Volkstheater Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino von Martin Crimp


 

Die Antwort ist: Der Mensch!

Der britische Autor Martin Crimp wählte für sein Antikendrama „Die Phönizierinnen“ von Euripides. Schon diese Wahl setzt Zeichen, denn Euripides war der Renegat unter den Theatermachern des 5. Jahrhunderts v.Chr. Es war, was die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit anbelangt, eine Zäsur. Es ist das Jahrhundert des Sokrates und des Plato, aber auch des Aischylos, des Sophokles und des Euripides. Letzterer war stark beeinflusst von den Sophisten, die den Menschen und die Vernunft in den Mittelpunkt ihres Weltbildes rückten und damit dem „Tun der Götter“ und dem Treiben des von den „Göttern gegebenen Staates“ eine Abfuhr erteilten. Euripides war das theatralische Sprachrohr der ersten Aufklärungsepoche der Menschheit.

Er war dahinter gekommen, dass nicht die Götter den Menschen geschaffen hatten, sondern umgekehrt. Der Dramatiker stellte den Göttern und dem Staat die Macht der Vernunft, des Wissens und Erkennens und die Kraft der Erziehung gegenüber und löste das Theater somit aus dem Kultischen. Bürgerliche Tugenden wurden abgehandelt und Euripides zahlte einen hohen Preis dafür. Nur vier Mal wurde ihm der Lorbeer für den besten Dichter während der Dionysien zuerkannt. Er war unpopulär bei den Preisrichtern und der konservative Komödiendichter Aristophanes verspottete ihn sogar öffentlich. Schließlich folgte Euripides einer Einladung des makedonischen Königs Archelaos und ging ins Exil, wo er zwei Jahre später starb, wodurch er wieder populär wurde. Der fast neunzigjährige Sophokles leitete die Trauerfeierlichkeiten in Athen während der Dionysien. Man führte drei nachgelassene Dramen von Euripides auf und krönte sie mit dem ersten Preis.

Was war so schockierend an den Dramen Euripides'? Der Dichter entvölkerte den Götterhimmel und übertrug dem Menschen die ganze Last des „Schicksals“, für das gemeinhin die Götter verantwortlich waren. Die schmähte und verhöhnte er unverhohlen. Einzig Pallas Athene ließ er unangetastet, was ein kluger politischer Schachzug zu seinem Selbstschutz war. Nun klagte der Mensch ins Leere und wurde sich der Tatsache bewusst, dass dem Schicksal keine Prädestination innewohnte, sondern nur blindwütiger Zufall. Martin Crimp erzählt die Geschichte des fluchbeladenen Labdakiden-Geschlechts, beginnend mit Laios, König von Theben, der mit Iokaste verheiratet war und mit der er den Sohn Ödipus zeugte. Das Orakel von Delphi hatte vorausgesagt, dass Ödipus seinen Vater töten werde. Also hatte man dem Knaben die Fersen durchbohrt (Daher sein Name Ödipus, was Schwellfuß bedeutet.) und im Gebirge ausgesetzt. Ödipus überlebte.

Die Geschichte ist hinlänglich bekannt. Auf dem Weg nach Theben stößt er an einer Weggabelung auf seinen Vater und erschlägt ihn. In Theben löst er das Rätsel der Sphinx und die Stadt aus der Umklammerung einer fürchterlichen Dürre. Zum Dank dafür macht man ihn zum König und gibt ihm gleich noch Iokaste, die Witwe seines Vaters und seine Mutter, zur Frau. Mit ihr zeugt er zwei Söhne und zwei Töchter, die zugleich seine Halbgeschwister sind. Nachdem der Vatermord und der Inzest ruchbar werden, blendet sich Ödipus. Sein Schwager Kreon setzt die Brüder Polyneikes und Eteokles als Könige ein. Sie sollen das Amt wechselweise für jeweils ein Jahr ausüben. Als Eteokles den Thron jedoch nicht wie versprochen räumt, stellt Polyneikes in Argos gemeinsam mit König Adrastos ein Heer auf („Sieben gegen Theben“) und zieht gegen Theben. Dort hebt ein lustiges Schlachten an und beinahe alle Protagonisten lassen ihr Leben entweder durch die Schlacht, den Kampf, durch das Gesetz oder durch die eigene Hand. Als man wieder zur Besinnung kommt, watet Theben im Blut.

  Alles Weitere kennen Sie au  
 

Nina Steils, Anna Roth, Ines Hollinger, Silas Breiding

© Gabriela Neeb

 

Martin Crimp verhandelt die Geschichte, als geschähe sie heute und tatsächlich bleiben die Parallelen unübersehbar. Die üblichen Blockbuster Bilder belässt er, wo sie allenthalben zuhause sind. Im Kino. Also: „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“. Er hat das Heldenepos mal eben auf links gekrempelt und schaut sich das Innenleben an. Darin wird über die Frage disputiert, wer die Gerechtigkeit auf seiner Seite hat und darum einen „gerechten Krieg“ führt. Schnell wird deutlich, dass genau diese hohlen Phrasen bloße Politik um Machtansprüche sind und nichts mit der Wahrheit zu tun haben. Eine Frage wird immer wieder angedeutet und die Antwort darauf immer wieder zitiert, nämlich die Frage der Sphinx. „Die Antwort ist: Der Mensch!“ Und genau diese Unausweichlichkeit macht die großartige Qualität des Stückes aus. Wie auch immer wir die Dinge zu rechtfertigen suchen, ob mit politischen oder ethischen Argumenten, ob wir Orakel herbeizitieren oder das Schicksal beschwören, ob wir vermeintlich zum Wohl der Allgemeinheit morden und die persönlichen Interessen damit zu kaschieren suchen, die Frage nach dem Urheber allen Glücks oder Unglücks kennt nur eine Antwort: „Der Mensch!“

Regisseurin Mirja Biel hat Crimps Vorlage krachig laut, ästhetisch überzeichnet und argumentativ hammerhart auf die Bühne gebracht. Ines Hollinger und Nina Steils gaben die Mädels, rotzfrech, aggressiv und unbekümmert. So sah man den antiken Chor wohl noch nie. Es hatte immer einen Unterton von: Hört doch endlich auf, euch etwas vorzumachen! Timocin Zieglers Polyneikes war ebenso unnachgiebig wie sein Gegenspieler Eteokles, der allerdings kapriziös wie eine Diva von Nicolas Streit gegeben wurde. Ihm hatte die Machtgeilheit das Hirn hinlänglich vernebelt. Immerhin reichte es noch, eine Rechtfertigung im Stile skrupelloser Potentaten abzuliefern, die sich am besten mit dem Leitsatz des chilenischen Diktators Pinochets umschreiben ließe: „Ich oder das Chaos!“ Polyneikes bemühte die Demokratie und ihre Verteidigung, um sein blutiges Fatum zu erfüllen.

Angesichts der Geschichte ließ sich in Crimps Drama keine wirklich positive, vernunftgesteuerte und empathische Figur ausmachen. Mara Widmanns Iokaste war Opfer und orientierungslos. Sie brachte ihrem weggesperrten Ehemann Ödipus das Essen im Hundenapf und konstatierte mit Erstaunen, dass er auch vom Boden isst. Antigone, gespielt von Pola Jane O´Mara, war eine launenhafte Göre und so gar nicht das heroische Wesen, das mit der Beerdigung ihres Bruders Polyneikes, sie sieht darin den Willen der Götter, sein Leben verwirkt. Jonathan Müllers Kreon war bemüht, den Pragmatiker zu geben, der er in der antiken Geschichte auch war, doch Martin Crimp entblättert sie im Text allesamt, und Mirja Biel setzt genau das in Bilder um. Am deutlichsten wurde das bei der Figur des blinden Sehers Teiresias. Silas Breiding spielte ihn wie einen Zombie, der allerdings den Zombie nur spielt. Er war vielleicht der schlimmste geistige Brandstifter, denn er hatte die Konsequenzen nicht auszubaden.

Angesichts des Bühnenbildes von Matthias Nebel traf ein Attribut ganz sicher nicht zu: attraktiv. Die 80er Jahre Kunstledersessel passten immerhin zu den Kassettenrekordern, die zur Beweisführung die Aussagen der Protagonisten von Magnetbandkassetten wiedergaben. Im Hintergrund war Theben im Puppenstubenformat aufgebaut und zuletzt niedergebrannt worden. Und einen Container mit schallgeschützter Tür gab es, das Verlies des Ödipus. Einige anthrazitfarbene Felsbrocken lagen auf der Bühne, von den feindlichen Truppen als Wurfgeschosse in die Szene gefeuert. Um Attraktivität, die ja nicht selten eine schamlose Lüge ist, ging es nicht, denn die hat Martin Crimp im Kino belassen. Mögen die antiken Architekturen auch attraktiv sein, die seelischen Abgründe ihrer Krieg und Gewalt treibenden Bewohner waren es mit Sicherheit nicht. Insofern war es dann doch wieder stimmig.

Wolf Banitzki

 


Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino

von Martin Crimp
nach Euripides' "Die Phönizierinnen"

Nina Steils, Ines Hollinger, Anna Roth / Maya Zankov, Mara Widmann, Pola Jane O´Mara, Jonathan Hutter, Timocin Ziegler, Nicolas Streit, Jonathan Müller, Silas Breiding

Regie: Mirja Biel

Volkstheater  Die Physiker  von Friedrich Dürrenmatt


 

Bunt, schräg und äußerst unterhaltsam

In einem Schweizer Sanatorium geschehen seltsame Morde. Drei Krankenschwestern werden erdrosselt. Kommissar Richard Voß muss indes nicht ermitteln, denn die Mörder, Pardon, die Täter sind bekannt. Es sind die Insassen des abgeschotteten Flügels des Sanatoriums, allesamt verrückte Physiker. Professor Möbius, soviel ist dem Zuschauer bekannt, ist in diesem Sanatorium untergetaucht, niemand weiß warum. Als Krankenschwester Monika Stettler, die Möbius liebt und der seinerseits diese Liebe mehr oder weniger, zumindest recht zögerlich erwidert, ihn, Möbius, mit der Aussicht überrascht, gemeinsam das Sanatorium zu verlassen, geschieht das Ungeheuerliche. Möbius sei gesund, so Monika, und einer Ehe und einem Leben zu zweit stünde nichts im Wege. Möbius, dessen Aufenthaltsort aufzufliegen droht, sieht sich nun seinerseits gezwungen, wie schon seine beiden Kollegen Newton und Einstein, die ihn betreuende Schwester Monika zu töten. Warum die beiden Kollegen dasselbe mit den ihrigen Betreuerinnen taten, bleibt indes bis zuletzt ein Geheimnis.

Dürrenmatts Drama ist gebaut wie ein Krimi und, da es unter Verrückten und vermeintlich Verrückten spielt, zugleich höchst amüsant. Allerdings sind die Motive für die Morde weder verwirrten Gehirnen entsprungen, noch sind es niedere Beweggründe. Hinter Ihnen verbirgt sich ein Konflikt, in den Wissenschaftler immer wieder geraten sind, wenn ihre Entdeckungen zu revolutionär oder zu gefährlich sind für die unzurechnungsfähige Spezies Mensch, die auch vor Selbstausrottung nicht zurückschreckt. Es geht um Ethik der Wissenschaft und der konkreten Verantwortung der Wissenschaftler. Das Grandiose an Dürrenmatts existenzialistischem Text ist die Situationskomik und der Wortwitz, der nicht selten absurd zu sein scheint, denn, irgendwann beginnen die Konturen zu verschwimmen und es drängt sich bald der Verdacht auf, dass die wahren Irren ganz andere sind als die Patienten mit Diagnose.

Regisseur Abdullah Kenan Karaca betonte in seiner Inszenierung das Komische und das Komödiantische. Von Vincent Mesnaritsch ließ er sich dafür eine Guckkastenbühne entwerfen, die in ihrem Dekor psychedelische Elemente aufwies. Ein großer kreisrunder Durchgang zeigte im Hintergrund einen prallgrünen Garten, der allerdings ebenso steril und künstlich wirkte, wie die Muster auf den gestaffelten Zwischenwänden. Wichtig zu erwähnen wäre, dass durch diese Wände hindurch spioniert werden konnte. Immerhin befand man sich ja in einer Nervenheilanstalt und da brauchte es schon den „Big Brother“. Der war in diesem Fall eine „Big Sister“ und wurde von Carolin Hartmann gespielt. Als Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd war sie die Besitzerin und Betreiberin des Sanatoriums. Nun steht ja gemeinhin der Verdacht im Raum, dass Psychiater den Beruf wählen, um ihre eigenen Defekte zu verstehen und zu verbergen. Auch Friedrich Dürrenmatt ließ sich wohl von der weit verbreiteten Vorstellung leiten, als er diese Figur entwarf. Carolin Hartmann spielte ihre Rolle genau so.

Die Physiker VT

Carolin Hartmann

© Arno Declair

Pascal Fligg bestritt den Part des Kommissars Richard Voß. Er tat das zunehmend genervt, denn im Grunde war seine Aufgabe, Verbrechen zu bekämpfen, zu einer Farce verkommen. Die Täter und die Opfer standen fest, allein die Täter waren keine Mörder, da sie ja unzurechnungsfähig und folglich nicht zu belangen waren. Einzig sein Drängen auf Ersetzung der Schwestern durch männliches Pflegepersonal wurde erhört, jedoch zu spät. Dabei ist nicht gewiss, ob es einen Effekt gehabt hätte, denn die Schwestern waren sämtlich geschult in Kampfsportarten. Richard Voss war am Ende vollkommen desillusioniert, an diesem Ort irgendetwas Sinnvolles verrichten zu können. (Er hat jedoch seinen Beruf darum nicht aufgegeben, sondern ermittelt jetzt im Deutschen Fernsehen als „Der Alte“ – So viel Klatsch und Tratsch muss sein!)

Mauricio Hölzemann spielte die Rolle des Isaac Newton, hieß aber eigentlich Herbert Georg Beutler und war wie Ernst Heinrich Ernesti, der vorgab Einstein zu sein, renommierter Physiker. Vincent Sauer spielte den Einstein. Beide agierten wie Zwillingswesen, zum Verwechseln ähnlich. Der Grund dafür ergab sich aus den Aufgaben, die beide hatten. Die waren inhaltlich vollkommen identisch, bis auf die Auftraggeber. Der einzige, der menschliches Verhalten an den Tag legt, war Johann Wilhelm Möbius. Immerhin war er, wie man schnell begriff, nicht wirklich verrückt und so gab Jakob Immervoll einen selbstquälerischen, gehetzten Menschen, der verzweifelt reagierte und letztlich tötete, nämlich die Schwester Monika Stettler, die recht resolut und proper vorlaut von Luise Deborah Daberkow gestaltet wurde.

Dass man all das nicht sonderlich ernst nehmen konnte, lag auf der Hand und so inszenierte Abdullah Kenan Karaca das Stück mit bester handwerklicher Kompetenz als unterhaltsame Komödie. Schon die fantastischen Kostüme von Elke Gattinger katapultierten den Zuschauer in eine fiktive Welt, in der alles, was jenseits der Wahrheit lag, möglich zu sein schien. Höchst absurde Szenen wurden rasant abgespult und die Darsteller fanden sich liebend gern hinein in ihre absonderlichen Figuren, von denen zumindest kaum eine normal zu sein schien. Große, fantastische Bilder entstanden und begeisterten und unterhielten über 90 Minuten hinweg großartig.

In den letzten Minuten wurden dann schließlich alle Geheimnisse gelüftet und man sah sich, auch angesichts der realen neuen atomaren Aufrüstung, einem großen philosophischen und moralischen Problem gegenüber gestellt. Hier wurde klar, dass es um mehr, als nur um Unterhaltung ging und hier bekam die Inszenierung einen leichten Knick, denn die Figuren die eben noch äußerlich auf so wahnsinnige Weise agiert hatten, plädierten nun innerlich für Pragmatismus und im Fall Möbius auf Vernunft. Doch alles war vergeblich, denn wenn der Teufel würfelt, gibt es nur einen Gewinner.

So unterhaltsam die Inszenierung war, der Spaß daran machte ein Umschalten auf die rationale Rezeption der Botschaft deutlich schwieriger. Aber, da wir getrost davon ausgehen können, dass der heutige Theatergänger zugleich Bildungsbürger und sowohl philosophisch, politisch, wie auch moralisch gefestigt ist und daher keiner Belehrung bedarf, können wir uns bedenkenlos dem ästhetischen Genuss hingeben und ihn auch empfehlen.

Wolf Banitzki


Die Physiker

von Friedrich Dürrenmatt

Mit: Carolin Hartmann, Luise Deborah Daberkow, Mauricio Hölzemann, Vincent Sauer, Jakob Immervoll, Pascal Fligg

Regie: Abdullah Kenan Karaca

Volkstheater Kleines Haus  Die lächerliche Finsternis von Wolfram Lotz


 

In der Finsternis gedeiht der Wahnsinn

Die Geschichte beginnt auf der Themse, wo die seetüchtige Jolle „Nelly“ und ihre Besetzung auf die Flut warten, um auslaufen zu können. Genug Zeit, um noch eine Geschichte zum Besten zu geben, wie Kapitän Marlowe meint, und er erzählt von einer Begebenheit am Wasserlauf des Kongos, die als „Das Herz der Finsternis“ in die Literaturgeschichte einging. Darin wurde Marlowe ausgeschickt, einen Agenten einer europäischen Handelsvertretung für Elfenbein namens Kurtz heimzuholen, der ganz offensichtlich den Verstand verloren und ein barbarisches Regime errichtet hatte. Diese Geschichte erschien Francis Ford Coppola so reizvoll, dass er sie adaptierte und den vielleicht bedeutendsten Anti-Kriegsfilm der bisherigen Filmgeschichte schuf. Darin wird Hauptmann Willard mit einem brisanten Auftrag in das kambodschanische Grenzgebiet geschickt, wohin sich der US amerikanische Oberst Kurtz aus dem Vietnamkrieg zurückgezogen und eine eigene Armee gebildet hat, mit der er seinen eigenen Krieg führt. Willard soll Kurtz töten, was er auch tut, und zwar zu den Klängen von „The End“ von den Doors.

Wolfram Lotz hat sich nun beider Geschichten, der von Joseph Conrad und der von Coppola, angenommen und einen Hörspieltext geschaffen der „nach Francis Ford Conrads "Herz der Apokalypse‘“ heißt. Die Geschichte beginnt am Landgericht Hamburg, wo der somalische Pirat Ultimo Michael Pussi der Piraterie angeklagt ist. Diesen Beruf hatte er an der Universität Mogadishu erlernt. Doch leider ging der erste Versuch bereits schief und er verlor seinen Freund und Partner Tofdau, was für ihn die eigentliche Katastrophe war. Doch diese Geschichte bildet nur einen vagen Rahmen, klärt indes auf recht ungewöhnliche Weise über Afrika und der Kultur des Kontinents auf. Die Protagonisten der eigentlichen Geschichte sind Hauptfeldwebel Oliver Pellner und Unteroffizier Stefan Dorsch. Sie „fahren mit einem Boot durch die Regenwälder Afghanistans“, um einen gewissen Oberstleutnant Deutinger aufzuspüren, der die Kameraden seiner Spezialeinheit getötet hat, um, wie sich herausstellt, die Zahl der getöteten Soldaten im Krieg zu begrenzen. Pellner soll die Koordinaten des Aufenthaltsortes von Deutinger durchgeben, damit die Bundeswehr ihn mittels eines gezielten Luftschlages töten kann, denn er hat ja ganz offensichtlich den Verstand verloren.

  Die lcherliche Finsternis  
 

Pascal Fligg, Agens Decker, Pola Jane O`Mara, Jakob Immervoll

© Gabriela Neeb

 

Wolfram Lotz ist Jahrgang 1981 und so ist fraglich, ob die Codes, die jemand mit DDR-Vergangenheit und NVA-Dienstpflicht herausliest, auch tatsächlich beabsichtigt waren. So ist es schon mal verwunderlich, dass ein Hauptfeldwebel mit einer derartig komplexen Mission beauftragt wird. Es ist ein Unteroffiziersdienstgrad, selbständiges Denken gehört nicht zu den vornehmlichen Eigenschaften eines solchen Ranges. Pola Jane O´Mara spielte diese Figur in der Volkstheater-Inszenierung von Lukian Guttenbrunner mit der Beherrschtheit eines, das Wort ist bereits gefallen, Hauptfeldwebels. Sei es drum, denn Klischees müssen ja erst einmal vorgeführt werden, um sie als solche zu entlarven. Die Tatsache, dass Unteroffizier Stefan Dorsch aus Bernburg an der Saale (Sachsen-Anhalt) stammt, löst bei Kennern der Stadt zwei Assoziationen aus. Zum einen wird der geistige Zustand der Stadt unter der Hand damit begründet, dass bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts psychische Erkrankungen in der Stadt behandelt wurden. (Man möge mir verzeihen, ich zitiere nur einen Einwohner der Stadt.) Die Patienten waren Freigänger und haben möglicherweise genetische Spuren hinterlassen. Und in den Jahren zwischen 1940 und 1941 wurden in Bernburg 15.000 Kranke, Behinderte und KZ-Häftlinge von den Nazis im Rahmen des Euthanasieprogramms getötet. Das hingegen sind harte Fakten. Unteroffizier Stefan Dorsch ist einer, der zur Bundeswehr ging, weil es immer noch besser ist, als arbeitslos zu sein. Jakob Immervoll spielte die Figur mit einem gehörigen Maß an Naivität, aber auch mit zutiefst menschlicher Liebenswürdigkeit.

Auf ihrer Odyssee durch den Kundus begegneten sie unterschiedlichsten Menschen, zum Beispiel Verlierern des Krieges wie den Händler Stojković (Agnes Decker), dessen Familie bei einem Luftschlag umkam, und der sich selbst dafür verantwortlich machte, weil er unbedingt eine Markise am Haus haben wollte, die letztlich den Brand und somit den Tod von Frau und Kind möglich machte. Sie kamen zu einer christlichen Mission, die von einem Reverend Carter geleitet wurde. Pascal Fligg, der in jeder seiner drei Rollen brillierte, entlarvte den Mann als einen ausschließlich von seiner eigenen Sexualität motivierten Geistlichen, der in der Befreiung der Frau vom muslimischen Joch vornehmlich ihre Entkleidung verstand. Fliggs Reverend war eigentlich komplett irre, doch entbehrte die Figur nicht eines starken Realitätsbezugs in Fragen Sexualität und Missbrauch. Sie war ebenso irre wie die Figur des Oberstleutnant Deutinger, die Pascal Fligg auf ein absurdes Rechenexempel reduzierte. Und als sich endlich alles in ein plötzliches Nichts auflöste und die Figuren einfach zurückließ, tauchte Tofdau auf, der verschollene Freund des Piraten Ultimo Michael Pussi, der in Hamburg vor Gericht stand. Tofdau, Agnes Decker, war bei der versuchten Kaperung des Schiffes vor Somalia ins Meer gefallen, auf den Grund gesunken und von dort bis nach Afghanistan und auf die Bühne des Volkstheaters gewandert.

Die Bühne des Kleinen Hauses, gestaltet von Jenny Schleif (Bühne & Kostüme) mit weißen Rückwänden und drei dreidimensionalen weißen Möbeln, aus denen die Darsteller gelegentlich auftraten, war Kriegsschauplatz und zuletzt vollkommen zerstört. Hannes Dufek hat die Zerstörung mit seiner Musik sogar hörbar gemacht. So geht es nun mal zu im Krieg. Man kann halt nicht Duschen, ohne nass zu werden. Doch diese Äußerlichkeiten blieben marginal, denn eigentlich ging es um den Wahnsinn, der hinter allem steht und der genetisch im Menschen verankert zu sein scheint. Oder wird er vielleicht nur künstlich erzeugt? Existiert diese Finsternis möglicherweise gar nicht und ist nur ein Konstrukt, um diesen, für die Kriegstreiber und – gewinnler dieser Welt notwendigen Wahnsinn zu erzeugen? Wie sollte man einen Krieg entfachen, wenn nicht alle, oder zumindest eine Mehrzahl, diesem Wahn verfallen sind? Mit den richtigen Argumenten, und Wolfram Lotz hat sie in seinem Stück in hoher Zahl geliefert, erscheint die Finsternis in der Tat einfach nur lächerlich. Lotz hat mal das Licht angemacht.

Wenn „Apocalypse Now“ eine Aufsehen erregende Adaption der 1902 entstandenen Erzählung „Das Herz der Finsternis“ war, dann ist „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz eine Lachen erzeugende Persiflage auf beide Werke. Die Inszenierung am Volkstheater von Lukian Guttenbrunner war zudem eine gelungene, die, obgleich über weite Strecken sehr lustig und komödiantisch, nie aus dem Auge verlor, worum es eigentlich geht: um Krieg und dessen Absurdität. Dieses Stück ist eigentlich ein gelungener therapeutischer Ansatz für all diejenigen, die stirnrunzelnd und mit flatternden Nüstern Gefahren wittern und meinen, ganz im Sinne von „Si vis pacem para bellum“ („Wenn du (den) Frieden willst, bereite (den) Krieg vor.“): “Siehe, die Finsternis!“ Also, besser erst mal aufrüsten, dann sieht man schon. Was kann man schon sehen? Die Welt in Schutt und Asche, und zwar garantiert! Hat bisher immer funktioniert.

Wolf Banitzki

 


Die lächerliche Finsternis

von Wolfram Lotz

Mit: Agnes Decker, Pascal Fligg, Jakob Immervoll, Pola Jane O´Mara

Regie: Lukian Guttenbrunner

Volkstheater  Warten auf Godot von Samuel Beckett


 

Ein Quäntchen zu viel Regie

Kaum ein Name hat die Theaterwelt so erregt, wie der Name Godot. Man möchte meinen, die Glückseligkeit hänge davon ab, herauszufinden, welche Bedeutung dieser Name hat. Inzwischen hat man sich darauf geeinigt, dass Beckett es tunlichst vermied, diese Frage zu beantworten, denn er wollte, dass „möglichst viele Geschichten in Umlauf gesetzt werden (…) je mehr es davon gibt, desto mehr Spaß macht mir das.“ Dabei ist es müßig, es um jeden Preis herauszubekommen. Immerhin hat sich Beckett dazu geäußert und wer etwas von der Arbeit eines Schriftstellers oder Dramatikers versteht, der weiß, dass es selten nur einen Inspirationsquell für etwas gibt. So beantwortete Beckett diese Frage, gestellt von Roger Blin, der die Uraufführung besorgte: ihm hätte sich der Name aufgedrängt im Zusammenhang mit dem Argot-Wort für Stiefel: „godillot, godasse“, denn schließlich spielten Stiefel ein bedeutende Rolle im Stück. Die zweithäufigste Geschichte aus seinem Mund besagt, dass er während der Tour de France an einer Straßenecke eine Menge Leute versammelt sah und sich erkundigte, was sie dort täten. Die Antwort: „Nous attendons Godot“. Sie warteten auf Godot. Das war der Name für den ältesten und erfahrensten Radfahrer. Alle anderen waren bereits vorbeigekommen, nur Godot noch nicht.

Es ist völlig bedeutungslos, wer Godot eigentlich ist, denn er kommt nicht. Es geht nur um das Warten. Das ist der Plot der Geschichte und somit sind die Figuren in ihrer Existenz auf sich selbst zurückgeworfen, eine Schlüsselaussage des Existenzialismus Camusscher Prägung, der seinerzeit umging wie eine Seuche und beispielsweise in Osteuropa, besonders in Polen, Selbstmordwellen auslöste. Man beachte, wie oft Wladimir und Estragon ihren Selbstmord in Betracht ziehen! Es ist in der Tat müßig, nach einer versteckten Botschaft zu suchen. Die Botschaft ist: Warten auf Godot, der nicht kommt. Und das ist beileibe keine banale Botschaft.

Vergegenwärtigt man sich einmal die Situation der Intellektuellen unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, die bis dato schlimmste Katastrophe von Menschenhand, kann man eine allgemeine geistige Paralyse konstatieren. Die Intellektuellen mussten sich ihr eigenes Scheitern eingestehen, angesichts der Vernunftlosigkeit der Zeit, manche mussten sich sogar eingestehen, kollaboriert zu haben. Es ging eine panische Angst um, neue politische Theorien oder Philosophien zu entwickeln, denn man hatte am eigenen Leib erfahren, wie schnell und gewaltig man irren kann. Alle Welt, auch die deutsche Kunst- und Denkerszene hielt still und wartete auf eine Erlösung (oder auch auf einen Erlöser), die ihnen wieder Wege aufzeichnete, die gangbar waren. Doch das geschah nicht. Es sind genau solche Zustände, die Stücke wie „Warten auf Godot“ inspirierten. Ideen werden figürlich, damit die Ideen, hier sind es die fehlenden Ideen, fassbar werden. Es gibt nichts dahinter, was man verstehen kann. Daher warnten die Autoren des Theaters des Absurden vor Interpretationen. Es verbirgt sich selten mehr als ein allgemeines Gefühl der Zeit dahinter. Beckett: „Ich habe gemeint, was ich sagte.“

Es ist ein Zug unserer Zeit, möglichst spektakuläre Erklärungen zu finden, und so gibt es eine neue Theorie, die besagt, Wladimir und Estragon waren zwei Juden, die an der Grenze zum unbesetzten Teil Frankreichs auf ihren Schleuser warteten, der sie in Sicherheit bringen sollte. Am besten, man vergisst das alles und versucht, das Werk zu genießen, soweit das möglich ist. Beckett ging es häufig mehr um Formen, als um die Botschaft, denn in der Form, und das wird häufig vernachlässigt, ist schon eine Botschaft enthalten. „Warten auf Godot“, in nicht einmal fünf Monaten verfasst, hatte Beckett „zur Entspannung geschrieben, um von der scheußlichen Prosa, die ich damals schrieb“ und um „von der Wildheit und Regellosigkeit“ der Romane „wegzukommen“. Es ist wichtig zu wissen, dass Beckett über keinerlei Erfahrungen mit dem Schreiben von Dramatik verfügte. Er begriff den Vorgang wie ein Schachspiel, bei dem es darum ging, Züge zu entwickeln oder vorauszuahnen. Das heißt, Beckett hatte eine sehr genaue Vorstellung von einer ureigenen Form.

Es ist bekannt, dass Beckett sehr heftig auf freie Interpretationen bei den Inszenierungen seiner Stücke reagierte. Der Hintergrund war keine ausgeprägte Eitelkeit, sich gegen andere künstlerische Komponenten zu wehren, sondern die Tatsache, dass Becketts Stücke nur dann gelingen konnten, wenn man sich strikt an die Vorgaben des Autors hielt. Gewagte These, wird mancher vielleicht sagen, doch den Beweis dafür haben zwei Theater in München im vergangenen Jahr geliefert. Gemeint ist die Inszenierung von „Das letzte Band“ im März 2018 am Theater Viel Lärm um Nichts (Regie: Matthias Grundig) mit Andreas Seyferth in der Hauptrolle und die Inszenierung von „Endspiel“ im November 2018 am Residenztheater (Regie: Anne Lenk) mit Oliver Nägele und Franz Pätzold. Beide Inszenierungen folgten peinlich genau den Vorgaben Becketts und beide Inszenierungen waren exemplarisch. Becketts Stücke sind wie fertige Bilder, genial stimmig in sich und zeitlos gültig. Jeder Versuch, zu aktualisieren, zu extemporieren, zu unterhalten, zerstört das Stück. Kein Mensch kommt auf die Idee, einem Bild eines großen Meisters einen gefälligeren, unterhaltsameren und zeitgemäßeren Hintergrund geben zu wollen. Nur wenn man das begreift, wird man Beckett gerecht und vor allem grandioses Theater erleben zu können.

  Warten auf Godot  
 

Silas Breiding, Jonathan Hutter, Jonathan Müller, Jakob Geßner

© Gabriela Neeb

 

Regisseur Nicolas Charaux, zuletzt begeisterte er mit einer fantastischen Inszenierung von Kafkas „Das Schloss“, brachte nun „Warten auf Godot“ in einer zweieinhalbstündigen Inszenierung auf die Bühne des Volkstheaters. Inhalt der Geschichte: Wladimir und Estragon haben an einer Landstraße an einer Stelle, wo sich ein Baum und ein Stein befindet, eine Verabredung mit einem gewissen Godot. Ihre Unterhaltung schwankt zwischen Hoffnung und Verzweiflung, denn Godot kommt nicht. Indes kommt ein gewisser Pozzo mit seinem Sklaven Lucky vorbei. Im ersten Akt tritt Pozzo herrisch und sogar barbarisch auf, im zweiten ist er wegen einer Erblindung hilflos. In beiden Akten tritt ein Junge auf, um zu vermelden, dass Herr Godot erst am nächsten Tag kommen würde. Der Baum, der im ersten Akt völlig kahl ist, treibt im zweiten Akt Blätter, jedoch nicht „um Hoffnung oder Erleuchtung zu zeigen, sondern nur, um das Vergehen der Zeit anzudeuten“, wie Beckett selbst betonte. Am Ende beider Akte stehen sie ratlos da, fordern sich gegenseitig zum Gehen auf und tun es doch nicht.

Nicolas Charaux bemühte sich, dem Stück gerecht zu werden und nahm sich seinerseits sehr zurück. Und doch muss man sagen, er tat es nicht in ausreichendem Maße. Es waren nur Kleinigkeiten wie das Spiel einer Harmonika, das zu Kastagnetten-Rhythmen ausklang. Das war putzig anzuschauen und zu -hören, hatte aber nichts mit dem Stück zu tun. Auch Momente, in denen Lippenspiele betrieben wurde oder Szenen aus Blickkontakten waren Nicolas Charaux und nicht Samuel Beckett. Man kann nur spekulieren, warum der Regisseur diese Attitüden einbaute. Es drängt sich jedoch die Vermutung auf, dass er dem Text nicht wirklich vertraute und dass diese Szenen, die keiner zusätzlichen Wahrheitsfindung dienten, ein Versuch war, dem Publikum die knapp zweieinhalb stündige „Tortur des Wartens“ erträglicher zu gestalten. Das aber wäre eine Todsünde, denn dieser Text hat aus eigener Kraft Bestand und besitzt für jedes Publikum eine universelle Bedeutung. Und unterhaltsam ist er allemal. Wenn man sich auf die Stichometrie, auf das Ping-Pong der Dialoge einlässt und sie bis „zum Äußersten treibt, dann kommt Lachen“. Der Versuch, Verbindlichkeiten zu den Figuren und der Figuren untereinander herzustellen, entsprach überhaupt nicht den Intentionen Becketts. Der betonte nämlich, dass „Warten auf Godot“ ein Stück ist, das bestrebt sei, sich jeder Festlegung zu entziehen. Die ganze Aufmerksamkeit solle folglich dem Text gelten.

Auch entsprachen die Darsteller, die ihre Sache wacker, engagiert und kompetent betrieben, nicht den Vorstellungen, die man seit der Uraufführung und nach der Lektüre des Dramas von ihnen hat. Jonathan Müller (Estragon) und Silas Breiding (Wladimir) sind einfach zu dynamisch, zu agil, zu kraftvoll, als dass man ihnen ihren Lebensüberdruss oder die permanente Müdigkeit tatsächlich abkaufen könnte. Es ist auch schade, dass Nicolas Charaux auf die Hut-Tausch-Nummer verzichtete, die den Vaudeville-Charakter des Stücks unterstreicht. Wahrscheinlich erschien es ihm nicht zeitgemäß oder verschlissen, weil die Vorstellungen von Komik heute anders sind als zu Becketts Zeiten. Das Problem ist, wie bereits angedeutet, dass Becketts Werk niemals „zeitgemäß“ war oder es sein könnte. Ebenso wenig war es eine gute Idee, den Baum zu abstrahieren und ihm im zweiten Teil vier grüne Würfel als sprießende Krone anzuheften. (Bühne Pia Greven) Der Baum soll nicht frühlingshaft grün sein, sondern, wie bereits erwähnt, das Vergehen der Zeit bedeuten. Beckett forderte einige wenige Blätter. Am stimmigsten war die Figur des Lucky, denn Jonathan Hutter hatte nicht mehr und nicht weniger zu transportieren als Becketts Text. Auch Jakob Geßner als Pozzo blieb im Rahmen der Beckettschen Vorgaben und donnerte sich verachtungsvoll und brutal, später dann orientierungslos durch die Szene.

Es hätte eine wirklich gelungene Sache sein können, wenn nicht ein Quäntchen zu viel Nicolas Charaux darin gewesen wäre. Er hat mit seinen Einsprengseln den zwingenden Fluss des Beckettschen Stückes unterbrochen und somit Längen erzeugt. Und wer nicht versteht, was damit gemeint ist, dem sei dringend angeraten, sich im Residenztheater Anne Lenks „Endspiel“ anzuschauen, solange es noch läuft. Der kleine, feine Unterschied ist unübersehbar. Nur wer das Stück (oder die Stücke) von Beckett nicht in Gänze verstanden und erfühlt hat, mangelt es an Vertrauen, es so auf die Bühne zu bringen, wie der Autor es sich vorstellte. Letztlich ist es immer eine Restangst vor der Ablehnung des Publikums, die Regisseure einknicken lassen und sie zu überflüssigem Beiwerk verführen. Erfolg bedeutet nicht immer, dem Publikum gefallen zu haben. Derartiger Erfolg kann durchaus suspekt sein, wie die Uraufführung und die Reaktionen darauf bewiesen. Theater sollte das Publikum immer ein wenig überfordern, damit es sich entwickelt.

Martin Esslin schrieb über die Uraufführung: „Schrie es nicht zum Himmel, dass die Leute aufgefordert wurden, sich ein Stück anzusehen, das nichts anderes als ein Riesenjux sein konnte, ein Stück, in dem nichts, aber auch gar nichts passierte! Die Leute gingen hin, um sich das Stück anzusehen, bloß um diese skandalöse Unverschämtheit mit eigenen Augen gesehen zu haben und bei der nächsten Party sagen zu können, sie seien doch tatsächlich eines der Opfer dieses Frevels gewesen.“ (Martin Esslin: „Is it All Gloom and Doom?“, The New York Times, 24. September 1967.)

Genau betrachtet, hat sich Becketts „Warten auf Godot“ noch immer nicht umfänglich durchgesetzt. Allerdings hat sich der Ruf des Stückes soweit gefestigt, dass es von den Spielplänen nicht mehr wegzudenken ist. Es besteht Hoffnung, anders als im Stück.

Wolf Banitzki


Warten auf Godot

von Samuel Beckett
Deutsch von Elmar Tophoven

Mit: Jonathan Müller, Silas Breiding, Jonathan Hutter, Jakob Geßner, Julian Engel/ Francesco Wenz

Regie: Nicolas Charaux

Volkstheater Herakles nach Texten von Frank Wedekind, Euripides und Gustav Schwab


 

Mythologische Kneipp-Kur

Bei dem Namen Amphytrion denkt man beinahe automatisch an die häufig gespielte Tragikomödie von Heinrich von Kleist. Darin geht es um einen unwissentlichen Ehebruch, denn Alkmene erwartete ihren Ehemann Amphytrion (der Name bedeutet „der doppelt Geplagte“), der aus dem Krieg heimkehren sollte. Eine Nacht vor seiner Ankunft erschien der Alkmene der Göttervater Zeus in der Gestalt ihres Gatten Amphytrion. (Bei Kleist ist der göttliche Ehebrecher Jupiter, da Kleist die Molièresche Fassung als Vorlage nahm, der wiederum den römischen Mythos zu Grunde gelegt hatte.)
In dieser Nacht wurde Herakles gezeugt. Doch er kam nicht allein zur Welt, denn er hatte einen Zwillingsbruder Iphikles, dessen Vater Amphytrion war oder gewesen sein soll. Also die Theorie vom „doppelten Sprung“ ist zwar wissenschaftlich widerlegt, doch wenn der Göttervater persönlich gesprungen ist, können wir die Gynäkologie getrost außen vor lassen. Hera, die ewig intrigierende, von Eifersucht zerfressene Ehefrau des Oberhauptes des Olymps, es könnte sein, dass Hera die weibliche Form von Heros ist, was ihre permanente Einmischung und Anmaßung ein stückweit erklären würde, legte den Zwillingen zwei Schlangen ins Bett, um herauszufinden, welcher Spross den Lenden des Zeus entsprungen ist. Während Iphikles sich schleunigst aus dem Staube machte, packte Herakles beherzt zu und erwürgte die Schlangen. Der Vaterschaftstest war aufschlussreich. Amphytrion indes war beiden ein guter Vater.

Zeus hatte sich bei der Zeugung tüchtig ins Zeug gelegt und der Knabe entwickelte naturgemäß übermenschliche Kräfte. Weniger gut war es um seine intellektuellen Fähigkeiten und seine Selbstbeherrschung bestellt. Da kam schon mal ein Lehrer zu Tode, weil er den Zorn des Knaben erregt hatte. So sehr sich der kleine Depp auch bemühte, seine Chancen standen schlecht, denn er hatte eine mächtige Feindin: Hera, sie verfolgte ihn beständig mit Hass, wie übrigens viele (uneheliche) Sprösslinge ihres Gatten. So wuchs der kleine Depp zu einem großen Deppen heran, der folgsam tat, was ihm geheißen wurde.

Schließlich musste er einen Großteil der Drecksarbeit (auch Heldentaten genannt, denn meist kam irgendwer oder irgendwas zu Tode oder wurde gestohlen) in der griechischen Sagenwelt verrichten. Als er seine Arbeiten oder Tötungen verrichtet hatte, die Aufträge hatte er von Eurystheus, König von Mykene und Tiryns erhalten, zu dessen Untertan man ihn gemacht hatte, meldete er seinerseits Anspruch auf den Thron an. Als Dank dafür schlug ihn Hera mit temporärem Wahnsinn und er im Wahn seine Frau und seine drei Kinder tot. Wieder halbwegs bei Sinnen, folgte er dem Rat, das Orakel von Delphi zu befragen, wie er seine Schuld wohl sühnen könnte. Das Orakel orakelte: Nur durch vermehrte Arbeit könne er sühnen. (Der Spruch hätte auch von einem Parteisekretär der SED stammen können.)

Irgendwann war Herakles endgültig durch mit der Welt und seinen Ansprüchen. Er bestieg einen Scheiterhaufen und verbrannte sich. Als der Vater die Asche nach Resten des Sohnes durchsuchte, um diese zu bestatten, grub er vergeblich. Herakles war aufgestiegen in die Welt der Götter, war nun selbst Gott geworden. Das klingt zwar alles recht traurig, war es aber nicht, denn die antiken Barden hörten nicht auf, ihre Fäden zu spinnen und so legte sich Herakles in seinem nächsten Leben sogar mit seinem Vater Zeus an, befreite beispielsweise den Renegaten Prometheus vom Felsen des Kaukasus. Dabei haute der Held gehörig auf dem Putz.

  Herakles  
 

Mauricio Hölzemann, Carolin Hartmann, Jakob Geßner, Luise Deborah Daberkow

© Arno Declair

 

Simon Solberg tat dasselbe und brachte eine rasante und laute Inszenierung des im Stile des Brutalismus gestrickten Mythos‘ auf die Bühne des Volkstheaters. Selbige war gänzlich mit Wasser geflutet und sämtliche Bühnenbildelemente und Requisiten bestanden aus zusammenfaltbaren Schläuchen unterschiedlichster Durchmesser. Der Einfall von Simon Solberg, der auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnete, war grandios. Die Schläuche ermöglichten jede nur denkbare Darstellung, angefangen von antiken Säulen, die in den Bühnenhimmel ragten, über Wohnräume, Kleidung, Frisuren bis hin zu den Hälsen der neunköpfigen Hydra, die Herakles zerschmetterte. Selbst ein Korb mit den gestohlenen goldenen Äpfeln der Hesperiden war glaubhaft dargestellt.

Solbergs Protagonisten liefen auch in dieser Inszenierung auf Hochtouren und so war Slapstick fixer Bestandteil der Ästhetik. Doch störte es nicht, war doch alles eitle Beiwerk außen vor geblieben. Daher fiel es nicht schwer sich auf die Komik, die durchgängig über die Körperlichkeit erzeugt wurde, einzulassen, denn sie diente der Geschichte und nicht der Selbstdarstellung. Und die Geschichte war die eines schlichtgestrickten, aber durchaus gutherzigen Mannes, dessen Manko darin bestand, seine übermäßigen physischen Kräfte nicht unter Kontrolle zu haben, was auch daran lag, dass andere diese Kontrolle übernommen hatten und ihn (fern-)steuerten. Max Wagner ließ einen Herakles erstehen, der sowohl physisch, als auch in der Darstellung der Psyche überzeugte. Wagners Bubenhaftigkeit erzeugte ein ständiges Understatement. Sein Kostüm unterstrich dies (Kostüme: Katja Strohschneider), denn er war in seinem Feinrippunterhemd mit nichtssagender Hose und Hosenträgern alles andere als stylisch oder gar körperbetont gekleidet. Bisweilen erinnerte er an Matt Damon, Aschenputtel aus Dynamit. Sein Gegenspieler Eurystheus, mit vollem Körpereinsatz und bisweilen saukomisch von Jakob Geßner gespielt, war der krasse Gegensatz. Sein Kostüm verwandelte ihn komplett in das, was die Rolle verlangte, in einen physischen und moralischen Cretin. Thomas Eisens Amphitryon war ein Mann des großen Gefühls, insbesondere für seinen Sohn. Er ging in jede Bresche, um seinem Sohn beizustehen. Sein unbändiger Stolz war in jedem „Das ist mein Sohn …“ unüberhörbar. Aber auch er war letztlich eine komische Nummer, ganz im Sinne von Kleists Tragikomödie: „Der doppelt Geplagte“. Immerhin rührten seine letzten Worte über den vermeintlichen Verbleib seines Sohnes an.

Das von Solberg erzeugte Gefühlsspektrum war beinahe grenzenlos. Er gab seine Figuren der Lächerlichkeit preis und er beschwor ihren guten Kern. Er zeigte die Figuren ohnmächtig im Spannungsfeld der göttlichen Willen (Plural) umher taumeln, stürzen und verzweifelnd um Rettung ringend. Er veranstaltete martialische Schlachtfeste und Momente zärtlichster Liebesbekundungen. Die Beziehung zwischen Herakles und Megara, ein wenig zickig und schrill von Carolin Hartmann verkörpert, war vollkommen natürlich, Eheprobleme aus der Welt von unsereins. Was die Darstellung von Carolin Hartmann betrifft, so sei erwähnt, dass diese antike Figur für die Bezeichnung „Megäre“ Modell gestanden haben könnte. (Es wird aber auch die Ansicht vertreten, Megäre sei von der griechischen mythologischen Rachegöttin Megaira abgeleitet.) Die Iole von Luise Deborah Daberkow brachte an Wuchtbrummigkeit auf die Bühne, was Mauricio Hölzemanns Lichas abging. Dessen Körperlichkeit, er punktete damit schon gewaltig in „Glaube Liebe Hoffnung“, hat etwas von einer Gottesanbeterin. Er weiß mit diesen Pfunden (die ja eigentlichen nicht da sind) gehörig zu wuchern.

Simon Solberg brachte sehr übersichtlich, locker und flockig erzählt und inszeniert einen großen Mythos auf die Bühne, der der Hinterfragung wert ist. Wann immer wir in der Geschichte von Helden sprechen, sind diese zumeist Massenmörder. Herakles ist auch einer und die einzige aber letztlich untaugliche Entschuldigung ist sein schlichter Geist, der von einem anderen fiesen Typ gehörig manipuliert wurde. Allerdings leben wir wieder in einer Zeit, wo Helden heraufbeschworen werden, starke Männer, durchsetzungsfähige, muskelbepackte Kerle, die nicht lange fackeln und es schnell (und nicht schmerzfrei) richten. Übrigens, die Zahl der weiblichen Heldinnen, zumeist mit männlichen Attributen ausgestattet, nimmt rasant zu.

Die Sehnsucht nach Helden in Zeiten der Unsicherheit wird gern als naturgemäß angenommen. Auch darüber sollte einmal nachgedacht werden. Könnte es nicht sein, dass es genau diese Figuren, die vermeintlichen Helden sind, die letztlich die finale Phase der Entwicklung einleiten und alles ins Chaos stürzen? Brecht hat es in seinem „Leben des Galilei“ auf den Punkt gebracht, in dem er den Wissenschaftler sagen lässt: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ Also werden wir endlich erwachsen oder zumindest klug und belassen wir derartige Helden dort, wo sie hingehören: in Comics.

Wolf Banitzki

 


Herakles

nach Texten von Frank Wedekind, Euripides und Gustav Schwab

Mit: Max Wagner, Jakob Geßner, Thomas Eisen, Carolin Hartmann, Luise Deborah Daberkow, Mauricio Hölzemann

Regie: Simon Solberg

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