Residenztheater Marat/Sade von Peter Weiss
Der rote Faden der Geschichte
Der ursprüngliche Titel des Dramas lautet „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“. Damit ist schon eine Menge erklärt. Die Namen Marat und de Sade stehen wie kaum andere Namen für weltanschauliche Gegensätze. Jean Paul Marat (1743-1793), glühender Revolutionär und Jakobiner, schwor auf einen kategorischen Sozialismus. Er wurde damit zum Sprachrohr und zur Galionsfigur der verarmten unteren Schichten der feudalabsolutistischen Gesellschaft Frankreichs, die in der Revolution die Erlösung sahen. Marat hieß das radikale Vorgehen gegen die Feinde gut und nahm die Hinrichtung zahlloser auch vermeintlicher Feinde hin. In dieser Zeit reichte eine simple Denunziation durch Nachbarn oder Verwandte, die zumeist auf das Vermögen der Denunzierten schielten, aus, um auf der Guillotine zu enden. Es handelte sich bei diesem Apparat um eine von dem französischen Arzt gleichen Namens entwickelte Köpfmaschine, die explizit den logistischen Anforderungen von Massenexekutionen während der Revolution gerecht wurde.
Donatien-Alphonse-François, Marquis de Sade (1740-1814) war ebenfalls ein Getriebener und Verfolgter seiner eigenen Klasse. Bei ihm war es allerdings sein sexueller Eskapismus oder auch „Sadismus“, der ihm immerhin zwei Todesurteile einbrachte und jahrelange Gefängnis- und Irrenhausaufenthalte bescherte. Als Feind seiner Klasse wurde er von den revolutionären Bürgern kurzzeitig als ein Verbündeter angesehen und 1790 aus der Bastille entlassen. Er wurde, da er radikale jakobinische Standpunkte vertrat und einen etwas sonderbaren utopischen Sozialismus propagierte, trotz seiner aristokratischen Herkunft sogar mit einem Richteramt betraut. Er rettete in dieser Funktion seine Schwiegereltern, die ihn vehement hatten verfolgen lassen, vor der Guillotine. Beide, Marat und de Sade wurden Opfer der Geschichte, der eine wurde in seiner Badewanne erstochen und der andere verfaulte ab April 1803 in der Irrenanstalt von Charenton-Saint-Maurice. Beide waren Protagonisten in ihren Weltanschauungen. Doch bekanntermaßen frisst die Revolution als erstes ihre Kinder.
Danach bringen die Pragmatiker die Welt dann wieder ins Lot und organisieren die Besitzstände neu und in der Regel zu ihren eigenen Gunsten oder zu Gunsten der Ihrigen. Eine Figur soll als besonderer Kontrast genannt werden: Joseph Fouché (1759-1820). Er brachte den Marquis de Sade 1801 erneut ins Gefängnis. Der Mann war vor der Revolution Polizeiminister, er erfand den modernen Polizeiapparat und war während der Revolution Jakobiner. Er stürzte Robespierre! 1793 wurde er nach Lyon gesandt, um den dortigen Aufstand der Konterrevolution niederzuschlagen. Er ordnete 1600 Exekutionen an, was ihm den Titel „der Schlächter von Lyon“ einbrachte. Er unterstützte Napoleon Bonaparte beim „Staatsstreich des 18. Brumaire VIII“ und machte sich als „Erster Konsul“ unentbehrlich. Ab 1804 hatte er wieder ein Ministeramt inne und wurde ein sehr, sehr reicher Mann mit Adelstitel. So sehen Sieger der Geschichte aus, die zugleich die Zerstörer aller guten Ansätze einer Umwälzung zu einer besseren Gesellschaft sind. Der rote Faden durch die Geschichte ist letztlich immer ein blutiger Strom!
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Charlotte Schwab, Nils Strunk
© Matthias Horn
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Das 1964 uraufgeführte Stück von Peter Weiss ist ein Diskurs über zwei Weltanschauungen, die Jean Paul Marats, der die Menschen in Brüderlichkeit und Gleichheit aufgehen sah und so zu einer besseren Welt kommen wollte (zahlreiche Opfer inbegriffen), und der des Marquis de Sade, der einen absoluten Individualismus predigte, der nur den Gesetzen der Natur folgen sollte. „Kann die Natur uns etwas diktieren oder inspirieren, was sie gleichzeitig beleidigt? (Die Philosophie im Boudoir) Der Atheist de Sade war damit durchaus Kind seiner Zeit, der Aufklärung von Voltaire und Rousseau. La Mettrie schrieb seinerzeit ein Buch mit dem Titel „Der Mensch als Maschine“. De Sade folgte dieser Idee und sprach dem Menschen schlichtweg die unsterbliche Seele ab, ein unerhörter Vorgang in einem katholischen Staat. Ebenso lehnte er die Gesetze ab: „Also, unsere staatliche Gesetzgebung oder unsere Gesetze werden doch nicht für den einzelnen Menschen oder Staatsbürger, sondern für die Allgemeinheit gemacht, weshalb sie ja auch im fortwährenden Widerspruch mit den persönlichen Interessen des Individuums stehen … als ob das persönliche Interesse stets mit dem allgemeinen Interesse identisch wäre. (…) Der vernünftige und der aufgeklärte helle Kopf wird sich also durch geeignete Vorsichtsmaßregeln, durch Verstand und Klugheit schon vor den Schlingen und Fallen der Gesetze zu hüten und zu schützen wissen.“ (Die Philosophie im Boudoir)
Peter Weiss ließ diese Weltanschauungen – nach dem Leninschen Sozialismus mit Millionen Opfern entpuppt sich heute der neoliberalistische Individualismus als eine ebenso fatale Sackgasse – aufeinanderprallen und eines ist schon mal sicher: Weder die eine noch die andere brachte uns bislang Erlösung. Diese Ernüchterung ist doch immerhin eine Einsicht und ein Anfang. Nur hilft sie bei dem momentanen Chaos nicht weiter und die Gefahr eines allumfassenden Fatalismus ist nicht zu leugnen. Übrigens, auch eine französische Erfindung – Denis Diderot: Jacques der Fatalist und sein Herr! 1796 (Hört! Hört!) erschienen und eine Geisteshaltung nach der Beendigung der Revolution durch Kaiser Napoleon.
Tina Lanik machte aus diesem Stück, das mit viel Pathos der Sprache und auch Pathos der Inhalte aufgeladen ist, wahrlich das Beste, ein furioses Theaterspektakel. Blutig ging es zu; es wurde aber nicht zu einer Horrorshow. Das Blut bildete das Schmiermittel der Geschichte, denn es troff seinerzeit aus allen Ritzen und floss die Straßen entlang. Das nüchterne Bühnenbild (Bühne/Kostüme Stefan Hageneier) aus Wandversatzstücken verhinderte Historisierungen, war funktional, flexibel und abwechslungsreich. Eine Vielzahl von Räumen, Gassen, Verschlägen war möglich. Sogar eine Guillotine war integriert. Die Kostüme indes hatten Zeitbezüge, waren sogar prachtvoll wie die von Lilith Häßle, die die Attentäterin Charlotte Corday gab. Charlotte Schwabs Marquis de Sade war ein fetter, aufgedunsener alter Mann, der sich nur unter Mühen fortbewegen konnte und sich zuletzt einfach, des ganzen Spektakels überdrüssig, in seine Irrenhauszelle zurückzog. Es sei daran erinnert, dass es seine Inszenierung im Irrenhaus war, die dort über die Bühne ging. Die Tatsache, dass es (Laien/Irren-)Theater auf dem Theater war, erklärt vielleicht die Feinrippunterwäsche des Chores, gespielt von Joachim Nimtz, Wolfram Rupperti und Götz Schulte und das Kostüm des Ausrufers. Michele Cuciuffo brillierte in dieser Rolle und trug viel dazu bei, dass es bei aller Schwere, die ein philosophisch-politischer Diskurs naturgemäß mit sich bringt, komödiantisch leicht blieb.
Nils Strunk gestaltete einen lebendigen und kraftvollen Jean Paul Marat, der in der historisch verbrieften Wirklichkeit eigentlich mit einer Skrofulose ans Bett, bzw. an die Badewanne gefesselt war. Als Ausgangspunkt diente und wurde zwischendrin auch immer wieder zitiert, das berühmte Gemälde „Der Tod des Marat“ von Jacques-Louis David. Nils Strunk nahm die Pose des Märtyrers immer wieder vorweg. Pauline Fusban als besorgte Lebensgefährtin Simonne Evrard quirlte hausfraulich durch die weltpolitischen Sphären, ernstlich und glaubhaft um das Wohl des Geliebten besorgt. Immerhin, Ordnung musste schließlich sein. Dennoch färbte sich letztlich alles zunehmend rot. Ein letzter Höhepunkt der Inszenierung war der letzte Auftritt Marats in der Nationalversammlung, in der er sich selbst als Tyrannen empfahl. Es ging ein Ruck durch das Residenztheater, als aus den hinteren Reihen des Publikums lautstark Widerspruch erhoben und polemisiert wurde. Hier zeigte sich, wie politisch wach das Münchner Publikum ist und dass es sich keineswegs einschüchtern lässt. Als schließlich auch der letzte begriffen hatte, dass es inszeniert war, war der Spuk auch schon vorbei und Marats Tötung stand nichts mehr im Weg.
Das Publikum feierte die Inszenierung und die Leistung des Ensembles durchaus zu recht, wenngleich der Abend wenig Erhellendes gegen die aufziehenden dunklen Wolken im Land beisteuern konnte. Doch, dass der Diskurs möglich ist, ist immer noch ein Hoffnungsschimmer. Die Qualität des Abends bestand vornehmlich in dem Spektakelhaften der Gesangseinlagen, der Kommentare durch den Ausrufer, der Laxheit, mit der historischer Granit geschreddert wurde. Das erzeugte eine Menge Lockerheit beim Publikum. Das Gegenteil davon wäre lähmende Angststarre. Somit hat diese Inszenierung ihre Aufgabe im Rahmen des Möglichen durchaus erfüllt. Vielleicht kommt ja demnächst ein visionärer Kopf um die Ecke und hilft der Welt mit einer praktikablen Utopie aus der Klemme. Besser, lasst uns selbst etwas einfallen …
Wolf Banitzki
Marat/Sade
von Peter Weiss
Mit Charlotte Schwab, Nils Strunk, Pauline Fusban, Lilith Häßle, Thomas Gräßle, Thomas Lettow, Michele Cuciuffo, Joachim Nimtz, Wolfram Rupperti, Götz Schulte
Regie Tina Lanik
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Residenztheater Don Karlos von Friedrich Schiller
Gedankenfreiheit braucht Freiheitsfähigkeit
Kaum ein anderes Werk trieb Friedrich Schiller so um wie „Don Carlos“. 1782 mit der Idee infiziert, begann er die Arbeit ein Jahr später mit dem Vorsatz, daraus ein politisches Drama zu machen, in dem die Inquisition an den Pranger gestellt werden sollte. Als Schiller nach einer einjährigen Pause im Jahr 1784 erneut daran ging, das Thema literarisch zu gestalten, merkte er an, es sei kein politisches Stück, sondern „ein Familiengemälde aus fürstlichem Hause“. Im März 1785 veröffentlichte Schiller teilweise die ersten drei Akte, zuletzt im Dezember 1786 im vierten Heft der von Göschen in Leipzig herausgegebenen Zeitschrift „Thalia“. Dieser, als „Thalia-Fassung“ in die Literaturgeschichte eingegangener Wortlaut, enthielt wesentlich stärkere antidespotische und antiklerikale Tendenzen als die letzte, kurz vor der Uraufführung entstandene (vorläufige) letzte Fassung vom Juli 1787. Schiller hatte darin viele radikale Positionen zurückgenommen oder abgemildert. Politische Rücksichten schienen ihm geboten; auch er musste seine Brötchen verdienen. Dennoch entstand die letzte Theaterfassung des Dramas erst in den Jahren 1801 und in seinem Todesjahr 1805. Die Gründe für die beinahe lebenslange Bearbeitung des Sujets war nicht zuletzt der Entwicklung des Dichters selbst geschuldet, der dreiundzwanzigjährig eine große Liebesgeschichte entdeckte, später viel politischen Sprengstoff wahrnahm und zuletzt seine klassisch-humanistische Grundhaltung über die Figur des Marquis von Posa definierte.
Die Uraufführung am 29. August 1787 und die folgenden Aufführungen in Mannheim, Leipzig und Berlin riefen eine aufgebrachte Kritik auf den Plan und Schiller sah sich veranlasst, in den „Zwölf Briefen zu Don Carlos“, herausgegeben von Wieland in „Der Teutsche Merkur“, das Drama, sich selbst und seine künstlerischen Ansätze und Absichten zu erklären. An dieser Stelle ist es reizvoll, einmal einen Blick in die Thalia-Fassung zu werfen, um das kühne Ausmaß der Schillerschen Angriffe, vornehmlich auf den Klerus zu verstehen. In der 1. Szene des 1. Aktes begegnet Don Carlos dem Beichtvater des Königs, Domingo, und begrüßt ihn wie folgt: „Bist d u nicht der Dominikanermönch, / Der in der fürchterlichen Ordenskutte / den Menschenmäkler machte? Bin ich irre? / Bist d u es nicht, der die Geheimnisse / der Ohrenbeichte um bares Geld verkaufte? / Bist d u es nicht, der unter Gottes Larve / Die freche Brunst in fremdem Ehebett löschte, / Den heißen Durst nach fremdem Golde kühlte, / Den Armen fraß und an dem Reichen saugte? / Bist d u es nicht, der ohne Menschlichkeit, / Ein Schlächterhund des h e i l i g e n G e r i c h t e s, / Die fetten Kälber in das Messer hetzte? / Bist d u der Henker nicht, der übermorgen, / Zum Schimpf des Christentums, das Flammenfest / Des Glaubens feiert und zu Gottes Ehre / Der Hölle die verfluchte Gastung gibt? / Betrüg ich mich. Bist d u der Teufel nicht, / Den das vereinigte Geschrei des Volkes, / Des Volks, das sonst an Henkerbühnen sich / Belustigt und an Scheiterhaufen weidet, / Den das vereinigte Geheul der Menschheit / Aus dem entweihten Orden stieß (…)“
Es ist schwer vorstellbar, dass Schiller seinerzeit, die katholische Kirche saß fest im Sattel, damit durchgekommen wäre. Doch bei genauerer Betrachtung hat sich doch in den zweihundert Jahren in Bezug auf die Kirche, recht wenig getan. Sie hat noch immer eine unheilige Allianz mit der Politik (der Staat treibt für die Kirche die Steuern ein), die Kirche ist als Bewahrer der hohen Moral kein Deut glaubhafter geworden (massenhaft missbrauchen Priester Kinder und auch den Exorzismus gibt es noch immer) und sie ist letztlich eines der am besten funktionierenden Geschäftsmodelle. Das Vermögen der katholischen Kirche macht schwindelig. Geschätzt: 250 Milliarden in Deutschland, mehr als VW, BMW und Daimler zusammen. Was hat sich also geändert seit Schiller? Die Scheiterhaufen sind nicht mehr öffentlich, im metaphorischen Sinn gibt es sie noch. Dabei ist es im Grunde ja völlig egal, wer die Macht im Lande ausübt, wenn sie denn vormundschaftlich und despotisch ausgeübt wird.
Das Thema ist aktuell, brandaktuell, und das zeigte auch Martin Kušejs Inszenierung am Residenztheater. Nachdem der Vorhang (3. Vorstellung) aufgegangen, die Bühne in pechschwarzes Dunkel getaucht war, erschienen aus den Gassen surrend zwei Drohnen, die Umgebung und auch das Publikum scannend. Die Botschaft war leicht verständlich. Der Staat wurde als ein despotischer, sein Volk als ein überwachtes ausgemacht. Dunkle Geschalten tauchen auf und entsorgen gepeinigte Menschen in ein Loch auf der Bühne. Wasser spritzte auf, vermutlich der Fluss der Geschichte, der seit Jahrtausenden die Opfer der Willkür davon schwemmt. Zwei knappe Szenen und wichtige Pflöcke waren eingeschlagen. Ein politisches Drama sollte kommen.
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Thomas Loibl (Philipp II)
© Matthias Horn
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Friedrich Luft schrieb 1950 anlässlich einer, seiner Ansicht nach gescheiterten „Don Carlos“-Inszenierung von Fritz Kortner am Berliner Hebbel-Theater: „Wer den ‚Carlos‘ spielt, muß sich entschließen. Er kann die Carlos-Posa-Tragödie in den Vordergrund nehmen, er kann das Phillip-Posa-Dilemma von Macht und Freiheit nach vorn rücken. Er kann, was selten geschieht, das Carlos-Elisabeth-Drama herausschälen.“ Hier irrte der Meister, denn Martin Kušej gelang es, ohne das Drama in irgendeiner Hinsicht zu vernachlässigen, alle Konflikte gleichermaßen aufs Tapet zu bringen und im Rahmen der Schillerschen Möglichkeiten, das Stück hat durchaus seine Tücken, auch zu bewältigen. Dass die reine Spielzeit vier Stunden dauerte, sollte dabei keinesfalls verschrecken. Spannend war es allemal.
Und grandios anzuhören war es ebenso, denn der Schillersche Vers wurde in seiner ganzen Schönheit, Intelligenz und seinem furiosen Duktus gesprochen. Das Bühnenbild von Annette Murschetz war gleichsam gewaltig und ebenso reduziert. Der einzige, immerhin sehr ausladende Innenraum, durch die Drehbühne sichtbar und unsichtbar gemacht, erinnerte an eine Mischung aus schalldichtem Studio/Verhörraum/Bollwerk und „Eiserne Jungfrau“, einem Folterkasten dessen Innenseiten mit eisernen Dornen bewehrt waren. Kaltes farbiges Licht disqualifizierte diesen Raum als Lebensraum. Ebenso kalt war das Licht der Macht, ausgegossen durch und von einem großen quadratischen Kristalllüster über schwarzer Bühne. Das vorherrschende Element war die Dunkelheit und das nicht von ungefähr, denn das Meiste, was auf der Bühne verhandelt wurde, musste das Licht scheuen.
Der Text ist so reich, so opulent, dass er keinerlei Überhöhung oder Illustrierung bedarf. Eine schlanke Darstellung, wie Kušej sie abrief, war ein gelungenes Maß. Ebenso maßvoll waren auch die Kostüme von Heide Kastler, über die Parallelen zur der Gegenwart zitiert, aber auch das Pathos der Stehkragen-Klassik präsentiert wurden, um letztlich, vermittelst Renaissancekostümen, daran zu erinnern, dass es sich um eine historische Begebenheit handelt, deren Wesen sich jedoch wie ein Wurm durch die Geschichte schlängelt. Manfred Zapatka trug als alternder und an der Schwelle des Todes stehender Großinquisitor mit Herzbeschwerden und heftigem Schütteltremor eine alltägliche Wachsjacke. Sein Zynismus war kaum mehr zu überbieten: Er verkörperte den großen Zorn der hinlänglich bekannten, alten, weißen Männer, die ihre eherne Ordnung bedroht sehen!
Alles waren Zeichen und alle machten Sinn. Und über allem schwebte ein bedrohlich grollender Klang (Musik Bert Wrede), der nicht Gutes verhieß. Das Licht von Tobias Löffler war ein echter Aktivposten im Ringen um künstlerische Überhöhung. Die grafischen Bilder aus Schwarz und Anthrazit, erzeugten dennoch keine Holzschnitte, sondern betonten die wichtigen und bei aller Düsternis wahrnehmbaren Nuancen im Spiel. Alles erhellendes Licht gab es nur ein Mal, als Marquis von Posa, wer sonst als Franz Pätzold, Philipp II., Thomas Loibl hatte ein wenig vom Wahnsinn seines Macbeth (Inszenierung A. Kriegenburg) hineingelegt, seine bekenntnishafte Rede hielt, in der er erklärte: „Ich kann nicht Fürstendiener sein“, und in der er schließlich forderte: „Geben Sie Gedankenfreiheit.“ Franz Pätzold beendete seine Rede mit einem dezenten Seufzer der Befreiung, ein schauspielerischer Geniestreich, der vermied, dass das Pathos, das durchaus Gänsehaut erzeugte, intellektuelle Ohnmachten bewirkte.
Einen ähnlich bemerkenswerten Auftritt hatte Meike Droste in der Rolle der Eboli. Diese Figur ist im Wesentlichen für den Untergang von Posa und Don Carlos mitverantwortlich. Als verschmähte Liebende muss sie erkennen, dass Don Carlos, heißblütig und emotional überschäumend von Nils Strunk gespielt, seine Stiefmutter liebt. Die Erkenntnis, welche Sprengkraft dieses Wissen hat, ließ sie augenblicklich zu einem Racheengel alttestamentarischen Ausmaßes wachsen. Nicht unerwähnt sollte auch die Darstellung des Herzogs von Alba durch Marcel Heuperman bleiben, der einen dümmlich tönenden, eitlen und in höchster Not auch physische Feigheit signalisierenden Großkopferten spielte.
Martin Kušej war es gelungen, die tragische Liebesgeschichte zwischen Elisabeth von Valois, moralisch makellos und rein von Lilith Häßle gegeben, und Don Carlos emotionsgeladen zu erzählen. Die wurde verwoben mit der tödlichen Freundschaft zwischen Posa und Carlos, in der die Liebe zwischen zwei gleichgesinnten Freunden, ein heute kaum mehr bekanntes Gefühl, noch ein erhebliches Gewicht hatte. Und es wurde der barbarisch anmutende Konflikt zwischen den Generationen, repräsentiert von Philipp und Carlos, abgehandelt, vor dem man fassungslos resigniert, denn er ist historisch weitestgehend verbrieft. Der Rest war Lüge, Intrige und Feigheit, seelische Verkümmerung und Speichelleckerei, Machbesessenheit und Empathiefreiheit. Die politische und soziale Freiheit des Individuums wurde indes nicht erlangt. Davor war die Inquisition.
Eine Erkenntnis Friedrich Schillers in der Auseinandersetzung auch mit diesem Stoff war seinerzeit mehr als ernüchternd, erlebte er in seinen letzten Jahren den Niedergang der französischen Revolution, in die er so große Hoffnungen gesetzt hatte. Und auch diese Erkenntnis betrifft das Hier und Jetzt. Nach Schiller muss der Mensch zur „Freiheitsfähigkeit“ erzogen und gebildet werden. Dabei setzte er auf die pädagogische Wirkung der Kunst. Seine Forderung sollte auch heute noch keinesfalls unbeachtet bleiben. Die Folgen der „Freiheitsunfähigkeit“ bei gleichzeitiger (relativer) Freiheit des Individuums treten in der heutigen Gesellschaft überdeutlich zutage, machen uns täglich aufs Neue fassungslos. „Gedankenfreiheit“ braucht „Freiheitsfähigkeit“. Ist die nicht gegeben, führt dieser Zustand nach Schiller zur „Diktatur des Pöbels“, und zwar zielsicher, wie die Geschichte zeigt.
Wolf Banitzki
Don Karlos
von Friedrich Schiller
Thomas Loibl, Lilith Häßle, Nils Strunk, Max Koch, Tim Werths, Anna Graenzer, Meike Droste, Franz Pätzold, Thomas Gräßle, Marcel Heuperman, Thomas Lettow, Wolfram Rupperti, Christian Erdt, Manfred Zapatka
Regie: Martin Kušej
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