Residenztheater Der nackte Wahnsinn von Michael Frayn


 

Leben trifft auf Spiel – oder umgekehrt

Martin Kušej läutete seinen Abschied ein und er machte dies mit einem echten Theaterkracher. „Der nackte Wahnsinn“, im Original „Noises Off“, von Michael Frayn ist Theater auf dem Theater und in Martin Kušejs Lesart eine echte Liebeserklärung. Er kann sich auch wahrlich nicht beklagen, denn in seiner Intendanz bescherte er sich einige wunderbare Erfolge und dem Münchner Publikum Theater vom Feinsten. Seine letzte Inszenierung spricht indes von den Mühen, Tücken und Kabalen, die der Beruf des Regisseurs, den Intendanten lassen wir einmal außen vor, mit sich bringt. Und weil Martin Kušej keine halben Sachen macht, riss er sich die Geschichte hemmungslos unter den Nagel und machte sie zur eigenen. So hieß der Regisseur des Stückes „Nackte Tatsachen“, das in der Geschichte von „Der nackte Wahnsinn“ inszeniert wird, Martin. Sämtliche Darsteller sprachen sich, wenn sie in den Rollen der Darsteller auf der Ebene „Der nackte Wahnsinn“ agieren, mit ihren tatsächlichen Vornamen an oder alternativ mit Schatz oder Schätzchen.

Um der unausweichlichen Verwirrung vorzubeugen, hier ein kurzer Abriss der Handlung: Im ersten Akt des Stückes „Der nackte Wahnsinn“ probt eine Theatertruppe unter der Regie Martins eine „Schlafzimmerfarce“, wie Michael Frayn sein Stück nannte. Spielort ist das Haus des Stückeschreibers Franz Xaver Hötz, der eigentlich in Spanien lebt, besser, auf der Flucht vor dem Finanzamt nach Spanien getürmt ist. Wer nun meint, es handle sich bei dem Autor um …, weit gefehlt, denn Namensgleichheiten sind purer Zufall und natürlich unbeabsichtigt. Hötz wird von dem hochsensiblen, häufig nasenblutenden Thomas gespielt, der wiederum von Thomas Loibl gestaltet wurde. Dessen Frau Belinda Hötz, verlieh Kata Gestalt, die im wahren Leben Katharina Pichler heißt. Das Haus wird von der Haushälterin Frau Klacker bewacht, die sich behaglich mit der Serie „Dalles“ und Sardinen eingerichtet hat. Ihr Name ist Sophie und die wiederum von Sophie von Kessel gespielt wurde.

In das vermeintlich leere Haus platzte nun der Makler Roger Trampelmann (von Völkers & Völkers oder so ähnlich), gespielt von Till, gespielt von Till Firit. Der sollte eigentlich das Haus verscherbeln, nutzte seine Schlüsselgewalt aber für ein Schäferstündchen mit Vicki, von der sehr ansehnlich gebauten, blonden Genija in Szene gesetzt, die wiederum von Genija Rykova verkörpert wurde. Vicki arbeitet auf dem Finanzamt und weiß um die Steuerflucht des Autors Hötz, was aber eigentlich nicht wirklich wichtig ist. Sie musste vornehmlich blond sein, sehr blond. Aus mehr oder weniger guten oder schlechten Gründen finden sich die beiden Paare, zuzüglich der Haushälterin gleichzeitig ein. Die Komik resultiert nun aus der Konstellation, dass sich die Figuren nicht wirklich begegnen und ständig aneinander bei wachsender Verwirrung vorbeilaufen, aber zumindest spüren, dass da was nicht stimmt. Zuletzt taucht auch noch ein Einbrecher auf, der von Paul, alias Paul Wolff-Plottegg gespielt wurde und der sich als Vater von Vicki entpuppte. Und im Sternzeichen der Sardinen wurde die Farce zu Ende gewuchtet…

Die Geschichte ist ziemlich schwachsinnig und soll es auch sein. Der erste Akt zeigte eigentlich eine technische Durchlaufprobe, die allerdings vom völlig entnervten Regisseur Martin zur Generalprobe ernannt wurde, da es nur noch wenige Stunden bis zur Premiere waren. Eigentlich funktionierte nichts und die Hauptakteure waren Regieassistentin Mechthild, eilfertig und duldsam von Nora Buzalka gegeben, die permanent Text rein reichen und Sardinen hinterhertragen musste. Ihr Leidensgenosse Herr Klemt, Inspizient seines Zeichens, war Blitzableiter, Schnellreparateur und Lückenbüßer für ausgefallene Schauspieler. Arthur Klemt gestaltete ihn als gehetzten Handwerker und ließ dabei keinen Zweifel aufkommen, dass er alles ist und sein kann, nur kein Schauspieler.

  Der Nackte Wahnsinn  
 

Norman Hacker, Till Firit, Paul Wolff-Plottegg, Genija Rykova, Thomas Loibl, Katharina Pichler, Sophie von Kessel

© Matthias Horn

 

Der zweite Akt zeigte, diesmal hinter der Bühne, von vorne war es ein durchaus attraktiver und großzügiger Villenbau mit Durchblick in den Garten (Annette Murschetz), die Vorstellung am dreißigsten Tag der Tournee, die übrigens durch Deutschland ging und zu diesem Zeitpunkt Bayern noch nicht bewältigt hatte. Tatsächlich erinnerte noch einiges an die Premierenfassung, doch eine zunehmende Erosion des Textes, der Handlung und auch der Darstellungskraft war unübersehbar. Der dritte Akt zeigte die letzte Tournee-Vorstellung und es bedurfte einer Menge Vorstellungskraft, um das ursprünglich Stück wiederzuerkennen. Die Darsteller waren inzwischen völlig demoralisiert, bereit, sich gegenseitig umzubringen, und das wichtigste Requisit war die Flasche, die ihre Kreise zog und einige aus der Bahn, resp. aus der Rolle warf. Den Rest erledigten die Sardinen, das eigentliche Mysterium des Abends.

Es war ein Spiel mit den Klischees, aber es ist ja durchaus bekannt, dass den Klischees eine Menge Wahrheiten innewohnen. Und es war gnadenlos überzeichnet, der zweite und dritte Akt bestand beinahe nur noch aus Slapstick. Es war dennoch nicht so weit überhöht, dass den Zuschauer nicht die Ahnung einholte, was es bedeuten kann, diesen Job tagein, tagaus zu machen. Der Wandel zwischen den Identitäten, die Eitelkeit, die vonnöten ist, auf die Bühne zu gehen und sich zu exponieren, die äußeren Rahmenbedingungen, die ein bürgerliches Leben mit seinen Annehmlichkeiten beinahe unmöglich macht, all das sieht der Zuschauer nicht, wenn er ins Theater geht, um sich die höheren kulturellen Weihen abzuholen. Es ist beneidenswert, spielen zu können und zu dürfen und dabei auch noch Applaus zu ernten, doch was, wenn man diese Tätigkeit als Broterwerb an einem C-Theater ausüben muss, getrieben von der Angst, das schlechtbezahlte Engagement zu verlieren, wenn das Leben auf das Spiel trifft – oder umgekehrt.

Viele fühlen sich zu diesem Spiel berufen, doch die wenigsten sind auserwählt, dies auch auf höchstem Niveau tun zu können. Den Darstellern des Residenztheaters ist dies vergönnt. Und es ist durchaus lobenswert, wenn sie gemeinsam mit Martin Kušej auch einmal auf die Kehrseite verweisen. Glanz und Elend liegen in dem Beruf des Theaterschauspielers wie in kaum einem anderen Beruf so dicht beieinander. Doch der Abend sollte nicht dazu dienen, düstere Betroffenheit beim Betrachter auszulösen, sondern Lachen. Und dem Publikum (2. Vorstellung) gefiel es gewaltig. Zahlreiche Bravos waren zu vernehmen, zu Recht!

Martin Kušej wird nach München den Olymp des deutschsprachigen Theaters, die Wiener Burg, erklimmen, es sei ihm von Herzen gegönnt. Mit dieser letzten Inszenierung erfuhr das Publikum immerhin noch ein paar persönliche Gedanken des so stilsicheren Intendanten, der sich über die Münchner Jahre hinweg keine private Blöße gab. So ließ er durch seinen Regisseur Martin in einem Nebensatz wissen, was er über das Theater auf der anderen Straßenseite der Maximilianstraße denkt. Sogar Selbstkritik klang mit, denn als dem Regisseur Martin vorgeworfen wurde, er regiere in „Gutsherrenmanier“, war ein Stichwort gefallen, das an den Weggang Shenja Lachers erinnerte. Durchaus ein Verlust für München.

Theater ist permanente Bewegung, Wechsel von Personen, Ideen und künstlerischen Auffassungen. Ein weiterer Wandel ist eingeläutet und es bleibt zu hoffen, dass Martin Kušejs Arbeit eine würdige Fortsetzung finden wird. In wieweit, mental und physisch, er noch hier in München ist, wissen nur Eingeweihte. Als Regisseur Martin in „Der nackte Wahnsinn“ zur Vorstellung auftauchte, seine ganze Hilflosigkeit angesichts des Chaos beschwor, probte er bereits den Hamlet in Wien.

Wolf Banitzki

 


Der nackte Wahnsinn

von Michael Frayn
Deutsch von Ursula Lyn

Norman Hacker, Sophie von Kessel, Till Firit, Genija Rykova, Thomas Loibl, Katharina Pichler, Paul Wolff-Plottegg, Nora Buzalka, Arthur Klemt

Regie: Martin Kušej

Residenztheater  Marat/Sade von Peter Weiss


Der rote Faden der Geschichte

Der ursprüngliche Titel des Dramas lautet „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“. Damit ist schon eine Menge erklärt. Die Namen Marat und de Sade stehen wie kaum andere Namen für weltanschauliche Gegensätze. Jean Paul Marat (1743-1793), glühender Revolutionär und Jakobiner, schwor auf einen kategorischen Sozialismus. Er wurde damit zum Sprachrohr und zur Galionsfigur der verarmten unteren Schichten der feudalabsolutistischen Gesellschaft Frankreichs, die in der Revolution die Erlösung sahen. Marat hieß das radikale Vorgehen gegen die Feinde gut und nahm die Hinrichtung zahlloser auch vermeintlicher Feinde hin. In dieser Zeit reichte eine simple Denunziation durch Nachbarn oder Verwandte, die zumeist auf das Vermögen der Denunzierten schielten, aus, um auf der Guillotine zu enden. Es handelte sich bei diesem Apparat um eine von dem französischen Arzt gleichen Namens entwickelte Köpfmaschine, die explizit den logistischen Anforderungen von Massenexekutionen während der Revolution gerecht wurde.

Donatien-Alphonse-François, Marquis de Sade (1740-1814) war ebenfalls ein Getriebener und Verfolgter seiner eigenen Klasse. Bei ihm war es allerdings sein sexueller Eskapismus oder auch „Sadismus“, der ihm immerhin zwei Todesurteile einbrachte und jahrelange Gefängnis- und Irrenhausaufenthalte bescherte. Als Feind seiner Klasse wurde er von den revolutionären Bürgern kurzzeitig als ein Verbündeter angesehen und 1790 aus der Bastille entlassen. Er wurde, da er radikale jakobinische Standpunkte vertrat und einen etwas sonderbaren utopischen Sozialismus propagierte, trotz seiner aristokratischen Herkunft sogar mit einem Richteramt betraut. Er rettete in dieser Funktion seine Schwiegereltern, die ihn vehement hatten verfolgen lassen, vor der Guillotine. Beide, Marat und de Sade wurden Opfer der Geschichte, der eine wurde in seiner Badewanne erstochen und der andere verfaulte ab April 1803 in der Irrenanstalt von Charenton-Saint-Maurice. Beide waren Protagonisten in ihren Weltanschauungen. Doch bekanntermaßen frisst die Revolution als erstes ihre Kinder.

Danach bringen die Pragmatiker die Welt dann wieder ins Lot und organisieren die Besitzstände neu und in der Regel zu ihren eigenen Gunsten oder zu Gunsten der Ihrigen. Eine Figur soll als besonderer Kontrast genannt werden: Joseph Fouché (1759-1820). Er brachte den Marquis de Sade 1801 erneut ins Gefängnis. Der Mann war vor der Revolution Polizeiminister, er erfand den modernen Polizeiapparat und war während der Revolution Jakobiner. Er stürzte Robespierre! 1793 wurde er nach Lyon gesandt, um den dortigen Aufstand der Konterrevolution niederzuschlagen. Er ordnete 1600 Exekutionen an, was ihm den Titel „der Schlächter von Lyon“ einbrachte. Er unterstützte Napoleon Bonaparte beim „Staatsstreich des 18. Brumaire VIII“ und machte sich als „Erster Konsul“ unentbehrlich. Ab 1804 hatte er wieder ein Ministeramt inne und wurde ein sehr, sehr reicher Mann mit Adelstitel. So sehen Sieger der Geschichte aus, die zugleich die Zerstörer aller guten Ansätze einer Umwälzung zu einer besseren Gesellschaft sind. Der rote Faden durch die Geschichte ist letztlich immer ein blutiger Strom!

 

 
  Marat Sade  
 

Charlotte Schwab, Nils Strunk

© Matthias Horn

 

Das 1964 uraufgeführte Stück von Peter Weiss ist ein Diskurs über zwei Weltanschauungen, die Jean Paul Marats, der die Menschen in Brüderlichkeit und Gleichheit aufgehen sah und so zu einer besseren Welt kommen wollte (zahlreiche Opfer inbegriffen), und der des Marquis de Sade, der einen absoluten Individualismus predigte, der nur den Gesetzen der Natur folgen sollte. „Kann die Natur uns etwas diktieren oder inspirieren, was sie gleichzeitig beleidigt? (Die Philosophie im Boudoir) Der Atheist de Sade war damit durchaus Kind seiner Zeit, der Aufklärung von Voltaire und Rousseau. La Mettrie schrieb seinerzeit ein Buch mit dem Titel „Der Mensch als Maschine“. De Sade folgte dieser Idee und sprach dem Menschen schlichtweg die unsterbliche Seele ab, ein unerhörter Vorgang in einem katholischen Staat. Ebenso lehnte er die Gesetze ab: „Also, unsere staatliche Gesetzgebung oder unsere Gesetze werden doch nicht für den einzelnen Menschen oder Staatsbürger, sondern für die Allgemeinheit gemacht, weshalb sie ja auch im fortwährenden Widerspruch mit den persönlichen Interessen des Individuums stehen … als ob das persönliche Interesse stets mit dem allgemeinen Interesse identisch wäre. (…) Der vernünftige und der aufgeklärte helle Kopf wird sich also durch geeignete Vorsichtsmaßregeln, durch Verstand und Klugheit schon vor den Schlingen und Fallen der Gesetze zu hüten und zu schützen wissen.“ (Die Philosophie im Boudoir)

Peter Weiss ließ diese Weltanschauungen – nach dem Leninschen Sozialismus mit Millionen Opfern entpuppt sich heute der neoliberalistische Individualismus als eine ebenso fatale Sackgasse – aufeinanderprallen und eines ist schon mal sicher: Weder die eine noch die andere brachte uns bislang Erlösung. Diese Ernüchterung ist doch immerhin eine Einsicht und ein Anfang. Nur hilft sie bei dem momentanen Chaos nicht weiter und die Gefahr eines allumfassenden Fatalismus ist nicht zu leugnen. Übrigens, auch eine französische Erfindung – Denis Diderot: Jacques der Fatalist und sein Herr! 1796 (Hört! Hört!) erschienen und eine Geisteshaltung nach der Beendigung der Revolution durch Kaiser Napoleon.

Tina Lanik machte aus diesem Stück, das mit viel Pathos der Sprache und auch Pathos der Inhalte aufgeladen ist, wahrlich das Beste, ein furioses Theaterspektakel. Blutig ging es zu; es wurde aber nicht zu einer Horrorshow. Das Blut bildete das Schmiermittel der Geschichte, denn es troff seinerzeit aus allen Ritzen und floss die Straßen entlang. Das nüchterne Bühnenbild (Bühne/Kostüme Stefan Hageneier) aus Wandversatzstücken verhinderte Historisierungen, war funktional, flexibel und abwechslungsreich. Eine Vielzahl von Räumen, Gassen, Verschlägen war möglich. Sogar eine Guillotine war integriert. Die Kostüme indes hatten Zeitbezüge, waren sogar prachtvoll wie die von Lilith Häßle, die die Attentäterin Charlotte Corday gab. Charlotte Schwabs Marquis de Sade war ein fetter, aufgedunsener alter Mann, der sich nur unter Mühen fortbewegen konnte und sich zuletzt einfach, des ganzen Spektakels überdrüssig, in seine Irrenhauszelle zurückzog. Es sei daran erinnert, dass es seine Inszenierung im Irrenhaus war, die dort über die Bühne ging. Die Tatsache, dass es (Laien/Irren-)Theater auf dem Theater war, erklärt vielleicht die Feinrippunterwäsche des Chores, gespielt von Joachim Nimtz, Wolfram Rupperti und Götz Schulte und das Kostüm des Ausrufers. Michele Cuciuffo brillierte in dieser Rolle und trug viel dazu bei, dass es bei aller Schwere, die ein philosophisch-politischer Diskurs naturgemäß mit sich bringt, komödiantisch leicht blieb.

Nils Strunk gestaltete einen lebendigen und kraftvollen Jean Paul Marat, der in der historisch verbrieften Wirklichkeit eigentlich mit einer Skrofulose ans Bett, bzw. an die Badewanne gefesselt war. Als Ausgangspunkt diente und wurde zwischendrin auch immer wieder zitiert, das berühmte Gemälde „Der Tod des Marat“ von Jacques-Louis David. Nils Strunk nahm die Pose des Märtyrers immer wieder vorweg. Pauline Fusban als besorgte Lebensgefährtin Simonne Evrard quirlte hausfraulich durch die weltpolitischen Sphären, ernstlich und glaubhaft um das Wohl des Geliebten besorgt. Immerhin, Ordnung musste schließlich sein. Dennoch färbte sich letztlich alles zunehmend rot. Ein letzter Höhepunkt der Inszenierung war der letzte Auftritt Marats in der Nationalversammlung, in der er sich selbst als Tyrannen empfahl. Es ging ein Ruck durch das Residenztheater, als aus den hinteren Reihen des Publikums lautstark Widerspruch erhoben und polemisiert wurde. Hier zeigte sich, wie politisch wach das Münchner Publikum ist und dass es sich keineswegs einschüchtern lässt. Als schließlich auch der letzte begriffen hatte, dass es inszeniert war, war der Spuk auch schon vorbei und Marats Tötung stand nichts mehr im Weg.

Das Publikum feierte die Inszenierung und die Leistung des Ensembles durchaus zu recht, wenngleich der Abend wenig Erhellendes gegen die aufziehenden dunklen Wolken im Land beisteuern konnte. Doch, dass der Diskurs möglich ist, ist immer noch ein Hoffnungsschimmer. Die Qualität des Abends bestand vornehmlich in dem Spektakelhaften der Gesangseinlagen, der Kommentare durch den Ausrufer, der Laxheit, mit der historischer Granit geschreddert wurde. Das erzeugte eine Menge Lockerheit beim Publikum. Das Gegenteil davon wäre lähmende Angststarre. Somit hat diese Inszenierung ihre Aufgabe im Rahmen des Möglichen durchaus erfüllt. Vielleicht kommt ja demnächst ein visionärer Kopf um die Ecke und hilft der Welt mit einer praktikablen Utopie aus der Klemme. Besser, lasst uns selbst etwas einfallen …

Wolf Banitzki


Marat/Sade

von Peter Weiss

Mit Charlotte Schwab, Nils Strunk, Pauline Fusban, Lilith Häßle, Thomas Gräßle, Thomas Lettow, Michele Cuciuffo, Joachim Nimtz, Wolfram Rupperti, Götz Schulte

Regie Tina Lanik

Residenztheater Don Karlos von Friedrich Schiller


 

Gedankenfreiheit braucht Freiheitsfähigkeit

Kaum ein anderes Werk trieb Friedrich Schiller so um wie „Don Carlos“. 1782 mit der Idee infiziert, begann er die Arbeit ein Jahr später mit dem Vorsatz, daraus ein politisches Drama zu machen, in dem die Inquisition an den Pranger gestellt werden sollte. Als Schiller nach einer einjährigen Pause im Jahr 1784 erneut daran ging, das Thema literarisch zu gestalten, merkte er an, es sei kein politisches Stück, sondern „ein Familiengemälde aus fürstlichem Hause“. Im März 1785 veröffentlichte Schiller teilweise die ersten drei Akte, zuletzt im Dezember 1786 im vierten Heft der von Göschen in Leipzig herausgegebenen Zeitschrift „Thalia“. Dieser, als „Thalia-Fassung“ in die Literaturgeschichte eingegangener Wortlaut, enthielt wesentlich stärkere antidespotische und antiklerikale Tendenzen als die letzte, kurz vor der Uraufführung entstandene (vorläufige) letzte Fassung vom Juli 1787. Schiller hatte darin viele radikale Positionen zurückgenommen oder abgemildert. Politische Rücksichten schienen ihm geboten; auch er musste seine Brötchen verdienen. Dennoch entstand die letzte Theaterfassung des Dramas erst in den Jahren 1801 und in seinem Todesjahr 1805. Die Gründe für die beinahe lebenslange Bearbeitung des Sujets war nicht zuletzt der Entwicklung des Dichters selbst geschuldet, der dreiundzwanzigjährig eine große Liebesgeschichte entdeckte, später viel politischen Sprengstoff wahrnahm und zuletzt seine klassisch-humanistische Grundhaltung über die Figur des Marquis von Posa definierte.

Die Uraufführung am 29. August 1787 und die folgenden Aufführungen in Mannheim, Leipzig und Berlin riefen eine aufgebrachte Kritik auf den Plan und Schiller sah sich veranlasst, in den „Zwölf Briefen zu Don Carlos“, herausgegeben von Wieland in „Der Teutsche Merkur“, das Drama, sich selbst und seine künstlerischen Ansätze und Absichten zu erklären. An dieser Stelle ist es reizvoll, einmal einen Blick in die Thalia-Fassung zu werfen, um das kühne Ausmaß der Schillerschen Angriffe, vornehmlich auf den Klerus zu verstehen. In der 1. Szene des 1. Aktes begegnet Don Carlos dem Beichtvater des Königs, Domingo, und begrüßt ihn wie folgt: „Bist d u nicht der Dominikanermönch, / Der in der fürchterlichen Ordenskutte / den Menschenmäkler machte? Bin ich irre? / Bist d u es nicht, der die Geheimnisse / der Ohrenbeichte um bares Geld verkaufte? / Bist d u es nicht, der unter Gottes Larve / Die freche Brunst in fremdem Ehebett löschte, / Den heißen Durst nach fremdem Golde kühlte, / Den Armen fraß und an dem Reichen saugte? / Bist d u es nicht, der ohne Menschlichkeit, / Ein Schlächterhund des h e i l i g e n G e r i c h t e s, / Die fetten Kälber in das Messer hetzte? / Bist d u der Henker nicht, der übermorgen, / Zum Schimpf des Christentums, das Flammenfest / Des Glaubens feiert und zu Gottes Ehre / Der Hölle die verfluchte Gastung gibt? / Betrüg ich mich. Bist d u der Teufel nicht, / Den das vereinigte Geschrei des Volkes, / Des Volks, das sonst an Henkerbühnen sich / Belustigt und an Scheiterhaufen weidet, / Den das vereinigte Geheul der Menschheit / Aus dem entweihten Orden stieß (…)“

Es ist schwer vorstellbar, dass Schiller seinerzeit, die katholische Kirche saß fest im Sattel, damit durchgekommen wäre. Doch bei genauerer Betrachtung hat sich doch in den zweihundert Jahren in Bezug auf die Kirche, recht wenig getan. Sie hat noch immer eine unheilige Allianz mit der Politik (der Staat treibt für die Kirche die Steuern ein), die Kirche ist als Bewahrer der hohen Moral kein Deut glaubhafter geworden (massenhaft missbrauchen Priester Kinder und auch den Exorzismus gibt es noch immer) und sie ist letztlich eines der am besten funktionierenden Geschäftsmodelle. Das Vermögen der katholischen Kirche macht schwindelig. Geschätzt: 250 Milliarden in Deutschland, mehr als VW, BMW und Daimler zusammen. Was hat sich also geändert seit Schiller? Die Scheiterhaufen sind nicht mehr öffentlich, im metaphorischen Sinn gibt es sie noch. Dabei ist es im Grunde ja völlig egal, wer die Macht im Lande ausübt, wenn sie denn vormundschaftlich und despotisch ausgeübt wird.

Das Thema ist aktuell, brandaktuell, und das zeigte auch Martin Kušejs Inszenierung am Residenztheater. Nachdem der Vorhang (3. Vorstellung) aufgegangen, die Bühne in pechschwarzes Dunkel getaucht war, erschienen aus den Gassen surrend zwei Drohnen, die Umgebung und auch das Publikum scannend. Die Botschaft war leicht verständlich. Der Staat wurde als ein despotischer, sein Volk als ein überwachtes ausgemacht. Dunkle Geschalten tauchen auf und entsorgen gepeinigte Menschen in ein Loch auf der Bühne. Wasser spritzte auf, vermutlich der Fluss der Geschichte, der seit Jahrtausenden die Opfer der Willkür davon schwemmt. Zwei knappe Szenen und wichtige Pflöcke waren eingeschlagen. Ein politisches Drama sollte kommen.

  Don Karlos  
 

Thomas Loibl (Philipp II)

© Matthias Horn

 

Friedrich Luft schrieb 1950 anlässlich einer, seiner Ansicht nach gescheiterten „Don Carlos“-Inszenierung von Fritz Kortner am Berliner Hebbel-Theater: „Wer den ‚Carlos‘ spielt, muß sich entschließen. Er kann die Carlos-Posa-Tragödie in den Vordergrund nehmen, er kann das Phillip-Posa-Dilemma von Macht und Freiheit nach vorn rücken. Er kann, was selten geschieht, das Carlos-Elisabeth-Drama herausschälen.“ Hier irrte der Meister, denn Martin Kušej gelang es, ohne das Drama in irgendeiner Hinsicht zu vernachlässigen, alle Konflikte gleichermaßen aufs Tapet zu bringen und im Rahmen der Schillerschen Möglichkeiten, das Stück hat durchaus seine Tücken, auch zu bewältigen. Dass die reine Spielzeit vier Stunden dauerte, sollte dabei keinesfalls verschrecken. Spannend war es allemal.

Und grandios anzuhören war es ebenso, denn der Schillersche Vers wurde in seiner ganzen Schönheit, Intelligenz und seinem furiosen Duktus gesprochen. Das Bühnenbild von Annette Murschetz war gleichsam gewaltig und ebenso reduziert. Der einzige, immerhin sehr ausladende Innenraum, durch die Drehbühne sichtbar und unsichtbar gemacht, erinnerte an eine Mischung aus schalldichtem Studio/Verhörraum/Bollwerk und „Eiserne Jungfrau“, einem Folterkasten dessen Innenseiten mit eisernen Dornen bewehrt waren. Kaltes farbiges Licht disqualifizierte diesen Raum als Lebensraum. Ebenso kalt war das Licht der Macht, ausgegossen durch und von einem großen quadratischen Kristalllüster über schwarzer Bühne. Das vorherrschende Element war die Dunkelheit und das nicht von ungefähr, denn das Meiste, was auf der Bühne verhandelt wurde, musste das Licht scheuen.

Der Text ist so reich, so opulent, dass er keinerlei Überhöhung oder Illustrierung bedarf. Eine schlanke Darstellung, wie Kušej sie abrief, war ein gelungenes Maß. Ebenso maßvoll waren auch die Kostüme von Heide Kastler, über die Parallelen zur der Gegenwart zitiert, aber auch das Pathos der Stehkragen-Klassik präsentiert wurden, um letztlich, vermittelst Renaissancekostümen, daran zu erinnern, dass es sich um eine historische Begebenheit handelt, deren Wesen sich jedoch wie ein Wurm durch die Geschichte schlängelt. Manfred Zapatka trug als alternder und an der Schwelle des Todes stehender Großinquisitor mit Herzbeschwerden und heftigem Schütteltremor eine alltägliche Wachsjacke. Sein Zynismus war kaum mehr zu überbieten: Er verkörperte den großen Zorn der hinlänglich bekannten, alten, weißen Männer, die ihre eherne Ordnung bedroht sehen!

Alles waren Zeichen und alle machten Sinn. Und über allem schwebte ein bedrohlich grollender Klang (Musik Bert Wrede), der nicht Gutes verhieß. Das Licht von Tobias Löffler war ein echter Aktivposten im Ringen um künstlerische Überhöhung. Die grafischen Bilder aus Schwarz und Anthrazit, erzeugten dennoch keine Holzschnitte, sondern betonten die wichtigen und bei aller Düsternis wahrnehmbaren Nuancen im Spiel. Alles erhellendes Licht gab es nur ein Mal, als Marquis von Posa, wer sonst als Franz Pätzold, Philipp II., Thomas Loibl hatte ein wenig vom Wahnsinn seines Macbeth (Inszenierung A. Kriegenburg) hineingelegt, seine bekenntnishafte Rede hielt, in der er erklärte: „Ich kann nicht Fürstendiener sein“, und in der er schließlich forderte: „Geben Sie Gedankenfreiheit.“ Franz Pätzold beendete seine Rede mit einem dezenten Seufzer der Befreiung, ein schauspielerischer Geniestreich, der vermied, dass das Pathos, das durchaus Gänsehaut erzeugte, intellektuelle Ohnmachten bewirkte.

Einen ähnlich bemerkenswerten Auftritt hatte Meike Droste in der Rolle der Eboli. Diese Figur ist im Wesentlichen für den Untergang von Posa und Don Carlos mitverantwortlich. Als verschmähte Liebende muss sie erkennen, dass Don Carlos, heißblütig und emotional überschäumend von Nils Strunk gespielt, seine Stiefmutter liebt. Die Erkenntnis, welche Sprengkraft dieses Wissen hat, ließ sie augenblicklich zu einem Racheengel alttestamentarischen Ausmaßes wachsen. Nicht unerwähnt sollte auch die Darstellung des Herzogs von Alba durch Marcel Heuperman bleiben, der einen dümmlich tönenden, eitlen und in höchster Not auch physische Feigheit signalisierenden Großkopferten spielte.

Martin Kušej war es gelungen, die tragische Liebesgeschichte zwischen Elisabeth von Valois, moralisch makellos und rein von Lilith Häßle gegeben, und Don Carlos emotionsgeladen zu erzählen. Die wurde verwoben mit der tödlichen Freundschaft zwischen Posa und Carlos, in der die Liebe zwischen zwei gleichgesinnten Freunden, ein heute kaum mehr bekanntes Gefühl, noch ein erhebliches Gewicht hatte. Und es wurde der barbarisch anmutende Konflikt zwischen den Generationen, repräsentiert von Philipp und Carlos, abgehandelt, vor dem man fassungslos resigniert, denn er ist historisch weitestgehend verbrieft. Der Rest war Lüge, Intrige und Feigheit, seelische Verkümmerung und Speichelleckerei, Machbesessenheit und Empathiefreiheit. Die politische und soziale Freiheit des Individuums wurde indes nicht erlangt. Davor war die Inquisition.

Eine Erkenntnis Friedrich Schillers in der Auseinandersetzung auch mit diesem Stoff war seinerzeit mehr als ernüchternd, erlebte er in seinen letzten Jahren den Niedergang der französischen Revolution, in die er so große Hoffnungen gesetzt hatte. Und auch diese Erkenntnis betrifft das Hier und Jetzt. Nach Schiller muss der Mensch zur „Freiheitsfähigkeit“ erzogen und gebildet werden. Dabei setzte er auf die pädagogische Wirkung der Kunst. Seine Forderung sollte auch heute noch keinesfalls unbeachtet bleiben. Die Folgen der „Freiheitsunfähigkeit“ bei gleichzeitiger (relativer) Freiheit des Individuums treten in der heutigen Gesellschaft überdeutlich zutage, machen uns täglich aufs Neue fassungslos. „Gedankenfreiheit“ braucht „Freiheitsfähigkeit“. Ist die nicht gegeben, führt dieser Zustand nach Schiller zur „Diktatur des Pöbels“, und zwar zielsicher, wie die Geschichte zeigt.

Wolf Banitzki

 


Don Karlos

von Friedrich Schiller

Thomas Loibl, Lilith Häßle, Nils Strunk, Max Koch, Tim Werths, Anna Graenzer, Meike Droste, Franz Pätzold, Thomas Gräßle, Marcel Heuperman, Thomas Lettow, Wolfram Rupperti, Christian Erdt, Manfred Zapatka

Regie: Martin Kušej

Residenztheater Don Juan von Molière


Zeitgenosse Don Juan

Im Barocktheater Spaniens, einem Land, das nie von einer religiösen Reformation heimgesucht wurde, gab es nur zwei Pole, in dessen Spannungsfeld alle Dramatik angesiedelt war: Glaube und Ehre. Und so ist durchaus verwunderlich, dass sich ein Mönch anschickte, der Sittenlosigkeit einen Namen, nämlich Don Juan, zu geben. Der Name des Dichters, der unter dem Namen Tirso de Molina als ein legitimer Nachfolger Lope de Vegas in die Literaturgeschichte einging, war Gabriel Tellez (1579-1648), ein angesehenes Mitglied des Mercenarier Ordens, der zeitweilig als Missionar in San Domingo tätig war und den im Alter die Würde des Komthurs von Soria schmückte. Er war ein Mann von begrenzter Fantasie und Gestaltungskraft, aber witzig und lebenserfahren. So erstaunt es auch nicht, dass in seinen Stücken, das bekannteste ist „Don Gil von den grünen Hosen“ und heute noch in den Spielplänen beheimatet, die Grenzen zwischen Moral und Unmoral fließend sind. Und obgleich bei de Molina die Männer zumeist als Schwächlinge und Zauderer in Erscheinung treten, wird ihm die theatralische Entdeckung des Don Juan in Verbindung mit der zum Leben erwachenden Statue des Comendadors zugeschrieben.

Das Stück in drei Akten mit dem Titel „Der Verführer von Sevilla oder Der steinerne Gast“ erschien 1617 und war ein sehr komplexes und verzweigtes Drama, in dem Don Juan mit größerer Lust am Betrug als am erotischen Vergnügen den Frauen die gesellschaftliche Voraussetzung für eine Ehe, nämlich die Jungfräulichkeit, raubt. Welche Sprengkraft dem Thema innewohnte, erahnte de Molina nicht. Er ahnte ganz sicher auch nicht, dass er mit diesem Sujet einen weit über die Literatur hinausgehenden großen Mythos neben dem Faust-Thema niederlegte, der seither jede Generation aufs Neue herausforderte.

Sichtbar wurde die immense Sprengkraft des Themas erst durch die Feder Molières, der jedoch nicht von der Vorlage de Molinas inspiriert wurde, sondern von „Der Verführer von Sevilla“ des Italieners Giliberto (1652). Molière schrieb sein Stück mit heißer Feder, denn er war mit seinem „Tartuffe“ derart unter Druck geraten, dass der Klerus den Kopf des Dichters forderte. Allerdings goss er mit seinem „Don Juan“ erneut Öl ins Feuer und nur dank der Protektion Ludwig XIV. wurde Schlimmeres verhindert. Das Stück geisterte schließlich in einer harmlosen Fassung von Corneille für lange Zeit durch die Spielpläne, bis sich Louis Jouvet (1887-1951) für die Molièresche Fassung stark machte und sie zur Aufführung brachte. In Molières Stück geht es nicht mehr um einen „intellektuell unauffälligen“ Nihilisten sondern um einen atheistischen Freigeist, der alle Ordnung, die göttliche und auch die menschliche, in Frage stellt. Er genießt die Verführung, wobei es ihm nicht um die erotische Lust geht, sondern um die Überwindung des Widerstands.

 

 
  Don Juan  
 

v.l. Marcel Heuperman (Pierrot), Aurel Manthei (Don Juan), Jürgen Stössinger (Don Louis), Franz Pätzold (Don Juan)

© Matthias Horn

 

Die Geschichte, wie sie von Molière erzählt wurde, ist im Vergleich zu de Molinas Drama kaum mehr als ein Fragment. Don Juan, bei Castorf gibt es gleich zwei von der Sorte damit die Dialektik und auch die Ambivalenz der Figur gewahrt bleibt, wurde von Franz Pätzold und Aurel Manthei zwillingshaft in Szene gesetzt. Sie spielten einander zu, aber auch gegeneinander, wenn es die Zielführung verlangte und sie verschmolzen miteinander in Selbstliebe, es war vermutlich die einzige aufrichtige Liebe. Den ängstlichen, von moralischen Skrupeln geplagten und rührend dümmlichen Diener Sganarelle verschmolz Castorf mit der Figur des Bauern Pierrot. Der wurde von Marcel Heupermann mit den genannten Attributen ausgestattet. Ihm verdankte die Inszenierung  ein wenig komödiantische Leichtigkeit in dem philosophischen und weltanschaulichen Gewitter, das der Maître des anarchischen Berserkertheaters auf die Bühne brachte. Allerdings muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass etwas auf überraschende Weise anders war. Die Darsteller gestalteten Rollen, zeigten Handwerk, transportierten stimmlich gestalteten Text, anstatt ihn frei von schauspielerischer Pose atemlos und unter extremen physischen Belastungen herauszubrüllen, wie man es aus den letzten vier Münchner Inszenierungen kannte.

Bibiana Beglaus Elvira, die von Don Juan (bei Molière) aus einem Kloster entführt, geheiratet und verlassen worden war, gab sich tatsächlich über weite Strecken larmoyant und auch am Rande des Wahnsinns, durchaus der Rolle entsprechend. Die Charlotte von Nora Buzalka war indes die einzige Figur, an der Castorf Erotik inhaltlich abarbeitete, allerdings in einem sehr unappetitlichen Tanz in Fäkalien. Die Folge (in der Vorstellung am 7. Juli) war eine spontane Flucht einiger Zuschauer. Eine erstaunlich kleine Nebenrolle im Stück wurde mit Julien Feuillet besetzt, die des Spitzels La Ramée. Bei Molière hat er einen kleinen Auftritt im 2. Akt 5. Szene, wo er als gedungener Spitzel Don Juan vor herannahenden Verfolgern warnt. Julien Feuillet hatte indes einige Auftritte mit gehörig viel Text, der sich dem Zuschauer jedoch nur erschloss, wenn er des Französischen mächtig ist. Ähnlich verhielt es sich mit Farah O'Bryant, die im Molièreschen Text die Mathurine, ein Bauernmädchen vorstellt. Immerhin lieferte Farah O'Bryant eine sinnlich fassbare Vorstellung von dem, worüber sehr häufig gesprochen wurde, von Erotik. Zuletzt schwebte sie als weißgefiederter Engel über die Bühne, ein grandioses Bild.

Nicht das einzige, wie sich denken lässt, denn wie bei allen vorangegangenen Inszenierungen am Münchner Residenztheater zeichnete Aleksandar Denić auch in dieser Arbeit von Castorf für die Bühne verantwortlich und auch dieses Mal war es ein kleiner Kosmos, der sich dem Zuschauer selbst über die ganze Länge des Abends kaum in Gänze erschloss. Es war eine barocke Guckkastenbühne, das Innere des Schlosses Don Juans, der Bauernhof Pierrots nebst Ziegenstall und den drei Ziegen Onyx, Saphir und Rubina. Es war ein Bad mit riesigem Zuber integriert und natürlich eine Hochterrasse, denn Denić baut zumeist vierstöckig. Aus Innenräumen wurde, wie gewohnt, per Videokamera auf zwei Screens übertragen. Ein Auftritt Jürgen Stössingers als Don Louis fand vor einer auf einen Vorhang projizierter Naturlandschaft von berückender Schönheit statt. Es gab Szenen von großer Klarheit, aber auch psychedelische Momente, in denen der Soundtrack von William Minke tragend war.
Alles war sehr aufwendig und detailbesessen konzipiert. Dabei dürfen die Kostüme von Adriana Braga Peretzki nicht unerwähnt bleiben, da sie die sämtlichen vier Jahrhunderte der Rezeptionsgeschichte mehr oder weniger deutlich illustrierten und zugleich von hohem Schauwert waren.

Frank Castorf bot, das entsprach auch ganz und gar den Erwartungen von Kennern seiner Inszenierungen, keinen „Don Juan“ von Molière, sondern einen Diskurs zum Thema. Dabei ließ er Georges Bataille, Heiner Müller, Blaise Pascal und Alexander Puschkin zu Wort kommen. Gedanken von Max Frisch, Albert Camus, Julia Kristeva, Ernst Bloch, Sören Kierkegaard, Bertolt Brecht, Egon Fridell, Hans Mayer, Michel Foucault, Jean Baudrillard und Friedrich Nietzsche fanden in den konzeptionellen Überlegungen gleichfalls ihren Niederschlag. Und so würde man der Inszenierung eher gerecht werden, nennte man sie eine Studienausgabe zum Thema Don Juan(ismus), nicht oder kaum rezipierbar in den vier Stunden und zehn Minuten (eine Pause), sondern um sie im summenden Kopf nach Hause zu tragen und darüber nachzudenken, oder natürlich auch nicht, so man nur als Konsument ins Theater geht. Das Programmheft ist dabei allemal sehr hilfreich.

Diskurse haben heutigen tags zumeist den Nachteil, dass Meinungspluralität bedient wird, sich selten jedoch ein Standpunkt herauskristallisiert, der Orientierung gibt. Castorf zeigt seinen Standpunkt in einem Filmchen nach der Höllenfahrt Don Juans. Darin schlendern Franz Pätzold und Aurel Manthei in trauter Zweisamkeit die Maximilianstraße entlang und betrachten die Schaufenster. In einem ist ein Schild zu lesen „Liberté, Égalité, Sexualité“. Don Juan ist in dieser Welt längst kein unmoralischer Zeitgenosse mehr. Wie auch, in Zeiten von: Jeder nehme sich, was er kriegen kann!

Auch in dieser Vorstellung gab es etliche Zuschauer, die nicht durchhielten, aus welchen Gründen auch immer. Eine Tortur für das Sitzfleisch und auch für die Aufnahmefähigkeit war es allemal, allein, es war für Castorfsche Verhältnisse ein stückweit gemäßigter, mit Momenten von Schauspielkunst, die der Regisseur oft zu Gunsten der unmittelbaren menschlichen Erscheinung des (auch leidenden) Darstellers zu verhindern suchte. Wer nun glaubt, Castorf sei müde geworden oder nach dem Verlust seines Reiches in Berlin, wo er seine Kunsttyrannei widerspruchslos ausleben konnte, angepasster, der irrt höchstwahrscheinlich. Und es bleibt auch zu hoffen, dass es nicht so ist, denn das letzte, was die Kunst gebrauchen kann, sind demokratische Strukturen im künstlerischen Schaffensprozess. Derartige Bemühungen, wenn man sie überhaupt so nennen kann, stranden zumeist im Mittelmaß.

Wolf Banitzki


Don Juan

von Molière
Deutsch von Hartmut Stenzel

Mit: Bibiana Beglau, Nora Buzalka, Julien Feuillet, Marcel Heuperman, Aurel Manthei, Farah O'Bryant, Franz Pätzold, Jürgen Stössinger

Regie Frank Castorf

Residenztheater Junk von Ayad Akhtar


 

Die Zerstörung als Geschäftsmodell

„Junk“ von Ayad Akhtar, dessen Stück „Geächtet“ im Februar 2016 von Antoine Uitdehaag mit großem Erfolg auf die Bühne des Residenztheaters gebracht worden war, wurde nun von Tina Lanik in Szene gesetzt. Es ist die Geschichte des Hedgefond-Managers Robert Merkin. Vorbild für die Figur war der „König der Junk-Bonds“ Michael Milken, der mit riskanten Hochzinsanleihen bis zu 100 % Renditen erwirtschaftete. 1989 wurde Milken vom New Yorker Bezirksstaatsanwalt Rudolph Giuliani, auf Grundlage des „RICO Acts“, ein 1970 erlassenes Bundesgesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (Mafia), wegen Finanzbetruges vor einem Bundesgericht angeklagt.

Milken gelang ein Deal, nachdem er sich in nur fünf Punkten für schuldig erklärt hatte. Gegen Zahlung eines Bußgeldes in Höhe von 200 Mio. Dollar wurden große Teile der Anklage fallen gelassen. 400 Mio. Dollar wurden für Vergleiche in Zivilprozessen fällig und 47 Mio. Dollar Bußgeld musste Milken zahlen, weil er als Berater gegen seinen lebenslangen Ausschluss vom Wertpapierhandel verstoßen hatte. Von der 10jährigen Gefängnisstrafe saß er lediglich 22 Monate ab. Sein geschätztes Vermögen belief sich 2010 auf 2 Milliarden US-Dollar. Rudolph Giuliani wurde Bürgermeister von New York und die Impulse, die Milken der US-Wirtschaft gab, führten zum Bankencrash und zum Platzen der Immobilienblase. Sehr viele Menschen verloren ihr Geld und sehr viele auch ihre Wohnungen. Dennoch ist das Geschäftsmodell geblieben und Banken zocken munter weiter.

Robert Merkin, als einen hellwachen und aalglatten Moralisten mit Überzeugung von Till Firit gespielt, plant die feindliche Übernahme eines seit drei Generationen in Familienbesitz befindlichen Stahlkonzerns. Besitzer ist Thomas Everson Jr., von Oliver Nägele als ein wirtschaftlicher Dinosaurier mit dünner Haut und Selbstzweifeln gestaltet. Der Konzern kriselt im Bereich Stahl, kann aber die Verluste mit Gewinnen aus der gutgehenden Pharma-Sparte ausgleichen. Merkins Schachzug ist der wohl denkbar perfideste, denn er organisiert Kredite, die er mit den zu erwartenden Vermögenswerten der übernommen Firma zu tilgen gedenkt. So zahlt die übernommene Firma quasi die eigene feindliche Übernahme. Nach der Übernahme wird der Konzern zerschlagen und die einzelnen Teile gewinnbringend verkauft. In Merkins Verständnis ist das ein notwendiger und der Gesundung der Wirtschaft dienender Schritt, denn kranke Teile der Wirtschaft werden so abgewickelt. Abgewickelt werden auch die Belegschaften, Lebensentwürfe dabei massenhaft ruiniert, während der Organisator dreistellige Millionenbeträge einstreicht. Vorbild Milken kassiert 1986 satte 550 Mio. Dollar an Gehalt und Bonus.

  Junk  
 

Ensemble

© Thomas Aurin

 

Natürlich kann ein Mann allein so eine Gipfelbesteigung nicht schaffen und so hatte Merkin ein Heer abrufbarer Tenzing Norgays. Boris Pronsky war einer seiner Sherpas. René Dumont gab ihn als schmierigen, geldgeilen Adlaten, der auf seine große Chance lauerte, endlich auch einmal als bedeutsamer Frontmann einer feindlichen Übernahme zu fungieren. Doch auch er kam ohne einen Handlanger nicht aus, denn die Wege des Geldes mussten schließlich unergründlich bleiben. Mark O'Hare war der Mann fürs Grobe, für Kauf und Verkauf von Aktien zuständig. Thomas Huber ließ ihn vor Grobschlächtigkeit und Indifferenz strotzen. Er war letztlich auch die Schwachstelle, an der Ermittler Kevin Walsh ansetzte, um die Schleier zu lüften. Philip Dechamps gab einen ambitionierten und korrekten Staatsdiener, der seinen Vorgesetzten, den Staatsanwalt Giuseppe Addesso, beinahe an den Tatort tragen musste, um dessen Aufmerksamkeit für die gewaltigen Dimensionen des verbrecherischen Treibens zu erregen. Michele Cuciuffo war jedoch mehr Politiker als Rechtsdiener und letztlich Gewinner, fiel doch beim Deal eine reichliche Wahlkampfspende ab, die ihm den Einzug ins Amt sicherte.

Robert Merkin agierte wie ein Jongleur, gab es doch etliche Bälle im Spiel zu halten. Einer von ihnen war Murray Lefkowitz, der sich mit 50 Mio. an der Übernahme beteiligt hatte und dessen Frau ihm wegen erwartbarer Arbeitsplatzvernichtung die Hölle zu bereiten drohte. Arthur Klemt spielte den Mann mit großer Bandbreite von heulendem Elend bis aufgeblasenem Großkotz, dessen Gier letztlich obsiegte und der noch einmal eine große Summe nachlegte. Merkin musste allerdings auch bei der eigenen Frau Amy Ängste besänftigen, die sich vor Armut (alles was sich jenseits von Reichtum befindet) ebenso fürchtete wie vor dem Verlust ihrer gesellschaftlichen Stellung. Katrin Röver gestaltete die Figur als mütterlicher Typ, die ihrem am Rande der Verzweiflung wandelnden Ehemann auch schon mal die Brust gab, um ihm Aufgehobenheit und Sicherheit zu suggerieren.

Israel Petermann war der Name des Mannes, der zukünftig die Geschicke des Stahlkonzerns nach der Übernahme leiten sollte. Gunther Eckes, in Rot gewandet, war indes auch nur ein Strohmann, dessen Nerven bisweilen blank lagen. Auch er musste von Merkin immer wieder in die Spur gebracht werden. Dabei soll unbedingt angemerkt werden, dass Ayad Akhtar keine dieser Figuren, mochten sie eine noch so verwerfliche Rolle spielen, billig denunzierte. Zu keinem Zeitpunkt trat es als moralischer Richter auf. Irritierend war indes auch der latente Antisemitismus in der Branche, der unterschwellig immer wieder aufglimmte. Auch hier wurde nicht in Schwarz-Weiß gemalt, sondern im Zweifel einfach nur im Raum stehen gelassen.

Der Gegenpartei, die Wirtschaftsfraktion des alten und gewachsenen Geldes, mangelte es indes an Fantasie, um den Ausgang der Geschichte zu sehen. Und so war es nur natürlich, dass der vermögende Leo Tresler seinen Freund Thomas Everson Jr. im Regen stehen ließ, als die Freundschaft zu teuer wurde. Manfred Zapatka verkörperte den Milliardärstyp, dessen Vermögen noch auf wertschaffender Arbeit basierte und der sich darum für einen verdienstvollen Schöpfer der Nation hielt. Seine Schwäche: die bezaubernde und furchtlose Journalistin Judy Chen, von Cynthia Micas gespielt. Sie arbeitete an einem Enthüllungsbuch, das ihr letztlich „abgekauft“ wurde und nicht erschien. Jeder scheint seinen Preis zu haben in der dramatischen Welt Ayad Akhtars. Und es steht zu befürchten, dass er Recht hat.

Tina Laniks Talent für große Bilder wurde von Stefan Hageneier wieder einmal kongenial umgesetzt. Der ganze Bühnenraum war eine Säulenhalle und die runden Räume bewegten sich auf der Drehbühne gleichgerichtet oder auch entgegengesetzt wie Zirkel, innere und äußere. Das Bild vergegenwärtigte einen großen Mechanismus, bestehend aus Abgrenzung, aus Bewegung und aus unerfindlicher Antriebskraft. Das ist zumindest das Bild, wie man es gern den restlichen Erdenbewohnern vorgaukeln möchte. Gottes Mühle, kalt und unmenschlich! Szenen- und Ortswechsel wurden über eine geschickte Lichtregie (Tobias Löffler) realisiert. Auf Requisiten wurde gänzlich verzichtet, was die Bilder noch unterkühlter machte. Ein zeitweise von der Decke herabhängendes ausgeweidetes Schwein war indes eine leider etwas banale Metapher. Mit dem Körper wurde die die kalte, abstrakte Welt des Geldes, die so perfekt und vollkommen gelungen war, wieder auf eine sinnlich erfahrbare Ebene gebracht.

Es war nicht immer ganz einfach, der Gehirnakrobatik der Welt des Geldes zu folgen, denn immerhin ist hier eine Welt geschaffen worden, die eigenen Gesetzen folgt, Gesetze die nicht der Natur entspringen, sondern pervertierten, religiösen Gehirnen. Und sie haben nur ein einziges Ziel, Geld zu raffen. Das Geld ist der letzte Gott. Das Geschäftsmodell ist Zerstörung, und wenn die Renditen stimmen, machen scheinbar alle mit, oder? Die Frage musste sich wohl jeder im Publikum stellen, denn es ist die Gretchenfrage unserer Zeit. Es geht dabei um nichts Geringeres als um die Zerstörung des Planeten. Und dabei wird nichts, aber auch gar nichts ausgespart.

Wolf Banitzki

 


Junk

von Ayad Akhtar
Deutsch von Michael Raab

Till Firit, Bijan Zamani, Gunther Eckes, René Dumont, Oliver Nägele, Götz Schulte, Janina Schauer, Manfred Zapatka, Michele Cuciuffo, Philip Dechamps, Cynthia Micas, Katrin Röver, Thomas Huber, Paul Wolff-Plottegg, Arthur Klemt, Arnulf Schumacher, Peter Blum

Regie: Tina Lanik

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