Volkstheater Kleine Bühne Amsterdam von Maya Arad Yasur


 

Und Jan trinkt seinen Jenever

Einer jungen israelischen Violinistin flattert ein Brief der Stadtverwaltung Amsterdam in ihre Wohnung in der Amsterdamer Keizersgracht. Der Brief ist ihr unter der Tür hindurch geschoben worden. Vom Briefträger kann er nicht gewesen sein, denn Briefträger klingeln in Amsterdam nicht. Briefträger schieben Briefe grundsätzlich durch den Briefschlitz in der Eingangstür des Hauses. Sie arbeiten sich nicht zu den einzelnen Wohnungen durch. Vielleicht hat ihn aber auch Jan, der alte, griesgrämige, wortkarge Nachbar von Oben unter der Tür durchgeschoben. Das irritiert und verunsichert die junge Frau, die im neunten Monat schwanger ist. Der Brief enthält eine Gasrechnung für ihre Wohnung aus dem Jahr 1944. Die junge Violinistin beginnt Nachforschungen anzustellen, wen und was diese ominöse Rechnung betrifft. Nach vierundzwanzig Stunden kennt sie die Wahrheit, oder eine vermeintliche Wahrheit, denn eine Reise in den „Schacht“ der dunkelsten Geschichte Europas mit weltweit verheerenden Folgen ist ein Wagnis. Die junge Frau erfährt am eigenen Leib, dass die liberale und weltoffene Gesellschaft in Amsterdam gleichsam dunkle Flecken und schlecht verheilte Wunden aufweist.

Die israelische Autorin Maya Arad Yasur schuf mit ihrem dramatischen Text ein vielbeachtetes Werk, das schon durch die Form verblüfft. Es ist keine fertige Geschichte, gegenrecherchiert, streng durchkomponiert und am Ende verbindlich. Es ist vielmehr der sichtbare Entstehungsprozess einer Geschichte, an dem drei Darsteller beteiligt sind. Sie erklären den Status, spekulieren über den Fortgang, ja, sie streiten sogar um die bestmögliche oder glaubhafteste Lösung und treiben sich so gegenseitig rasant in der Erzählung voran. Am Ende gibt es einen Plot, der durchaus logisch erscheint, allerdings, wie die ganze Geschichte, Fiktion ist. Es lässt sich nicht verhehlen, dass das Konstrukt Schwächen aufweist. Dennoch ist die Fiktion gelungen und eine gelungene Fiktion zeichnet sich dadurch aus, dass sie genau so durchaus Realität hätte sein können. In einem Interview, abgedruckt im Programmheft zur Inszenierung, wird deutlich, dass sich die Autorin sehr gewissenhaft mit der Materie beschäftigt hat.

Maya Arad Yasur hat in Amsterdam Dramaturgie studiert und in der Stadt gelebt. Aus dem Text geht hervor, dass sie die Stadt wirklich kennengelernt hat und um die Mentalität ihrer Bewohner und deren politische Anschauungen weiß. Amsterdam und die ganze Niederlande lebten bis 1995 in der unerschütterlichen Vorstellung, dass sie ein leuchtendes moralisches Vorbild in Bezug auf Liberalität, Demokratie und Weltoffenheit seien. Doch dann mussten die Soldaten der niederländischen Blauhelmeinheit, die in Srebrenica während des serbischen Völkermordes stationiert waren, vor der Zweiten Kammer in Den Haag Tacheles reden und mit der Unschuld der Niederlande war es vorbei. Das Land war geradezu traumatisiert. Doch das Sündenregister war älter und keineswegs unbedeutend. Unter der Hand wurde immer wieder von Verstrickungen des Königshauses (Prinz Bernhard) mit den Nazis während des Dritten Reichs, insbesondere mit der Reiter SA gemunkelt. Selbst wissenschaftliche Belege wurden beigebracht. Doch, um es mit Morgenstern zu sagen: „Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“

  Amsterdam  
 

Philipp Lind, Jonathan Hutter , Nina Steils

© Gabriela Neeb

 

Maya Arad Yasur ist mit ihrem Text auf der Suche nach Antworten, beispielsweise, wie es möglich war, in einem Land, das durchaus heftigen Widerstand leistete, 75 % der Juden problemlos gefangen zu setzten und der Vernichtung zuzuführen. Ihre Antwort: „Ambtenaar Mentaliteit“ – Beamtenmentalität. Die Tatsache, dass es diese Mentalität in wohl allen Ländern gibt, entschuldigt nichts. Es liegt immerhin die Vermutung nahe, dass die Niederländer, wie die Deutschen auch, diesbezüglich musterhaft sind. Im selben Jahr, als die Niederlande öffentlich ihre Unschuld wegen Srebrenica verloren, berichtete das Deutsche Fernsehen von einem deutschen Skandal. Es stellte sich heraus, dass Deutschland eine große Menge Renten an Bewohner des Baltikums zahlt, die als Mitglieder der deutschen Wehrmacht unbeschreibliche Gräueltaten an ihren Mitmenschen begangen hatten. Die Opfer indes waren in ihrem jahrzehntelangen Kampf um Abfindungen oder Wiedergutmachungen leer ausgegangen. Die Reaktion aus den Niederlanden auf diese Sendung war verblüffend. Bereits am nächsten Tag gingen im deutschen Auswärtigen Amt eine Vielzahl von Anfragen von Niederländischen Staatsbürgern ein, die ebenfalls Rentenansprüche geltend machen wollten, weil sie mit den Nazis kollaboriert und unter ihnen gedient hatten. Soviel zum Thema „Beamtenmentalität“.

Die 1989 in Israel geborene und dort aufgewachsene Regisseurin Sapir Heller brachte Maya Arad Yasurs Werk nun in deutschsprachiger Erstaufführung auf die Kleine Bühne des Münchner Volkstheaters. Für das einhundertminütige Spiel hatte Bühnenbildnerin Anna van Leen, die auch für die Kostüme verantwortlich zeigte, eine bewegliche, typisch beleuchtete Brücke auf die Bühne gebracht, die sowohl die Stadt Amsterdam trefflich charakterisierte, als auch als Wohnraum oder sogar als gynäkologischer Stuhl verwendet werden konnte. Die drei Darsteller Nina Steils, Jonathan Hutter und Philipp Lind spielten mit Verve und äußerster Präzision. Höchst lobenswert! Dabei verlangte ihnen die Regie nicht nur einen komplizierten, weil sprunghaften und nicht immer einem roten Faden folgenden Text ab, sondern auch artistische Einlagen. Die Spiellust war den Dreien anzusehen und die beflügelte auch das Publikum, durch eine Geschichte zu gehen, die zutiefst düster und bedrückend war. Sapir Heller überzeugte mit ihren szenischen Lösungen und mit der Führung ihrer Schauspieler von der ersten bis zur letzten Sekunde.

Dass die Inszenierung in keinem Moment in ein depressives Lamento abglitt, war zum einen der gewitzten musikalischen Begleitung durch Kim Ramona Ranalter zu danken. Andererseits erlaubte der Text, also die Sprachgestaltung der Autorin sehr komische Momente. Und hier kann man von einem besonderen Wert des Stückes sprechen, der heute recht selten geworden ist. Maya Arad Yasur ging völlig vorurteilsfrei an die Geschichte heran und erlaubte sich politische Unkorrektheiten in alle Richtungen, so dass sie einander zwangsläufig wieder aufhoben. Auf sehr erfrischende und lebendige Weise polterte sie durch die weltanschauliche Glasmenagerie, in der vor Korrektheit und Respekt längst alles zu erstarren beginnt und aus der das Leben zunehmend ausgesperrt wird.

Das ist eine Stimme, der man eine große Öffentlichkeit wünscht, denn sie ist bei aller Direktheit nicht ordinär oder beleidigend. Respekt und Rücksichtnahme werden, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, schon lange von Demagogen und Altvorderen als geistige Zuchtruten verwendet. Maya Arad Yasur und Sapir Heller haben die Servietten beiseitegelegt und sind gleich zum Hauptgang gekommen. Schmackhaft war es nicht immer, doch der Appetit auf Wahrheiten, mögen sie auch noch so unbequem sein, wurde ohne Frage bedient. Das erstaunlichste dabei: Es war eine rein fiktive Geschichte, die zahllose Wendungen nahm und auch ganz anders hätte zu Ende gehen können. Dass Jan zum Schluss seinen Jenever trank, war unbestritten ein starkes Ende.

Wolf Banitzki


Amsterdam (DEA)

von Maya Arad Yasur

Mit: Nina Steils, Jonathan Hutter, Philipp Lind

Regie: Sapir Heller

Volkstheater  Kurze Interviews mit fiesen Männern nach David Foster Wallace

 

Formel Eins auf dem Parcours der Sexualität

Galt der Mann über Jahrhunderte als das starke, die Welt und ihren Lauf voran bringende Geschlecht, fern jeder Kritikwürdigkeit, ist er heute Gegenstand einer erbarmungslosen Vivisektion. Das Ergebnis: Das heutige Männerbild ist ein entsetzliches. Der Mann ist vornehmlich ein egoistisches, aufgeblasenes, schwanzgesteuertes Subjekt, das die Frauen über Jahrtausende ausgenutzt, unterdrückt und missbraucht hat. Zumindest fühlt es sich momentan so an, wenn man sich in den Medien, auch in den sozialen Medien umschaut.

Tatsache ist, diese Ansicht verfehlt die Wahrheit nicht unbedingt. Der einzige Einwand dagegen: Man sollte nicht pauschalisieren. #Me too ist ohne Frage eine überfällige Bewegung, zumal der Mann, wie die momentanen Zustände gerade in der Politik und in der Wirtschaft zeigen, unbedingt unter eine vernünftige Kontrolle gebracht werden sollte. Und Frauen haben sich in der Geschichte durchaus als die besseren Zuchtmeister erwiesen. Doch auch hier sollte nicht pauschalisiert und darauf hingewiesen werden, dass eine Apartheid nicht selten durch die gegenteilige Apartheid abgelöst wurde. Es gibt auch eine Geschlechterapartheid! In aller Demut sei angemerkt, dass Frauen auch nur Menschen sind und da sollte genau darauf geschaut werden, ob es bei Gerechtigkeit bleibt oder nicht auch so manches Femegericht abgehalten wird. Dabei wären vor allem weniger Emotionen hilfreich.

Beinahe zwanzig Jahre ist es nun her, dass der virtuose Sprachgestalter David Foster Wallace seinen Erzählband „Brief Interviews with Hideous Men“ herausbrachte. Als sich Wallace im September 2008 in seinem Wohnhaus das Leben nahm, lagen zwei Jahrzehnte Depressionen und Drogen hinter ihm, aber auch ein literarisches Werk, das ihn in die erste Liga der amerikanischen Literatur beförderte. Seine zum Teil sehr komplexen Werke kreisen häufig um Protagonisten, die sich in Identitätskrisen befinden, die von einer quälenden Sehnsucht nach Dazugehörigkeit und Kommunikation getrieben sind. Dabei gelang Wallace die Verquickung von authentischer Sprache und enormen Wissensinhalten, die seine Hochbegabung in vielen Bereichen des Denkens widerspiegelten. In „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ geht es vornehmlich um das Verhältnis der „fiesen Männer“ zum anderen Geschlecht und zur eigenen Sexualität. Ein wesentlicher Aspekt dabei sind Versagensängste, nicht zuletzt resultierend aus der Unwissenheit, „was Frau eigentlich will“.

  Kurze Interviews mit fiesen  
 

Silas Breiding, Jonathan Müller, Jakob Immervoll

© Gabriela Neeb

 

In der von Abdullah Kenan Karaca auf der kleinen Bühne des Volkstheaters eingerichteten Inszenierung reflektieren drei junge Männer, die sich in einem vertrauten, kumpelhaften Verhältnis befinden, überwiegend ihre Gedanken, Ideen und auch Neurosen und Veranlagungen zum Thema Sexualität. In einem schmalen, langen Terrarium aus Gitterrosten am Boden, Gazewänden und marmorierten, flachen Decken (Bühne: Vincent Mesnaritsch) vergnügten sie sich mit männlichen Ritualen, die hauptsächlich darin bestanden, dem jeweils anderem Schmerzen im Genitalbereich oder an den Brustwarzen zuzufügen. Es sind infantile, grobe Späße, kindlichen Männerhirnen entsprungen. Da es sich bei der Vorlage nicht um ein dramatisches Werk handelt, gab es weder einen Plot, noch einen Handlungsfaden. Wichtigste Elemente der Aufführung waren drei bekenntnishafte Monologe, die es allerdings in sich hatten.

Der erste wurde gehalten von Silas Breiding. Er beinhaltete eine Masturbationsfantasie, die sich bei genauerer Betrachtung als physikalisch unlogisch erwies, da sie das Raum-Zeit-Kontinuum aushebelte. Die von Breiding dargestellte Figur sah sich gezwungen, seine Überlegungen und Berechnungen bis an den Rand des Universums auszudehnen, eine Arbeit, die ihm letztlich keinen Raum mehr für die Masturbation bot. Diese Szene gab Einblicke in die vielfachen Begabungen des Autors und seine intellektuelle Entgrenztheit. Breiding machte aus den Ausführungen ein Feuerwerk an Ideen und Rhetorik. Er erinnerte dabei bisweilen an Eddy Murphy oder an ein Maschinengewehrfeuer. Dafür bekam er, zu Recht, Szenenapplaus. (Vorstellung am 20. Dezember)

Den dritten Monolog sprach Jonathan Müller. Müller erzählte eine Geschichte aus der Kindheit seiner Figur, in der dessen Vater sich ihm scheinbar grundlos und schwer nachvollziehbar mit heruntergelassener Hose präsentierte und den Knaben quasi mit seinem Geschlechtsteil konfrontierte oder bedrohte. Dieses Trauma konnte der Knabe, selbst als er bereits erwachsen war und das Elternhaus verlassen hatte, nie überwinden. Einzige Möglichkeit, damit umzugehen war, es zu verdrängen, es auszublenden.

Der zweite Monolog war im Gegensatz zu den beiden anderen, die durchaus auch komische Züge aufwiesen, extrem bedrückend. Darin wurde über die Folgen einer Massenvergewaltigung nachgedacht und es wurden tatsächlich Ansätze gefunden, dass ein solches grausames und lebensbedrohliches Erlebnis eine bemerkenswerte und interessante Kehrseite hatte, nämlich eine existenzielle Erfahrung der extremsten Art, bei der man überlebt hatte. Damit verfügte das Opfer über einzigartiges Wissen. Jakob Immervoll transportierte diese perverse Idee mit einer hintergründigen Erregung, die das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Dieser Monolog war der Höhepunkt eines Theaterabends, von dem man im Grunde gar nicht recht wusste, was es sollte, noch, wohin er führen wollte. Es war wie ein Formel-Eins-Rennen auf dem Parcours der Sexualität. Es ging Runde um Runde immer nur im Kreis herum. Die Darsteller spielten mit äußerstem physischem Engagement und über weite Strecken waren die einhundert Minuten absolut sehenswert und mitreißend. Regisseur Karaca gelang eine adäquate Umsetzung der Gedanken und Ideen von Wallace, in denen es menschlich, zutiefst menschlich zuging und die durchaus von Aktualität zeugten.

Allein, es blieb, obgleich ästhetisch, wie auch darstellerisch gute Kunst gemacht wurde, ein Abend ohne Ausgang. Es sei denn, man begriff den Mann als ewigen Mann, unveränderlich, naturdominiert und seinen Obsessionen folgend. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass moralische Werte anerzogene oder erlernte Werte sind. Es scheint allerdings kein gültiges Regelwerk mehr zu geben, wenn ein Satz hingenommen wird, der wie folgt lautet: Nein heißt nicht ja, aber auch nicht nein.

Wir befinden uns zurzeit in einer Diskussionskultur, die nur ein Ziel zu kennen scheint, sich nur nicht festlegen müssen! Der Diskurs ist nicht das Mittel der Erkenntnis, sondern das eigentliche Ziel. Intellektuelle und argumentative Eloquenz ersetzen als neue und hippe Tugend Haltungen und konkrete Weltanschauungen. Ungeachtet dessen ist natürlich die Inszenierung am Volkstheater unbedingt aus mindestens zweierlei Gründen sehenswert: Zum einen wegen des ausgezeichneten Schauspiels der drei Darsteller, zum anderen wegen einiger Facetten männlicher Existenz, die abstoßen und anziehen zugleich und die mancher Zuschauer in dieser Form möglicherweise noch nicht kennt. So ist er nun mal, der Mann und nicht umsonst gibt es den Witz: Als Gott den Mann schuf, hat Sie nur geprobt!

Wolf Banitzki

 


Kurze Interviews mit fiesen Männern

nach David Foster Wallace

Mit: Silas Breiding, Jakob Immervoll, Jonathan Müller

Regie: Abdullah Kenan Karaca

Volkstheater  Die Dämonen von Fjodor M. Dostojewskij


 

Verführung ist kein Phänomen

Um ein Haar wäre uns Dostojewskij verlustig gegangen, denn die Hähne der Gewehre seines Erschießungskommandos waren bereits gespannt, als die Begnadigung durch den Zaren eintraf. Das war im Jahr 1849. Wessen hatte sich Dostojewskij schuldig gemacht, dass der Staat, hier der Zar, sein Leben forderte? Er war Anhänger der Ideen eines gewissen Wassiljewitsch Butaschewitsch-Petraschewski, der Mitte der 1840er Jahre den nach ihm benannten Zirkel begründet hatte. Petraschewskis Ideen waren beeinflusst von den französischen Frühsozialisten um Charles Fourier. Im Zirkel herrschte keine homogene Weltanschauung vor, vielmehr war es ein Debattierklub, in dem viele Anschauungen diskutiert wurden. In dem Roman „Die Dämonen“, geschrieben 1870 in Dresden, bekommt man reichliche Kostproben von diesem Weltanschauungspluralismus. In zwei Punkten war man sich im Wesentlichen doch einig: Unerträglich waren den Petraschewzen der zaristische Despotismus und die Leibeigenschaft. Das reichte seinerzeit aus, um sein Leben zu verlieren. Für Dostojewskij war das eine nachhaltige Lehre.

Eine russische Kleinstadt um die Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Elite, zumeist parasitär lebende Wohlstandsbürger geraten in Aufruhr, denn das Enfant terrible Nikolaj Stawrogin kehrt zurück. Und mit Stawrogin hält der Aufruhr Einzug in der Stadt. Das heißt, eigentlich ist er längst da, wird schnell und effizient organisiert. Das Ergebnis: eine revolutionäre Fünf-Mann-Zelle. Bislang geht es noch um nichts, um eine versteckte Druckmaschine. Doch mit Stawrogin, eine Figur, „von der der Marquis de Sade lernen könnte“, der indes eine Kopie des atheistischen Franzosen zu sein scheint, hält Pjotr Werchowenskij Einzug in der Stadt. Während Stawrogin ein narzisstischer Egoist und Nabob ist, verkörpert Werchowenskij den Typus des Berufsrevolutionärs. Er kennt nur ein Ziel, den Sturz der staatlichen Ordnung und die Anarchie. Er schart eine Gruppe junger Menschen um sich und versucht sie zu soldatischen Revolutionären heranzuziehen. Die Weltanschauungen und Unzufriedenheitspotenziale bilden eine vage Gemengelage und Werchowenskij treibt die Radikalisierung voran, um sie gefügig zu machen. Sein Plan ist simpel: „Überreden Sie vier Mitglieder einer Gruppe, den fünften um die Ecke zu bringen, unter dem Vorwand, dieser könnte sie denunzieren, und sogleich werden Sie alle durch das vergossene Blut wie durch einen einzigen Knoten aneinanderfesseln.“ Das Rekrutieren der Soldaten ist ein Leichtes für den eloquenten und aggressiv agitierenden Werchowenskij, doch er braucht eine charismatische Führerfigur. Dabei hat er Stawrogin im Auge. Doch der lässt sich von dem nihilistischen Demagogen nicht einfangen. Stawrogin ist keiner, ganz wie de Sade, der irgendwo „dazu gehören möchte“.

Langsam schaukeln sich die Aggressionen hoch, stetig angeheizt von Werchowenskij, und ehe er sich versieht, schlägt seine Gruppe ohne Befehl los. Sie stiften Brände in der Stadt und Aufruhr bricht aus. Werchowenskij, empört über diese mangelnde revolutionäre Disziplin, treibt seine Truppe weiter voran und schreitet zum Äußersten. Die vier jungen Männer werden gezwungen, den „fünften“, den Studenten Schatow zu töten, der aussteigen will, denn er sieht unerwartet Vaterfreuden entgegen und das verleiht seinem Leben wieder einen positiven Sinn. Die Tat wird vollbracht und dem Selbstmörder Alexej Kirillow in die Schuhe geschoben. Allerdings können die jungen Revolutionäre mit der Schuld nicht leben und gestehen öffentlich. Eine letzte Frage bleibt (unbeantwortet). War die revolutionäre Zelle die einzige in Russland, oder gibt es, wie der tyrannische Werchowenskij behauptet, tausende revolutionärer Zellen. Die konspirativen Regeln verboten schließlich aus Sicherheitsgründen den Kontakt der Zellen untereinander. War alles nur ein großer Betrug an den Unzufriedenen, hat man ihnen die Dämonen eingeblasen und sie haben einfach nur Verbrechen begangen?

  Die Daemonen  
 

Harry Schäfer, Pola Jane O´Mara, Silas Breiding, Mara Widmann, Jonathan Hutter

© Gabriela Neeb

 

So funktionierte Verführung, Verblendung und Radikalisierung. So funktioniert es auch heute noch. Und dass die Verführer und Demagogen diese Wahrheiten über ihr Treiben lieber unter dem Teppich halten wollen, beweist die Tatsache, dass Dostojewskijs dystopische Vision, gespeist aus eigener Erfahrung und mit scheinbar gesetzmäßiger Regelmäßigkeit immer wieder historische Realität geworden, in der Sowjetunion zwischen 1917 und 1989 nur ein Mal als Einzelausgabe erschien. Allerdings wurde die Auflage von 1935 noch vor der Auslieferung zurückgehalten und verschwand spurlos. In der DDR erschien der Roman sogar erst in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Der Grund dafür war eine beiläufige Aussage Lenins aus den zwanziger Jahren, dass der Roman die proletarische Revolution diskreditiere.

Dem jungen Regisseur Felix Hafner, der zuletzt mit der Inszenierung von „Schöne Neue Welt“ nach Aldous Huxley am Volkstheater Akzente setzte, gelang es tatsächlich, diesen 600 Seiten umfassenden Roman in seinen Grundzügen und Botschaften auf die Bühne zu bringen. Der Dramatisierung, bei allen Bemühungen blieb es doch weitestgehend ein Prosatext, muss Respekt gezollt werden, denn die Kunst des Weglassens, auch von Figuren, scheint der 1992 geborene Haffner zu beherrschen. Darüber hinaus hat er den Text mit einer in jeder Hinsicht ambitionierten Ästhetik transportiert. Die Kostüme von Slavna Martinovic waren historisierend und wiesen dabei Eigenheiten auf, die auch die Modeschöpferin in der Kostümbildnerin verrieten. Das Bühnenbild von Stefanie Grau bestand aus neun großen schwarzen Fahnen, die nach Bedarf umarrangiert werden konnten. Sechs große Gebläse brachten Bewegung in die Tücher und unter Zuhilfenahme von Bühnennebel ließen sich auch die erwähnten Feuersbrünste glaubhaft und eindrucksvoll realisieren. Die Musik von Clemens Wenger erzeugte zudem magische Momente in der artifiziellen Aufführung, die in manchen Szenen vom Schauspiel zu Tanztheater wechselte. (Choreographie: Dunja Jocic)

Das alles funktionierte recht gut, denn das Ensemble des Volkstheaters ist dafür bekannt, dass es nach Herausforderungen geradezu giert. So fand zuallererst feinstes Ensembletheater statt. Darüber hinaus gab es aber auch bemerkenswerte Einzelleistungen, allen voran Silas Breiding in der Rolle des Nikolaj Stawrogin. Sein Gestus, im Roman nennt man ihn auch Prinz Harry, hatte etwas von einem Unberührbaren. Keine Schandtat war ihm fremd und er gab seine Verbrechen auch unumwunden zu, wenn es die Situation zuließ, dennoch war er in seinem kategorischen Individualismus ebenso unfrei wie unglücklich. Das hatte er mit allen anderen Protagonisten gemein. Silas Breiding brachte die kontrastierende Abgehobenheit der Figur souverän zum Ausdruck. Man möchte meinen, er war endlich an einen Regisseur geraten, der um seine wirklichen Qualitäten weiß. Auffällig war auch Jonathan Müller, der zwei sehr unterschiedliche Rollen zu gestalten hatte, die des unauffälligen Beamten Wirginskij und die des moralisch völlig verwahrlosten Hauptmanns Lebjadkin, der dieser Aufgabe absolut gerecht wurde. Anfänglich etwas gewöhnungsbedürftig war die Gestaltung des Pjotr Werchowenskij durch Pola Jane O´Mara. Stepan Werchowenskij, Pjotrs Vater, philosophisch parlierend von Jörg Lichtenstein gespielt, ist ein ehemaliger Hochschuldozent, eine moralische Instanz im Ort. Pjotr Werchowenskij ist also ein „Lehrerkind“, ein Besessener, der nur ein Ziel hat: seine Adlaten gefügig und funktionierend zu machen. Das Indoktrinatorische ist dem Wesen der Figur eigen, auch wenn sie gelegentlich sehr schrill, sehr hektisch und sehr zappelig rüberkam: unangenehm, aber durchaus nicht ohne Sinn.

Die dreistündige Inszenierung ist, um es mal lax zu sagen, ein echter Brocken, den nur verdauen kann, wer der Geschichte erliegt und von ihr in den Bann geschlagen wird. Wem das nicht gelingt, sei es wegen der artifiziellen Ästhetik oder wegen der über längere Strecken fehlenden Dialogdramatik oder wegen der Fülle an intellektuellen Ausflügen in die nicht immer nachvollziehbaren Sphären der Philosophie oder der Religion, der wird unweigerlich quälende Längen empfinden.

Dennoch muss ein Stab für die Inszenierung gebrochen werden, da eine publikumsfreundliche Umsetzung des gewaltigen Stoffes kaum möglich ist. Ein zwingender Grund für den Besuch dieser Inszenierung ist die Aktualität, denn wir befinden uns in einer sehr ähnlichen Situation der Verunsicherung, des Mangels an Vertrauen in staatliche Institutionen und politischen Programmen. Und wir sehen überall die Brandstifter, die ungezügelt zündeln und unverhohlen die nächste Stufe der Eskalation von Gewalt predigen und vorbereiten. Dostojewskij hat in seinem Roman ein sehr klares und historisch fundamentiertes Bild vom Ergebnis dieser Entwicklung gezeichnet. Er hat dabei keinen Zweifel daran gelassen, dass Verführung kein Phänomen ist, sondern das Ergebnis zielgerichteter Arbeit von Verführern und Demagogen. Wenn etwas besonders einfach, einleuchtend, glaubhaft und vernünftig klingt, sollte man unbedingt erst einmal misstrauisch sein und hinterfragen. Die effektivste Lüge war noch immer die, die im einfachen, uns vertrauten Gewand daherkam.

Das gilt übrigens auch in Bezug auf Dostojewskij, einem der bedeutendsten Vertreter des Realismus des 19. Jahrhunderts, der sich selbst gern mit Rousseau verglich und der uns heute als integrer, den Humanismus und die Wahrheit befördernden Menschen in seinen Werken gegenübertritt. In seinem Roman „Die Dämonen“ gesteht Nikolaj Stawrogin, dass er ein junges Mädchen vergewaltigt hat, die sich schließlich das Leben nahm. In einem Brief vom 28. November 1883 beklagt sich der Philosoph N.N. Strachow beim Grafen L.N. Tolstoi, dass er Dostojewskij gegenüber eine tiefe Abscheu empfinde wegen dessen Eigenschaften. Er beschrieb den Schriftsteller als böse, gemein, lasterhaft und neidisch. Dostojewskij sei ebenso böse wie klug und Strachow erwähnte in diesem Brief, dass sich Dostojewskij einem Bekannten gegenüber rühmte, ein kleines Mädchen in einem Badehaus missbraucht zu haben, das ihm von dessen Gouvernante zugeführt worden war. Vielleicht wollte Dostojewskij sich mit diesem Buch auch von den eigenen Dämonen befreien.

Wolf Banitzki

 


Die Dämonen

Fjodor M. Dostojewskij
In der Übersetzung „Böse Geister“ von Swetlana Geier

Silas Breiding, Pola Jane O´Mara, Jakob Immervoll, Mara Widmann, Jonathan Hutter, Jonathan Müller, Harry Schäfer, Carolin Knab, Jörg Lichtenstein, Ensemble

Regie: Felix Hafner

Volkstheater  Glaube Liebe Hoffnung  von Ödön von Horváth und Lukas Kristl


 

Gegen den Strich gebürstet

Horváths Dramen sind Komödien und bedienen sich der Form des Volksstücks. Dabei entlarvte er idyllische Heimeligkeit als das Unheimliche, die bürgerliche Gemütlichkeit als Verrohung der Gefühle und zeigte überdeutlich die Bestialität des honorigen Bürgers. Ein Happy End kann es nicht geben. Kleine Leute haben halt kein Glück, selbst dann nicht, wenn sie alle Voraussetzungen mitbringen. Der Spruch, jeder ist seines Glückes Schmied, ist blanker Hohn.

Elisabeth, Tochter eines  verwitweten und mittellosen Versicherungsinspektors, ist motiviert und ambitioniert, ihren Platz im Weltgetriebe einzunehmen. Miederwaren, Korsette, Strapse, Büstenhalter, sind ihr Metier. Doch um in diesem Gewerbe tätig sein zu können, braucht sie einen Wandergewerbeschein. Um den zu bekommen, Preis 150 Mark, erscheint Elisabeth im Anatomischen Institut, um ihren Körper für wissenschaftliche Forschungen zu verkaufen – nach ihrem Ableben wohlgemerkt. Schnell stellt sich heraus, dass diese Annahme ein Mythos ist. So zumindest erklärt es ihr der amtierende Oberpräparator. Der Mann hat allerdings eine Sepsis, zugezogen im Dienst an der Leiche, und soll bald versterben. Der Präparator, der später auf den vakanten Posten des Oberpräparators nachrücken wird, ein skurril-spießiger Geselle, ist voller Mitleid für die aparte Elisabeth und leiht ihr das Geld für genannten Schein. Als er jedoch feststellen muss, dass Elisabeth das Geld anderweitig verwendet hat, fühlt er sich schmählich betrogen. Elisabeth hat das Geld für eine gerichtlich verfügte Strafzahlung verwendet, die ihr auferlegt worden war, weil sie ohne Wandergewerbeschein dem Gewerbe nachging. Inzwischen hat sie einen solchen, vorgestreckt von der Geschäftsfrau Prantl. Doch der nützt ihr nun nichts mehr, denn der Präparator bringt sie ins Zuchthaus. Nach der Entlassung trifft sie auf einen Polizisten, den sie an seine verstorbene Verlobte erinnert und der sie bei sich aufnimmt und aushält. Doch die „Macht des Schicksals“ ist unüberwindlich und als der Schupo von ihrer Vergangenheit erfährt, verstößt er sie. Elisabeth geht daraufhin ins Wasser.

Wäre es kein Horváthsches Stück, man würde die Geschichte wohl als Sozialkitsch verbuchen. Sein Genie ist schwer zu definieren. Am nächsten kam dem wohl Anton Kuh mit seinem Urteil, als er meinte, Horváth sei „ein amorphes Stück Natur; vulgär wie ein Noch-nicht-Literat, souverän wie ein Nicht-mehr-Literat; aus Elementarem und Dilettantischem gemengt. So könnte die Rohschrift eines großen satirischen Erzählers aussehen; aber auch die Reinschrift eines genialen Abenteurers, der sich für einen Schriftsteller ausgibt.“ Als Regisseur war man bislang eigentlich immer auf der sicheren Seite, wenn man sich vor den Geschichten Horváths verbeugt und sie schlichtweg wiedergibt. Die Wirkung kann einfach nicht ausbleiben! Doch es gibt auch Stimmen, die vor dem emotionalen Minenfeld warnen, auf das man sich begibt, um darauf zu fallen und dem eigenen Sentiment zu erliegen. Stichwort Brecht, der mit seinem epischen Theater vor genau diesen Bewusstlosigkeiten warnte und mit seinem Verfremdungseffekt gegensteuerte. Ihm ging es um ein kritisches Publikum, das den Illusionen nicht willig erlag und einen klaren Kopf behielt.

  Glaube Liebe Hoffnung  
 

Nina Steils, Jakob Geßner

© Gabriela Neeb

 

Christian Stückl hat sich dieser Methode bedient und Horváths Stück kräftig gegen den Strich gebürstet. Und siehe da: Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Das Bühnenbild von Stefan Hageneier verlagerte die Spielebenen auf die Horizontale und hielt fünf sich perspektivisch verkleinernde, von einander trennbare, in die Tiefe der Bühne gestaffelten schwarze Räume vor. Dadurch ließen sich unterschiedlichste Spielorte definieren, von der intimen Klause bis hin zur metaphorischen Straße des Lebens. In allen Räumen befanden sich schwarze Tische, Bänke und Hocker. Sämtliche Plätze glichen einander und meinten einen einzigen: einen anatomischen Präparationssaal. Hageneiers Kostüme suggerierten außerdem die Welten des René Magritte. Die Männer waren in schwarzen Anzügen und Mänteln gewandet und trugen die für den belgischen Surrealisten so typischen Bowler-Hüte. Die Szene erschien dystopisch surreal und kafkaesk. Um diesen Eindruck noch zu verstärken, ließ Christian Stückl die Darsteller die von ihnen gestalteten Figuren extrem stark überzeichnen.

Oleg Tikhomirov spielte seinen mit zahllosen Macken behafteten Präparator hart an der Grenze zum Kretinismus. Pascal Fliggs Amtsgerichtsrat war ein gewaltiger Furzer vor dem Herrn, durch dessen gutbürgerliche Fassade alle nur denkbaren Pathologien schimmerten, eine echte Bestie Mensch. Der Schupo von Jakob Geßner glich, wenn er dem gemeinsamen Bett mit Elisabeth entstieg, einem sich nobel spreizenden Tier. Dieser Polizist war ganz Körper, wohl, weil es der Figur an intelligentem Geist gebrach. Timocin Ziegler spielte einen blödsinnigen stumpfen Kellner, einen tierisch verschlagenen Schnorrer, einen den herannahenden Tod mit großer Geste ausstellenden Oberpräparator und eine lächerliche heroische Eintagsfliege als Lebensretter. Mauricio Hölzemanns Prostituierter entzog sich jeglicher Vorstellung. (So etwas hält niemand für möglich!) Als frisch aufgestiegener Vizepräparator wuchs er schier durch die Decke und als Kriminaler war er der rechte hölzerne Beamte mit dem Willen zur unbedingten Vollstreckung.

Die Damen des Ensembles fanden sich durchweg in den Rollen von Spielbällen der Männerwelt wieder. Am schrillsten gebärdete sich Carolin Hartmann in dem Part der Miederwarenhändlerin Irene Prantl. Im Gegensatz zu den männlichen Rollen resultierte bei ihr die extreme Expression vielmehr aus der Angst heraus, mit ihrer Unternehmung zu scheitern, und weniger aus einer charakterlichen Deformation. Abgeklärt und pragmatisch agierte sie hingegen als Prostituierte. Luise Deborah Daberkow spielte ihre Frau Amtsgerichtsrat mit derselben Haltung wie die der Prostituierten. Genau genommen war sie als Frau Amtsgerichtsrat auch nur eine Prostituierte. Ihr Versuch, im Miederwarenhandel eigenes Geld und somit Unabhängigkeit zu erlangen, lief letztlich auch nur auf Prostitution hinaus, denn um zu verkaufen, musste sie die Hüllen fallen lassen.

Die Rolle der Elisabeth war mit Nina Steils trefflich besetzt. Die fragil wirkende Frau, der es an Selbstbewusstsein nicht mangelte, war anfangs ein gesundes Geschöpf, das zwar nicht ohne Verzweiflung aber doch mit gehörigem Mut einer Welt entgegentrat, die Menschen wie sie lediglich als Fußabstreifer oder als Geschöpf zur schnellen Befriedigung betrachtete. Zum Schluss agierte sie ebenso schrill wie die anderen Figuren auch. Allerdings war sie nun, das eigene Leben verwerfend, zur Zynikerin geworden, die mit sich selbst und durch sich selbst gnadenlos anklagte.

Als der Vorhang nach einer turbulenten, irre komischen und grotesken Inszenierung fiel, hatte der Zuschauer unbedingt Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ gesehen, ohne dabei vor Betroffenheit über die (auch heutigen) Zustände zu greinen. Die Werktreue war gegeben, die Wirkung indes eine andere als üblich. Der Wirkung und der Botschaft hatte der radikale ästhetische Umgang grundsätzlich keinen Abbruch getan. Unterhaltsam war es bei aller Düsternis und Menschverachtung allemal. Christian Stückl hatte Mut bewiesen und sich weit hinausgelehnt mit seinem Konzept. Es hätte auch im peinlichen Klamauk untergehen können, tat es aber nicht. Dabei löste die Vorstellung vor allem keine Betroffenheit aus, denn es war mehr Brechtsches episches Theater für die Ratio, als Aristotelisches kathartisches für die Emotio. Das Ergebnis gab den Machern recht und es bleibt nur, ihnen aufrichtig Dank und Anerkennung zu zollen.

Wolf Banitzki

 


Glaube Liebe Hoffnung

von Ödön von Horváth und Lukas Kristl

Mit Nina Steils, Jakob Geßner, Pascal Fligg, Luise Deborah Daberkow, Carolin Hartmann, Oleg Tikhomirov, Timocin Ziegler, Mauricio Hölzemann

Regie: Christian Stückl

Volkstheater  Ein Sommernachtstraum von William Shakespeare


Nichts Neues aus dem Zauberwald

„Ein Sommernachtstraum“, eines der beliebtesten Stücke von Shakespeare, ist ein komplexes Gebilde. Möglicherweise für drei Aristokratenhochzeiten geschrieben, sollte es den Bräutigamen eine Warnung sein, ihr flatterhaftes Leben zu beenden und Verantwortung für die andere eheliche Hälfte zu übernehmen. Zugleich war es vermutlich ein Seitenhieb auf das grassierende Amateurtheater, das auf penetrante Weise die Einnahmen der professionellen Theater schmälerten. Erzählt wird von den Vorbereitungen zu der Hochzeit von Theseus, Herzog von Athen, mit der Amazonenkönigin Hippolyta. Da tritt unvermittelt ein Mann namens Egeus vor den Herrscher und fordert einen Richtspruch. Seine Tochter Hermia, die für eine Ehe mit Demetrius vorgesehen ist, liebt Lysander. Die Strafe für die Nichtbefolgung des väterlichen Willens: Tod oder Verbannung in ein Kloster. Die jungen Liebenden fliehen in den Athener Wald, verfolgt von Demetrius, der Hermia liebt. Er wiederum wird von Helena verfolgt, die ihn liebt, und um die Sache noch weiter zu verkomplizieren, liebt Lysander auch mal Helena. Kurz gesagt, jeder liebt irgendwann in dem Zauberreigen mal jeden. Parallel zu dieser Geschichte hat Oberon, der Elfenkönig Stress mit seiner Gattin Titania. Es geht um Eifersucht und Seitensprünge. Um Titania zu bestrafen, schickt Oberon seinen Diener Puck aus, um den Saft einer Wunderblume zu beschaffen.

Dieser Saft bewirkt, dass die mit ihm infizierte Person sich in das erstbeste Geschöpf verliebt, dessen sie ansichtig wird. Puck, ein eigenwilliger Geselle, findet Vergnügen daran, die Paare zu verwirren. Höhepunkt ist die Vereinigung der verblendeten Titania mit dem Handwerker Zettel, der allerdings verzaubert und eselköpfig ist. Zettel ist Akteur der Handwerkertruppe, die das tragische Spiel von „Pyramus und Thisbe“ im Wald proben, um es zur Hochzeit des Athener Souveräns zur Aufführung zu bringen. Am Ende entzaubern Oberon und Puck alle Beteiligten wieder, außer Demetrius, der nun Helena liebt. Drei Paare heiraten zuletzt in wonniger Eintracht: Theseus und Hippolyta, Lysander und Hermia und Demetrius und Helena. Oberon und Titania versöhnen sich wieder nach der Theateraufführung und segnen die zukünftigen Sprösslinge der Paare.

Wer nun glaubt, dieser Theaterabend sprenge alle Grenzen, der sei vorab schon beruhigt, denn Regisseur Kieran Joel hat kräftig gestrichen und die aufgeblasene dreisträngige Geschichte auf die ständigen Verwirrungen und Verblendungen der vier jungen Leute Lysander, Hermia, Demetrius und Helena eingedampft. Oberon und Titania kamen vor und auch die Theatertruppe, bei Shakespeare Handwerker-Rüpel genannt. Von sechs an der Zahl im Text waren nur drei auf der Bühne übrig geblieben, die immer wieder scheinbar grundlos durch das Geschehen geisterten. Auf viele Personen wurde verzichtet und auch auf etliche, erklärende Szenen.

 

 
  Sommernachtstraum Volksthea  
 

Carolin Hartmann, Nina Steils, Jakob Geßner, Sebastian Schneider, Timocin Ziegler

© Arno Declair

 

Als Bühnenbild übernahm Belle Santos, sie zeichnete auch für die Kostüme verantwortlich, das Sycamore Grove Theater aus dem Film „Romeo & Juliet“ (Regie: Baz Luhrmann 1996), ein die Antike beschwörendes abbruchreifes Amphitheater. Die vier jugendlichen Protagonisten, gespielt von Nina Steils, Carolin Hartmann, Sebastian Schneider und Timocin Ziegler steckten in identischen Kostümen und unter identischen, ziemlich blöd aussehenden Pagenkopfperücken, so dass das Verwechselungsspiel schon mal an individueller Bedeutung verlor. Egal, wer mit wem… Tatsächlich wurden auch immer wieder dieselben Texte gesprochen, wenn es um Liebesschwüre, Anbetungen oder Ablehnungen ging. Die eigentliche Hauptfigur war indes Puck, der exemplarisch vor Augen führte, wie wenig verlässlich die Liebe doch im Grunde sei. Max Wagner, bewaffnet mit seiner Wunderblume, in überwiegend zeitlosen Kostümen, nur zuletzt erschien er im Harlekinkostüm, mischte das Spiel immer wieder auf, distanziert, herablassend und emotionslos, ein wahrer Advocatus Diaboli.

Zwischendrin die drei Handwerker-Rüpel: Jakob Geßner als Zettel, Mauricio Hölzemann als Squenz und Oleg Tikhomirov in der Rolle des Flaut. Ihre Kostüme verwiesen auf sehr elegante und fantasievolle Weise auf das elisabethanische Theater. Allein, ihre Augen hatte etwas unterweltlerisches oder alienhaftes. Visuell war es ein illusterer eklektizistischer Entwurf, der sich auf nichts wirklich festlegen ließ. Es wurde quer durch die Kunstgeschichte zitiert. Noch einmal konterkariert wurde das zivilisatorische Ganze durch Pascal Fligg in der Rolle des Oberon und Luise Deborah Daberkow als seine Gattin Titania. Die beiden hätten gut und gerne Caliban (Das in der Unterwelt lebende Monster aus „Der Sturm“!) und dessen Schwester abgeben können. Beide gebärdeten sich ebenso animalisch und zügellos, wie sie scheußlich aussahen.

Nun kann man schwerlich behaupten, die Inszenierung hätte dem großen und großartigen Stück neue Offenbarungen entlockt. Das Regiekonzept zielte vielmehr auf das Spiel mit den altbekannten Wahrheiten über die Subjektivität von Liebenden, von der Wechselhaftigkeit der Gefühle und von dem Leiden, das Liebe häufig mit sich bringt. Es war eine sehr kurzweilige Inszenierung, die allerdings den Shakespeareschen Entwurf weder in der Breite der Handlung, noch in der Auslotung der psychologischen Tiefen umfänglich transportierte. Aber wem kann man schon vorwerfen, wenn er sich bei dem gut vierhundert Jahre alten Text bedient, um sich, seinen Mitstreitern und auch dem Publikum einen echten Spaß zu bereiten. Schon gar nicht, wenn er es schafft und das muss man Regisseur Kieran Joel und seinen Mitstreitern bescheinigen.

Wenngleich manche sich nur in anderer Figurenkonstellation mehrfach wiederholenden monotonen Szenen um den Kampf der Paare grenzwertig lang erschienen, waren doch die Auftritte von Max Wagner immer wieder erfrischend und belebend für das Spiel. Zudem hatten die Szenen der drei Handwerker-Rüpel oftmals zirzensischen Charakter, die einerseits das Zauberhafte des von Geistern, Feen, Trollen etc. beseelten Waldes lebendig werden ließ, die andererseits Slapstick nicht scheute. Einer der Höhepunkte war selbstredend die irrsinnig komische Aufführung des tragischen Spiels von „Pyramus und Thisbe“, an dessen Ende sich Zettel, gespielt von Jakob Geßner, in sein Schwert stürzte. Zettel, der ambitionierteste aller Handwerker-Darsteller, starb einen endlosen blutigen Operntod, der Steine zu Tränen gerührt hätte, wäre er nur irgendwann damit zu Ende gekommen.

Man mag geteilter Meinung darüber sein, ob eine so minimalistische Vorstellung vom Kosmos des gewaltigen Stückes gerechtfertigt oder dem toten Dichter gegenüber verantwortbar sei. Der Dichter ist tot und kann nicht mehr befragt werden. Und was den Kosmos des Stücks anbelangt, so ist es doch in erster Linie eine Komödie und soll unterhalten. Das war unbestritten der Fall. Zudem muss man den Machern eine ästhetische Geschlossenheit bestätigen, bei der auch die Videoprojektionen von Krzysztof Honowski und die Musik von Lenny Mockridge keinesfalls unerwähnt bleiben dürfen. Als sich das Stück mit einem (Playback) Gesangsduett Luise Deborah Daberkow als brünstige Titania und Jakob Geßner als ihr eselsköpfiger Liebhaber mit „Non Amarmi“ von Francesco Alotta verabschiedete, waren alle Vorbehalte ausgelöscht. In München ist Wies´n, also locker bleiben und Spaß haben.

Wolf Banitzki


Ein Sommernachtstraum

von William Shakespeare
Deutsch von Jürgen Gosch, Angela Schanelec und Wolfgang Wiens

Mit: Pascal Fligg, Luise Deborah Daberkow, Max Wagner, Nina Steils, Carolin Hartmann, Sebastian Schneider, Timocin Ziegler, Jakob Geßner, Mauricio Hölzemann, Oleg Tikhomirov

Regie: Kieran Joel

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