurde? Verletzend waren die Äußerungen, wie die der Figuren im Stück, allemal.
Es bleibt zu hoffen, dass Frau Kennedy und ihren Mitstreitern vornehmlich die frenetische Begeisterung des Großteils des Publikums im Ohr geblieben ist. Mit „Fegefeuer in Ingolstadt“ schufen sie eine der ungewöhnlichsten und wertvollsten Inszenierungen dieser Spielzeit. Chapeau!
Wolf Banitzki
Fegefeuer in Ingolstadt
von Marieluise Fleißer
Marc Benjamin, Heidy Forster, Walter Hess, Christian Löber, Anna Maria Sturm, Çigdem Teke, Edmund Telgenkämper
Regie: Susanne Kennedy
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