Volkstheater Das Schloss nach Franz Kafka


 

Theater total

K., Landvermesser seines Zeichens, ist endlich, nach langer beschwerlicher Reise, im tiefverschneiten, frostklirrenden  Dorf angekommen. Der Graf Westwest hat nach seinen Diensten verlangt. Für einen Besuch auf dem Schloss ist es zu spät und so fragt K. um eine Übernachtungsmöglichkeit im Wirtshaus nach. Dort erklärt man ihm, dass es einer Genehmigung bedürfe, denn sonst könnte ja jeder Landstreicher im Dorf Quartier nehmen. Die Genehmigung wird selbstredend vom „Schloss“ erteilt. Am nächsten Tag wird die Genehmigung erteilt und es hat den Anschein, als seien die Angaben K.s, er sei bestellter Landvermesser, bestätigt worden, doch darüber hinaus gab es keinerlei Direktiven, wie K. sich fürderhin verhalten solle.

K. beginnt zu begreifen, dass die ablehnende Haltung der Dörfler keine Böswilligkeit ist, sondern einer hierarchischen Ordnung geschuldet ist, die alles und jedermann im Griff zu haben scheint. Als seine Gehilfen anreisen, die K. auf dem Fuße folgten, erkennt er sie nicht als seine alten Gehilfen. Auch haben sie die nötigen Gerätschaften und Instrumente nicht dabei.  Alles mutet sehr seltsam an. Die Zeit vergeht und nichts geschieht. Alle Versuche, Kontakt mit dem Schloss aufzunehmen, scheitern und bald schon wird K. vom Leben eingeholt. Er beginnt eine Beziehung zu Frieda, dem Mädchen vom Ausschank. Als K. erfährt, dass Frieda die Geliebte Klamms, des Dorfvorstehers und direkten Vorgesetzten K.s, ist, bangt er um seine Stellung, die er ohnehin nicht wirklich innehat. Als Mann mit Grundsätzen hält er kurz und bündig um die Hand Friedas an. Dann überbringt ein Bote namens Barnabas einen Brief vom Schloss, in dem K.s Arbeit sehr lobend erwähnt und ihm eine baldige Entlohnung in Aussicht gestellt wird.

Als das Schloss schließlich erfährt, dass K. gar nicht als Landvermesser tätig ist, wird dem ratlosen Mann mitgeteilt, dass man sich gar nicht erklären kann, wie es überhaupt zu der Bestellung kommen konnte, hat man doch gar keinen Bedarf. Man ernennt ihn zum Schulgehilfen und weist ihm und seiner Braut, die unter seinen Händen zusehends verblüht, das jeweils unbenutzte Schulzimmer als Wohnstatt zu. K.s Verzweiflung wächst. Alle seine Versuche, die Situation zu klären, erregen Verdacht. Keckheit, wird ihm vorgeworfen, sogar Böswilligkeit. Der ersehnte Kontakt mit wichtigen Vorgesetzten aus dem Schloss erweist sich als Desaster. K. hat nicht in zufriedenstellendem Maße kooperiert.  Hoffnungs- und Ausweglosigkeit allenthalben.

  Das Schloss VT  
 

Mara Widmann, Silas Breiding, Jakob Geßner

© Arno Declair

 

Der 1982 in Lunéville geborene Regisseur Nicolas Charaux setzte Kafkas „geheimnisvollste und schönste Dichtung“ (Hermann Hesse) auf der Bühne des Volkstheaters in Szene. Ihm gelang eine furiose, hochartifizielle, faszinierende Inszenierung, die man getrost als Theaterereignis bezeichnen kann. Charauxs totales Theater verlangte den Darstellern, von denen keiner in den Vordergrund treten konnte, obgleich jeder seinen „großen Auftritt“ hatte, alles ab. Es wurden Dialoge auf komischste Weise in Onomatopoetik, in Lautmalerei verwandelt, die Darsteller hatten pantomimische und chorische Parts. Immer jedoch wurde ihnen eine totale Körperlichkeit abverlangt. Dabei gestaltete Charaux nicht einfach nur Szenen, in denen Protagonisten ausgestellt agierten, stets waren alle Darsteller in die Handlung und deren Fortgang einbezogen. Das muss man erst einmal können. Die Inszenierung war Schauspiel, Ballett und Sprechkunst, wobei die Darsteller auf Texte zurückgreifen konnten, die zu den schönsten und ausdrucksstärksten in der deutschen Literatursprache gerechnet werden können. (Spielfassung: Nicolas Charaux und Nikolai Ulbricht)

Die Bühne von Pia Greven bestand aus einem drehbaren, asymmetrischen  Raum, der durch Klapp/Faltrollos transparent gestaltet werden konnte. Dieser Raum stellte vornehmlich das Wirtshaus vor, das auch schon mal zur Tretmühle für K. wurde, wenn er in seiner Hilflosigkeit durch die Fallstricke der Hierarchien wandelte, zumeist geistig, denn eigentlich kam er der Hierarchie nie wirklich nahe. Die Kostüme von Cátia Palminha bestanden aus dicken braunen Pelzmänteln, Pelzkappen  und  grauer, angeschmutzter Overallunterwäsche. Irgendwie fühlte man sich in die Welt Roman Polanskis (Tanz der Vampire), auf den froststarren, tief verschneiten Balkan versetzt. Doch während der Film Polanskis eine heitere Komödie ist, transportierte die Volkstheaterinszenierung eine diffuse Angst, die heutigen tags sehr real zu sein scheint. Sind wir nicht auch Hierarchien ausgeliefert, die scheinbar unabhängig von unserem Willen Entscheidungen fällen, deren Ergebnissen wir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind? Kennen wir alle diese Hierarchien, die über uns entscheiden, überhaupt noch? Sind wir nicht auch schon in einem Selbstüberwachungsmodus, weil wir nicht mehr recht abschätzen können, welche Folgen unsere Worte oder unsere Handlungen für uns selbst haben können? Ist Keckheit nicht vielleicht ein anderes Wort für politische Unkorrektheit?  

Nicolas Charaux gelang mit seiner Arbeit etwas, was für Theater eine Höchstleistung bedeutet: Er unterhielt auf höchstem ästhetischen Niveau, war bildgewaltig in der lustvollen Körperlichkeit seiner Akteure, er war brandaktuell, was den emotionalen Status unserer Gesellschaft anbelangt und er schaffte das alles ohne platte politische Vordergründigkeiten. Dass er acht wunderbare Schauspieler unübersehbar glücklich gemacht hat, war dabei nur ein wundervoller Nebeneffekt.

Diese Inszenierung hat durchaus Maßstabcharakter, weil hier einer am Werk war, der ein großes Thema intellektuell bewältigte und zugleich eine kongeniale theaterale Bebilderung schuf, die dauerhaft im Gedächtnis bleiben wird. Dieses Vergnügen sollte man sich nicht entgehen lassen. In Zeiten von Performance, Politdiskurs oder einfach nur öder Selbstdarstellung kann hier erschaut werden, was bewegende Schauspielkunst wirklich zu leisten vermag. Chapeau und Danke!

Wolf  Banitzki


Das Schloss

nach Franz Kafka

Luise Kinner,  Pola Jane O´Mara, Mara Widmann,  Carolin Hartmann,  Jonathan Müller, Mehmet Sözer, Jakob Geßner,  Silas Breiding

Regie: Nicolas Charaux

Volkstheater  Medea von Euripides


 

Die „Barbaren“ sind immer die anderen, oder?

Stimmen unsichtbarer Frauen und Männer zischelten durch den Raum. Was und über wen sprachen sie? Über Medea, die Fremde, die Kolcherin, die Barbarin, die über gewaltige Kräfte verfügte, mit denen sie dennoch nicht im Stande war, ihren Mann, Jason, zu halten. Es gab nur Griechen und Barbaren und alle die waren Barbaren, die nicht Griechen waren. Für Jason, der, Opfer eine Kabale des Pelias, seinem Onkel, ausgezogen war, um im Land der Kolcher das goldene Fließ zu rauben, das irgendwann mal den Griechen gehörte, hat Medea ihren Bruder getötet und das Vaterland verraten.

Jedes erdenkliche Verbrechen hat die Enkelin von Helios, dem Sonnengott, auf ihr Haupt geladen, um den geliebten Mann zu beschützen. Sie schenkte ihm auf der rastlosen Flucht zwei Kinder und gemeinsam strandeten sie in Korinth, Exilanten ohne nennenswerte Zukunft. Jason ertrug seine Bedeutungslosigkeit nicht und schielte nach Glauke, der Tochter des Königs von Korinth. Die Königswürde rückte nah und näher. Er brauchte nur danach greifen, doch seine Ehefrau, Medea, stand zwischen ihm und dem neuen vermeintlichen Glück. Jason nutzte die Fremdartigkeit Medeas aus, die selbst keinen Fettnapf ausließ, sich unbeliebt zu machen. Angst machte sich breit in Korinth, denn insgeheim ahnte man, wozu diese wilde Kolcherin fähig ist. Die, halb wahnsinnig vor Schmerz, sann auf Rache und die konnte gründlicher kaum sein. Sie tötete Glauke, deren Vater König Kreon, und zuletzt noch ihre eigenen beiden Kinder, um den Verräter und Ehemann Jason auszulöschen.

Regisseur Abdullah Kenan Karaca ließ seine Inszenierung des antiken Dramas von Euripides, das 431 v.Chr. uraufgeführt und im Dionysos-Theater zu Athen mit dem dritten Preis bedacht wurde, mit der Selbstbezichtigung Medeas beginnen, dass sie eine Löwin sei und kein Mensch. Der Mord an den Kindern war vollzogen und jedermann war mit dem Unfassbaren konfrontiert. Nach dieser prologischen Szene wurde das Drama chronologisch gespielt. Bühnenbildner Vincent Mesnaritsch hatte die Geschichte in einen Verhörraum gepfercht, aus dem es für Medea kein Entrinnen mehr gab. Außer Jason durfte niemand diesen Raum betreten und kommuniziert wurde nicht auf Augenhöhe oder wenn doch, dann durch eine Glasscheibe. Medea stand quasi unter Quarantäne, eingesperrt und unter Beobachtung. Das Bild ist heute allgegenwertig angesichts der Massen von Fremden, die ein Exil suchen, in dem sie überleben können. Die Aktualität war bedrückend, denn die Ängste, die heute in der Bevölkerung umgehen, sind dieselben. Wozu sind diese „Barbaren“ fähig. Werden sie töten? Werden sie uns unseren Lebensraum rauben? Sehr schnell wurde klar, dass wir es mit einem Problem zu tun haben, das Euripides vor 2500 Jahren schon in aller Deutlichkeit beschrieb.

  Medea  
 

Julia Richter

© Arno Declair

 

Julia Richters Medea glich tatsächlich einem gefangenen Raubtier, gekrümmt vom Schmerz, den ihr der Ehemann zufügte und der Ohnmacht, die Schmach und den Hohn der Korinther über sich ergehen lassen zu müssen. Ihr Zorn war nicht kontrollierbar und richtete sich tätlich gegen die wenigen Einrichtungsgegenstände und die Wände ihres Gefängnisses. Richters Medea war fraglos eindringlich und verstörend, allerdings mangelte es bisweilen an Momenten der überlegenen und kalkulierenden Klugheit, eine überragende Eigenschaft, die auch im Stück immer wieder gelobt wurde. Diese Medea ließ es an der Perfidität eines Racheengels mangeln, die der Figur unbedingt eigen ist. Nur mit Hass und Zorn lässt sich ihre Handlung nicht erklären. Nur über ihre Intelligenz und ihren Willen war sie allen anderen Figuren deutlich überlegen.

Jason, der Mann mit den schneeweißen Zähnen und Schuhen, grandios von Moritz Kienemann gegeben, wäre gegen Medea eine lächerliche Figur gewesen, wenn sich die von Julia Richter gespielte Medea nicht durch die Unkontrolliertheit ihrer Emotionen kleiner gemacht hätte, als sie in Wirklichkeit war. Selbst Kreon, von Oliver Möller als ein geföhnter Politpragmatiker gespielt, hatte nicht annähernd das Format Medeas. Ebenso Ägeus, der König von Athen, der Medea nach ihrer Flucht Asyl in Athen gewährte. Er war ein Hampelmann, verglichen mit Medea, die übrigens in Athen versuchte, um Zugriff auf den Thron zu erlangen, Ägeus´ Sohn Theseus, der den Minotauros tötete, zu ermorden. Leon Pfannenmüller gestaltete seine Rolle durchaus in diesem Sinn. Überhaupt gaben die Männer ziemlich lächerliche Figuren ab. In der Literaturgeschichte gilt dieses Thema auch als ein Wendepunkt weg vom Matriarchat hin zum Patriarchat.

Tatsächlich glänzten die Frauen durch innere Stärke. Luise Kinner stand Medea als deren Amme Gora immer loyal zur Seite. Selbst als Medea die Kinder getötet hatte, war es vornehmlich das blanke Entsetzen, das sie die Augen niederschlagen ließ. Mara Widmann kommentierte als Chor den Fortgang der Geschichte objektiv, aber nie teilnahms- oder fühllos. Zwei Schlüsselsätze im Drama von Euripides versuchen zu erklären, warum die Geschichte so passiert, wie sie passiert: „Das Menschenleben ist ein Schattenspiel.“ Und: „Denn Glück ist keinem Sterblichen beschieden.“ Der Verweis auf die Götter verpflanzte die Geschichte in die Mythologie und darin ist nicht vorgesehen, dass es ein glückliches Ende gibt. Den Zeitgenossen von Euripides blieb letztlich nur der Trost, dass der menschliche Geist ein Teil des „pneuma“, des göttlichen Hauches ist und nach dem Tode, frei von allen Leiden, weiterexistiert. Glück im Jenseits. Die katholische Kirche hält immer noch daran fest. Das Theater nicht und die Inszenierung von Abdullah Kenan Karaca erst recht nicht. Schon das Bühnenbild rückte die Geschichte ins Heute; das Thema ist allemal hochaktuell. Und wir sind uns darüber im Klaren, dass kein Gott uns aus dem Dilemma befreien wird, dem Unglück, das wir übrigens selbst verursachen, entgegenzutreten.

Die Inszenierung gibt uns immerhin einen deutlichen Hinweis. Wenn wir die Fremden nicht als Brüder und Schwestern ansehen, sie isolieren, sie diskriminieren und verhöhnen, werden sie irgendwann um sich schlagen, weil ihnen nichts anderes mehr übrig bleibt. Der Glaube, die „Barbaren“ seien immer die anderen, ist wenig hilfreich. Erst recht nicht, weil wir und niemand anderes sie dazu macht. Das ist barbarisch.

Wolf Banitzki


Medea

von Euripides

Julia Richter, Luise Kinner, Mara Widmann, Oliver Möller, Moritz Kienemann, Leon Pfannenmüller

Regie: Abdullah Kenan Karaca

Volkstheater Unschuld von Dea Loher


 

Kein Streichelzoo

„Unschuld“ von Dea Loher ist nach „ Caligula“ von Albert Camus Lilja Rupprechts zweite Arbeit am Münchner Volkstheater und es verdichtet sich der Verdacht, dass sie eine Affinität zum Existenzialismus hat (,ohne ihr damit Existenzialismus zu unterstellen). Immerhin ist es bemerkenswert, dass sich im Programmheft ein Text von Dea Loher findet, in dem diese wunderbare Dramatikerin über Sinn und Wirkung, zumeist ergibt sich der Sinn aus einer Wirkung, nachdenkt und dabei wenig optimistisch urteilt. Damit spiegelt sie durchaus Positionen des radikalen Franzosen. Sie zitiert, um das einmal zu veranschaulichen, im Programmheft den Lyriker W.H. Auden zum Tod des Nobelpreisträgers W.B. Yeats: „Irland hat seinen Wahnsinn und sein Wetter noch / Denn Dichtung bewirkt nichts“. Programmhefte spiegeln nicht selten ungenügend wider, was sie eigentlich dramaturgisch begleiten sollten, nämlich das Drama auf der Bühne. In diesem Fall geschieht das gleichfalls, denn das Programmheft kreist in seinen Beiträgen immer wieder um das Thema Flüchtlinge. Auf der Bühne war aber wesentlich mehr zu erleben, nämlich eine erodierende Gesellschaft, in der sich auch Flüchtlinge zurechtfinden mussten und dabei verzweifelten.

Diese Flüchtlinge heißen Fadoul und Elisio und sie halten sich illegal im Land auf. Immerhin haben sie im Hafen Arbeit. Beide werden Zeugen, wie sich eine junge Frau ertränkt. Der erste Impuls, die Frau zu retten, wird schnell ausgebremst von der Angst, als „Illegale“ ausgemacht und vielleicht abgeschoben zu werden. Diese Szene ist die vorweggenommene Selbsttötung Rosas, die in ihrer kinderlosen Beziehung zu Franz verzweifelt, weil dieser, anstatt sein Medizinstudium zu beenden, Zuflucht in einer ihn befriedigenden Nekrophilie sucht. Fast möchte man meinen, seit er die Menschen kennt, liebt er die Toten. Zu diesen desillusionierenden Menschen gehört auch Frau Zucker, zuckerkrank, fußamputiert und die Tochter Rosa hemmungslos vereinnahmend. Sie breitet ihren Lebensfrust wie einen Säurefilm über die Beziehung ihrer Tochter aus. Einst Revolutionärin und Kommunistin, die die Menschen von „ihren Tischtennisvereinen“ befreien wollte, klagt resignierend: „Jetzt träume ich von einer Zigarette zur anderen. Aber was hinterlasst ihr. Außer Anschmiegsamkeit.“ Anschmiegsamkeit ist ihre Stärke nicht.

Ebenso wenig wie die verbitterte Philosophin Ella, die alle von ihr geschriebenen Bücher verbrannt hat, damit es andere, die es mit Sicherheit tun werden, nicht tun können. Sie hat die Waffen gestreckt vor den Naturwissenschaften, die zwar keine Antworten auf die Fragen, die sie nicht stellen, geben, aber dafür für alles stichhaltige Beweise haben. Die Geisteswissenschaften haben sich erledigt und sind verstummt. Vielleicht eines der bittersten Bilder im Reigen der absurden Konflikte, die von vielem künden, keinesfalls aber von der Gesundheit der Gesellschaft. Einer steht immerhin wie ein Fels in der alles zermürbenden Brandung der Moderne: Ellas Mann Helmut, der seit Jahrzehnten tagaus, tagein seinem stillen Handwerk als Juwelier nachgeht und echte Dinge herstellt. Ganz im Gegensatz dazu lebt Frau Habersatt von Illusionen und Lügen. Sie, die einmal ein totes Kind zur Welt bringen musste, schlüpft in die Identitäten von Müttern, deren Kinder Terroristen oder Gewaltverbrecher waren, um sich dann den Hinterbliebenen Vergebung heischend aufzudrängen. Es funktioniert. Noch absurder mutet die Figur der Absolut an, blindes Kind blinder Eltern. Sie tanzt in einer Hafenbar nackt und lässt sich von Männer anschauen. Fadoul, dem aus einer unerfindlichen Quelle Geld zugefallen ist, bezahlt ihr eine Augenoperation, die allerdings ohne Erfolg bleibt. So hatte sich nichts entwickelt, einige Menschen waren zu Tode gekommen und die dunklen Wolken über der Szenerie erschienen noch dunkler.

  Unschuld  
 

Jakob Geßner, Magdalena Wiedenhofer, Ursula Burkhart

© Gabriela Neeb

 

Anne Ehrlichs Bühnenbild stellte einen U-Bahnhof vor, gekachelt, kalt und unpersönlich. Zwei Werbeflächen wurden für Videoprojektionen (Video: Moritz Grewenig) oder, geöffnet, auch als Schaukastenbühnen genutzt. Durchfahrende U-Bahnen beendeten die Szenen, insgesamt neunzehn an der Zahl, und wischten die Figuren wie von einer Tafel. In der Eingangsszene agierten Leon Pfannenmüller als sensibel vibrierender Elisio und Jean-Luc Bubert als erstaunlich selbstbewusster Fadoul an der Bühnenrampe. Das Meer rauschte im Hintergrund als Videoprojektion. Dea Loher ließ in ihrem Text die Komik nie gänzlich außen vor und so beugte sich Fadoul in seinem Drang, die Ertrinkende zu retten, letztlich der Einsicht, gar nicht schwimmen zu können. Magdalena Wiedenhofer gab eine schmerzvoll-sehnsüchtige Rosa, die an ihrem unerfüllten Kinderwunsch und der Jenseitsorientierung ihres Ehemannes Franz zerbrach. Jakob Geßners Franz hatte die für ihn schmerzliche, weil auf Leistung und Verantwortung drängende Realität längst ausgeblendet und war ihr entrückt. Mara Widmanns Frau Habersatt indes strotzte vor Selbstbewusstsein und Tatendrang, mit dem sie sich in das Leben anderer drängte, um Vergebung zu erlangen, die ihr gar nicht zustand. Selbst nachdem sie von der Justiz gemaßregelt worden war, gab sie ihren Anspruch keineswegs auf, denn sie betrachtete ihr Tun durchaus als soziale Leistung. Alexander Duda, Vater einer ermordeten Tochter, donnerte die emotionale Bittstellerin voller Empörung in Grund und Boden, um dann urplötzlich in sich zusammen zu fallen und zu gestehen, dass es das gewesen wäre, was er der (vermeintlichen) Mutter des Mörders seiner Tochter gern gesagt hätte. Stattdessen aber hat er Tee gekocht, ihre Hand gehalten und ihr das Gästezimmer angeboten. Auch diese Szene war nicht ohne Komik, wenn auch bitterer. Frau Zucker war da von anderem Schrot und Korn. Ursula Maria Burkhart scheute keinen Augenblick vor Destruktion zurück, weder aus natürlicher Rücksichtnahme, noch aus Mitgefühl für ihre Tochter. Ähnlich gewitterschwer haderte Katalin Zsigmondy als alternde Philosophin Ella mit ihren eigenen und dem Schicksal schlechthin. Gänzlich anders Pola Jane O'Mara in der Rolle der Absolut. Sie dachte nicht ernstlich über Zukunft nach, drängte auf den Augenblick und reflektierte mit einem optimistischen Glanz in den weitgeöffneten Augen. Allein, die waren blind und sollten es bleiben.

Lilja Rupprecht schuf eine Inszenierung, die weitestgehend frei war von Optimismus. Mehr noch: Schlimm, wenn es für Optimismus Blindheit braucht. Und dennoch war es keine Beschwörung des Untergangs, sondern eine nüchterne und ernüchternde Bestandsaufnahme von einer Welt, der man getrost Verrücktheit bescheinigen darf. Diese Verrücktheit offenbarte sich in der Reflektion der Realität durch zwei Einwanderer, denen das Verständnis verständlicherweise abging. Einmal mehr gelang es Dea Loher, Stimmungen einzufangen und in eine wunderbar poetische Sprache zu kleiden, wie sie in der Gesellschaft real existieren. Lilja Rupprecht indes gelang eine kongeniale Umsetzung auf der Bühne. Es war kein heiterer Abend und das Lachen blieb gelegentlich im Halse stecken. Es ist nicht unbedingt abonnementfördernd, zu zeigen, dass die Welt kein Streichelzoo ist, aber es ist die Wahrheit.

Wolf Banitzki

 


Unschuld

von Dea Loher

Leon Pfannenmüller, Jean-Luc Bubert, Pola Jane O'Mara, Mara Widmann, Jakob Geßner, Magdalena Wiedenhofer, Ursula Maria Burkhart, Katalin Zsigmondy, Alexander Duda

Regie: Lilja Rupprecht

Volkstheater Der Sturm von William Shakespeare


 

Heidenspaß

Ein geborstener Schiffsleib türmte sich düster und sperrig am Strand einer imaginären Mittelmeerinsel als Symbol seemännischen Scheiterns auf. (Bühne: Stefan Hageneier) Der kundige Zuschauer wusste natürlich, dass dieses Unglück nicht dem ziellosen Treiben der Natur geschuldet war, sondern einem ausgeklügelten Plan Prosperos zufolge passierte. Der einstige Herzog von Mailand hatte seinen Diener Ariel beauftragt, das Unglück herbei zu führen, allerdings ohne den Passagieren oder Crewmitgliedern ernstlich zu schaden.

An Bord des Schiffes: Alonso, König von Neapel und sein Sohn Ferdinand; Antonio, der intrigante Bruder Prosperos, der selbigen 12 Jahre zuvor vom Thron stieß und sich selbst zum König von Mailand ernannte; Gonzalo, „ein ehrlicher alter Rat“, der Prospero und seiner Tochter Miranda das Überleben sicherte, indem er beide mit Nahrung und Lektüre ausstattete, als man sie in einem segel- und ruderlosem Boot auf dem Mittelmeer aussetzte. Neben Sebastian, Bruder des Königs Alonso, waren noch die Besatzungsmitglieder  Stephano und Trinculo mit von der Partie. In Christian Stückls Inszenierung verkörperten sie den Kapitän und den Bootsmann des Königs. In Shakespeares Text waren sie als betrunkener Kellner und Spaßmacher ausgewiesen.

Prospero, der den Plan eingefädelt hatte, sah endlich seine Stunde gekommen, sein Reich zurück zu erobern und Rache zu nehmen an seinem Bruder, der sich auf der Rückreise von Marokko befand, wo Alonso gerade seine Tochter verheiratet hatte. Als Wissender, dank der Lektüre, mit der Gonzalo ihn versorgt hatte, war ihm die Macht gegeben, alle Wesen, hier zumeist Geister und Monstren, zu unterwerfen. Einer von ihnen war der im „faulen Moor“ lebende Caliban, Sohn der Hexe Sycorax und des Teufels, den Prospero domestizierte, kultivierte und zu seinem Sklaven machte. Es war eine märchenhafte Welt, in der die Konflikte allerdings sehr weltlich blieben.

  Der Sturm Volkstheater  
 

Pascal Fligg und Enno Haas

© Arno Declair

 

So prallte auf der weitestgehend unbewohnten Insel Ferdinand, testosterongesättigt von Jonathan Müller gespielt, auf Miranda; beide werden am Ende naturgemäß ein Paar. Carolin Hartmann näherte sich der unerwarteten Männlichkeit wenig zögerlich. In einer Welt, in der es nur den Vater oder das Monster Caliban gab, entwickelte sich eben kein Schamgefühl. Caliban, Timocin Ziegler gab ein gequältes, fast Mitleid erregendes Wesen, hatte sich ihr zu nähern versucht, was er teuer mit seiner gnadenlosen Unterdrückung durch Prospero bezahlen musste. Pascal Fliggs Prospero war weniger der integere und unerschütterliche (Insel-) Fürst. Er zeigte etliche Schwächen, die in der Shakespearschen Figur durchaus angelegt sind. In einem togaartigem Gewand erinnerte er an einen griechischen Gelehrten, in seiner inneren Zerrissenheit und in seinem schäumenden Temperament an einen Sokrates für arme Geister. Pascal Fligg, seit 2009 am Volkstheater, hat sich zu einer tragenden Säule des Ensembles gemausert, was er auch in dieser Rolle nachdrücklich unter Beweis stellte.

Roman Roths Antonio und Mehmet Sözers Sebastian waren geckenhafte Gesellen, deren tödliche Intrigen wie Strohfeuer in Lächerlichkeit verpufften. Nicholas Reinkes Alonso, der Mann ist immerhin König von Neapel, mutierte, wann immer er an seinen totgeglaubten Sohn Ferdinand dachte, zur Heulsuse. Zwei Darsteller fielen aus dem Rahmen der beherzt derben Inszenierung Christian Stückls. Thomas Kylau spielte den Gonzalo, einen alten, weisen und gutherzigen Mann als fragiles Wesen, das in der Welt von Macht und Intrigen permanent zu zerbrechen drohte. Er wirkte ein wenig außer- oder überirdisch, als er recht unvermittelt seinen Traum von der Welt entwarf, in der es keinen Besitz mehr gibt, in der der Mensch in Einklang mit der Natur und friedlich mit der Gesellschaft lebt. Vielleicht war dieser Shakespearsche Text Inspiration für Thomas Morus „Utopia“? Oder vielleicht hatte sich Edvard de Vere (der wirkliche Shakespeare) in Gesprächen mit dem Lordkanzler inspirieren lassen? Leider ging diese Passage, die angesichts ihrer Entstehungszeit doch höchst erstaunlich ist, im tumultigen Spiel ein wenig unter. Immerhin hatte Christian Stückl nicht auf diese Passage verzichtet. Kylaus Zartheit indes rührte an. Enno Haas, ein 2002 geborener Münchner Gymnasiast, gab den Luftgeist Ariel. Sein fehlendes schauspielerisches Handwerk kompensierte der knabenhafte Darsteller mit einer erstaunlichen sprachlichen Präsenz. Das Kostüm von Stefan Hageneier entrückte ihn endgültig und wirklich sehenswert in das Feen- und Geisterreich.

Es ist hinlänglich bekannt, dass das Elisabethanische Theater dem Volkstheater sehr nahe stand und dass sich selbst der Hochadel nicht zu fein war für grobe Späße. Christian Stückl ließ es folglich auch richtig krachen. Und wenn er dabei auf Darsteller wie Jakob Geßner (Trinculo) und Jean-Luc Bubert (Stephano) zurückgreifen kann, bleibt kein Auge trocken. Die beiden Vollblüter gaben alles und das war sehr viel. Vielleicht ein wenig zu viel, denn das große Fäkal-Duett, nachdem beide, wie bei Shakespeare in nur einem Satz angedeutet, der Latrine Prosperos entstiegen, geriet sehr unappetitlich. Auch erschloss sich der Sinn nicht recht. Ungeachtet dessen war es ein Heidenspaß und die 105 Minuten verflogen in Windeseile.

Das Programmheft zitiert Andreu Jaume und seinen Text „Die Macht Shakespeares“, in dem  Jaume das Rätsel Shakes­peares benennt. Der Spanier meint, es bestünde darin, dass Shakespeare über die Fähig­keit verfügte, „hinter allen seinen Personen zu ver­schwinden“, ohne sich irgendeiner poli­tischen oder mora­lischen Tendenz zu verschreiben. Christian Stückl hielt es ebenso und gab nicht vor, mit seiner Inszenierung etwas zu wollen. Damit, indem er die Geschichte schwungvoll und allen überflüssigen Beiwerks entledigt erzählt, fuhr er eine gute Ernte ein. Unterhaltsam war es und Moral gab es auch. Ohne Zeigefinger lehrte die Geschichte eine Menge über den Menschen im Allgemeinen und im Besonderen. Ja, so ist das nun mal mit großer Literatur: Sie bleibt immer in ihrer frischen Blüte.

Wolf Banitzki

 


Der Sturm

von William Shakespeare

Pascal Fligg,  Roman Roth, Carolin Hartmann, Nicholas Reinke, Mehmet Sözer, Jonathan Müller, Thomas Kylau, Timocin Ziegler, Jakob Geßner, Jean-Luc Bubert, Enno Haas

Regie: Christian Stückl

Volkstheater Sie nannten ihn Tico von Nora Abdel-Maksoud


 

Powertheater

„Wenn man friert, zündet man sich nicht gegenseitig die Hütten an. Man stürmt die Paläste.“ Damit zitiert Nora Abdel-Maksoud einen ganz Großen der deutschen Dramatik. Georg Büchner stellte seiner 1834 erschienen Kampfschrift „Der hessische Landbote“ die Sätze „Frieden den Hütten! Krieg den Palästen!“ voran. Nun ist „Sie nannten ihn Tico“ keine Kampfschrift, sondern eher ein sozialromantisches Roadmovie ohne Happy end, doch die Parallelen sind unübersehbar. Büchner durchleuchtete das Staatswesen im Großherzogtum Hessen und entlarvte es als einen ausbeuterischen Moloch, der aus dem 700 000 Menschen zählenden Hessenvolk jährlich gut 6,3 Mio Gulden an Steuern und Abgaben herauspresste und damit unermessliches Elend generierte. Büchner nannte das den „Blutzehnten“. Autorin/Regisseurin Nora Abdel-Maksoud ging dramaturgisch sehr trickreich zu Werke und erschuf eine Figur namens Lefty. Sein großer Traum ist es, als Gameshowmaster im Fernsehen aufzutreten. Um sich für diesen Job fit zu machen, studiert er die Enzyklopädie. Im Verlauf des Stücks streut er dieses Wissen immer wieder ein und fördert damit Wahrheiten zu Tage, die eine Menge aussagen über die deutsche Gesellschaft. So stellt er beispielsweise fest, dass etwa 11 % der Bevölkerung eine private Krankenversicherung haben, der Anteil der privat Krankenversicherten im Bundestag, dem Repräsentantenhaus, liegt allerdings über 50 %.

Lefty ist ein liebenswerter Loser mit Neigung zur Hypochondrie. Sein väterlicher Begleiter ist der Ex-Sozialarbeiter und inzwischen selbst drogensüchtige Pancho. Beide kommen aus einem Kaff namens Moers, wo Pancho, bevor seine Stelle als Drogenberater gestrichen wurde,  Lefty betreut hat. Im Land wurde ein Gesetzespaket verabschiedet, das das „Große Fasten“ eingeläutet hat, ein Programm, in dem sich der „kranke Mann“ gesund hungern soll. Zugleich finden Kürzungen im Sozialwesen statt und das Freihandelsabkommen wird verabschiedet. Seither geht Angst um im Land, Angst vor Abstieg und vor Zu-kurz-kommen, und die gebiert Wutbürger, Abendlandretter, Nationalisten, seltsame Sicherheitsapparate, jubelnde Milliardäre und rasende Mediennerds.

Tatsächlich hat Nora Abdel-Maksoud zu jedem der benannten Themen beweiskräftiges Material. Vor allem aber hat sie einige sympathische Rebellen anzubieten. Zum Beispiel die Musiker der Band „Pillepalle und die Ötterpötter“, die kreuz und quer durchs Land ziehen und Naziglatzen verkloppen. Sie werden lautstark und unter die Haut gehend von den Rock'n'Rollern Enik, Lorenz Blaumer und Fabian Füss gegeben. Und es gibt einen echten Hoffnungsträger: Tico. Tico ist Leftys Vater und Revolutionär, der in den Untergrund nach Andalusien ging. Er kann sich seinem Sohn nicht zu erkennen geben, denn der selbstlose Robin Hood wird von der „Gemischtwarenhandels-Dynastie“ und ihren Schergen gnadenlos gejagt. Diese Geschichte erzählt Pancho Lefty, um ihn vor der Hoffnungslosigkeit der Zeit zu bewahren. Eines Tages würde Tico seinen Sohn ganz gewiss finden und dann würden sie den Kampf gegen die Übel der Welt gemeinsam führen. Soviel zum romantischen Part in der Geschichte. Zuvor aber finden Pancho und Lefty einen dunkelhaarigen Säugling in der Mülltonne des Moerser Krankenhauses. Sie nehmen sich des Kleinen an und sehen sich augenblicklich mit einem höchst seltsamen Polizistenduo konfrontiert. Es folgt eine wilde Flucht in Richtung Andalusien …

  Sie nannten ihn Tico  
 

Luise Kinner, Eva Bay, Mehmet Sözer

© Daniel Delang

 

Die Bühne von Katharina Faltner war ein drehbarer funktionaler Turm, der hauptsächlich aus Lautsprecherboxen zu bestehen schien. Er stellte einen Laden mit der Aufschrift „Wurstenbrot“, rückseitig ein Gameshowstudio vor. Es war zudem ein Gang/Balkon integriert, auf dem drei Personen, achtzehnarmig demonstrieren konnten. Im Innern des Gebäudes fanden vermutlich auch viele der zahllosen Umzüge statt. Wahlplakate mit unglaublich idiotischen Slogans wie „Flut Schwamm Schwemme“ klebten an den Wänden.

Es ist eine chaotische Geschichte, deren Logik nicht unbedingt hinterfragt werden sollte. Man sollte vorab auch nicht unbedingt die Zusammenfassung im Programmheft lesen, es könnte Panik aufkommen. Tatsächlich kam sie auf der Bühne verständlicher und wesentlich kurzweiliger über die Rampe. Das lag sowohl an der fabelhaften musikalischen Begleitung, als auch an der Verve, mit der sich die Schauspieler in das chaotische Getümmel der Geschichte mit ihren scheinbar unzählbaren Figuren stürzten. Die fünf Schauspieler gestalteten annähernd zwanzig Figuren, die drei Musiker nicht eingerechnet, die ebenfalls viel Volk gaben. Unbedingt zu preisen ist die Sprache des Stücks, die eindeutig eine Kunstsprache ist, zugleich aber deutliche soziale Determinanten aufweist. Es wurde weder mit Wortwitz noch mit Sprachakrobatik gespart.

Regisseurin Nora Abdel-Maksoud hatte von der ersten Sekunde bis zum Vorhang alles im Griff. Nicht nur, dass sie einen reibungslosen Ablauf hinbekam, beinahe jede der Figuren waren eine gestalterische Meisterleistung. Wie immer, wenn Ensembleleistung gefordert war, liefen die spielwütigen Volkstheater-Schauspieler zu großer Form auf. Hinzu kam, dass Nora Abdel-Maksoud die Figuren ästhetisch überhöht und satirisch aufgeladen hatte. Also ließ man es richtig krachen. Vergleichsweise realistisch waren dabei die Figuren Lefty und Pancho angelegt. Ein echter Blickfang war die unglaublich alberne Frisur Mehmet Sözers, Mireille Mathieu in blond. Sözer verlieh seinem Lefty eine explosive Agilität. Trotz der enormen Körperlichkeit blieb immer auch Raum für Nachdenklichkeit oder, wenn er sich eine Krankheit einredete, Weinerlichkeit. Echte Helden sehen halt anders aus. Für die Rolle des Panchos hatte die Regisseurin Eva Bay mitgebracht. Sie gab einen sensiblen, beseelten, aber „abgefuckten“ Junkie, dem man seine väterliche Liebe zu Lefty ebenso abnahm, wie seine ehrliche Sorge um das Neugeborene, das einen Gitarrenkasten als Wohnstatt bekam. Es war übrigens nicht irgendein Kasten, sondern der einer Gibson Les Paul, einer Königin unter den E-Gitarren.

Faszinierend anzuschauen waren die Figuren der Luise Kinner als übervorteilte Gameshowspielerin, als Journalistin unter Hochspannung oder als rumpelstielzchenhüpfende Gallionsfigur der „Neuen Rechten“.  Fast möchte man meinen, den Rest erledigten Moritz Kienemann und Max Wagner, und dabei liegt man gar nicht so falsch. Allein, alle Rollen aufzuzählen, würde wahrlich zu weit führen. Sie meisterten sie allesamt mit Bravour und außerordentlicher künstlerischer Eigenwilligkeit. Die Inszenierung war ein Heidenspaß, bei der nie etwas außer Kontrolle geriet, obwohl alles außer Kontrolle war. Es war hochpolitisches Theater, aber es blieb stets Theater und es entwickelte sich nie zur vordergründigen Agitation. Eine Menge Probleme kamen zur Sprache und hinter allem stand eine respektable Weltsicht und Haltung. Ob für diese einzig die Regisseurin verantwortlich zeichnete, oder ob es kollektiver Geist war, sei dahingestellt. Es war jedenfalls echtes Powertheater und es ging ab, wie ´ne Tüte Mücken.

Wolf Banitzki


Sie nannten ihn Tico

von Nora Abdel-Maksoud

Eva Bay, Moritz Kienemann, Luise Kinner, Mehmet Sözer, Max Wagner und die Musiker Enik Lorenz Blaumer, Fabian Füss

Regie: Nora Abdel-Maksoud