Kammerspiele Exiles von James Joyce
Ein skurriles Panoptikum menschlichen Verhaltens
James Joyce’s Literatendasein begann mit der Selbstbehauptung, dass er ein Literat sei, und zwar einer, der die Welt verändern werde. Zeitgenossen nahmen den anmaßenden und schrulligen Gesellen kopfschüttelnd zur Kenntnis. Dennoch, die literarische Welt hat er verändert, spätestes mit seinem Roman „Ulysses“. Die wichtigste Person in seinem Leben, seine Ehefrau Nora Barnacle, gab allerdings nicht allzu viel auf sein Gerede. Sie vertrat die Ansicht, ihr lieber James wäre besser Sänger geworden. Dem Maler Frank Budgen gegenüber äußerte sie: „Mein Mann schreibt ein Buch, aber ich sage Ihnen, das Buch ist ein Schwein.“ Joyce war entsetzt: „Sie macht sich nichts aus meiner Kunst“, schrieb er verzweifelt an seinen Bruder Stanislaus. Freund Budgen ließ er wissen: „Du hast Verständnis, du kannst erkennen, dass ich eine Art Persönlichkeit bin. Ich übe eine bestimmte Wirkung auf die Leute aus, die mit mir in Berührung kommen, mich kennen und meine Freunde sind. Aber die Persönlichkeit meiner Frau ist gegen jeden Einfluss meinerseits völlig gefeit.“
Der Ausspruch Noras stammte aus der Zeit des Aufenthalts in Zürich während des ersten Weltkriegs, nachdem die beiden bereits mehr als zehn Jahre miteinander leiert waren. Es war auch die Zeit, in der das Stück „Verbannte“ entstand. Dieses Ehedrama hat durchaus autobiografische Züge und geht auf das Jahr 1904 zurück, in dem sich James und Nora kennen und lieben lernten. Als Joyce 1909 in Dublin weilte, hinterbrachte man ihm, sein Freund Vincent Cosgrave, der ebenfalls um Nora geworben hatte, wäre auch nach ihrem Bekenntnis zu Joyce noch ihr Liebhaber gewesen. Joyce, Arno Schmidt nannte ihn den „Mann mit dem Hahnrei-Komplex“, stürzte in eine tiefe Krise. John Francis Byrne, ein Jugendfreund, berichtete, er habe noch nie „ein menschliches Wesen schlimmer zerrüttet gesehen, (Joyce) weinte und stöhnte und gestikulierte in sinnloser Schwäche“. Joyce selbst meinte: „Ich bin in absurdem Grade eifersüchtig auf die Vergangenheit.“ (21. August 1909) Am Tag darauf fordert er in einem weiteren Brief: „Noch schwelt die Eifersucht in meinem Herzen. Deine Liebe zu mir muss stürmisch und gewalttätig sein, um mich völlig vergessen zu machen.“
In „Verbannte“ versucht Joyce die Problematik literarisch zu überwinden. Es handelt sich dabei nicht nur um ein Ehedrama, sondern um den Versuch, einen tauglichen Ansatz für den Umgang mit dem Treuebruch zu finden. Eingedenk der Tatsache, dass ‚die Sünde erst mit dem Gesetz in die Welt kam‘ (Paulus), glaubte Joyce in einer Welt der Unaufrichtigkeit und der Bigotterie an die unbedingte Offenheit und Aufrichtigkeit in einer Beziehung. Weiß Mann oder Frau erst um den „Fehltritt“ oder den „Ehebruch“ des Partners, wird man ihn oder sie erkennen/verstehen und auf besondere (im Sinne einer neuen Qualität) Weise lieben können. So sehr sich Joyce, der psychische Krisen anzog wie Licht die Motten, auch nach einem schmerzfreieren Umgang mit der Problematik sehnte, er selbst blieb der beste Beweis des naturgemäßen Scheiterns. Immerhin, der Versuch war es wert.
Das Drama erlebte 1919 seine Uraufführung an den Münchner Kammerspielen. Jetzt brachte Regisseur Luc Perceval das Stück in einer durch ihn, dem Ensemble und den Dramaturgen Jeroen Versteele erarbeiteten Fassung erneut auf die Bretter des traditionslastigen Hauses. Perceval, der 2009 mit einer eigenen Lulu-Fassung in den Kammerspielen für heftige Diskussionen sorgte, ist einer der ambitioniertesten Theaterkünstler unserer Zeit. Seine Inszenierungen spalten und polarisieren, werden gefeiert und geschmäht. Es sind stets hochartifizielle Geschichten, in denen das (geschriebene) Drama häufig zu Gunsten einer eigenwilligen Ästhetik in den Hintergrund tritt. So auch im Fall von „Exiles“ wie das Joyce-Drama im Original heißt. Zum Stück meint Luc Perceval: „Es ist wie ein Thriller geschrieben, als eine spannende Reihe von Begegnungen zwischen Menschen, die ein gefährliches Spiel miteinander treiben.“ (Programmheft)
Percevals Inszenierung zielte genau auf diese Momente des gefährlichen Spiels. So blieb der große Rahmen der Vorlage auch recht undeutlich. Darum sei dem Besucher empfohlen, sich vorab über den Inhalt des recht faden Konversationsstückes zu informieren. Bereits das Bühnenbild von Katrin Brack entschlüsselte sich nicht automatisch. Es wurde von einem übergroßen Porträt eines Vorstehhundes dominiert. Das Bild resultierte nicht aus dem Text, sondern aus der Tatsache, dass während der Proben die Hunde der Darsteller anwesend waren. Perceval bemerkte, wie anders die Tiere auf die Vorgänge reagierten und erkannte den Kontrast. So war der Schritt, einen Hund auf die Bühne zu bringen, naheliegend und tatsächlich war dieser Kontrast zwischen dem (scheinbar wissenden und erkennenden) Blick des Hundes und den Vorgängen unübersehbar.
Das Besondere an der Ästhetik Percevals dieser Inszenierung war vornehmlich der Umgang mit der Zeit. Die wurde bis an die Schmerzgrenze gedehnt. Scheinbar endlose Pausen lagen zwischen den Reaktionen und den Sätzen der Darsteller. Handlungsarmut erklärte Entscheidungsunfähigkeit, aber auch Ängste. Es war ein ständiges Lauern, ein Belauern, ein Abwarten, ein Aussitzen. Doch die Konflikte eskalierten, mussten eskalieren, so sah es das Stück vor. Und wenn es zu emotionalen Ausbrüchen kam, dann wurden sie in endlosen Wiederholungen herausgeschrien. Alle Vorgänge gerieten unnatürlich, das „normale“ menschliche Verhalten blieb aus, erlag einer geplanten und organisierten Diskontinuität und ermöglichten in einigen Situationen Blicke hinter die scheinbar schützenden Fassaden.
Bei Joyce werden als Handlungsorte der Salon des Schriftstellers Richard Rowan und das Cottage des Journalisten Robert genannt. In Percevals Inszenierung wurde auf konkrete Orte gänzlich verzichtet, wodurch die Handlung in eine Schwebe geriet. Sie blieb unverortet. Den Schriftsteller Richard spielte Stephan Bissmeier leise und sparsam. Seine stärksten Momente waren die Augenblicke der Verunsicherung, die der intellektuelle Richard sichtlich bemüht zu verbergen suchte. Das war nicht leicht, denn seine Ehefrau Bertha, gespielt von Sylvana Krappatsch, ließ ihm nicht viel Spielraum, taktierte ebenso gerissen, wie er sie zu führen versuchte. Der Journalist Robert, der seinem Freund Richard, dessen Frau er heiß begehrte, zu einem Lehrstuhl verhelfen wollte, gab in der Kammerspielinszenierung eine grotesk-komische Figur ab. Kristof Van Boven, zu einem „dicken, alten Mann“ aufgepolstert, kaufte man den erfolgreichen Womanizer nur schwerlich ab. Doch das muss in der Intention der Regie gelegen habe, sonst hätte Luc Perceval die Figur anders geführt. Der Erfolg bei den Frauen blieb bloße Behauptung. Marie Jung als Beatrice, Muse des Schriftstellers Richard und Cousine und Ex-Geliebte Roberts, verlor sich im Kontext der (nicht oder kaum) erzählten Geschichte. Sie blieb unentschieden, wie beinahe alle anderen Rollen letztendlich auch. Immerhin bekannte sich Bertha nach den heftig geschlagenen Schlachten zu ihrem Mann. Hier deckte sich die Geschichte mit der von Joyce und Nora.
Es gab allerdings noch den Sohn der Familie Rowan, Archi, der in Percevals Inszenierung zwar stumm blieb, aber dennoch einen gehörigen Beitrag leistete. Dank Dine Doneffs musikalischer Begleitung auf dem Kontrabass entstanden spannungsvolle Momente, die über die Zähigkeit der Vorgänge hinweg trugen.
Es steht außer Frage, dass auch diese Inszenierung Percevals nicht zum Amüsement des Besuchers entstanden ist, sondern um eine durchaus aktuelle Problematik zu diskutieren und die vielleicht so etwas wie eine Katharsis im Auge hatte. Allerdings verstieg sich Perceval auch in dieser Inszenierung in derart artifizielle Regionen, dass es dem Zuschauer kaum möglich war, mit den Figuren zu fühlen. Es gab kaum emotionale Verbindlichkeiten und blieb somit ein skurriles Panoptikum menschlichen Verhaltens in Situationen, die beinahe jeder Zeitgenosse kennt.
Wolf Banitzki
Exiles
von James Joyce
Stephan Bissmeier, Dine Doneff, Marie Jung, Sylvana Krappatsch, Kristof Van Boven
Regie: Luk Perceval
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Kammerspiele Geschichten aus dem Wiener Wald von Ödön von Horváth
Die Gesellschaft erodiert im Walzerschritt
Am Tag ihrer Verlobung gibt sich Marianne, Tochter des Zauberkönigs, wie sich der Scherz- und Zauberartikelhändler selbst nennt, hin. Doch nicht ihrem Verlobten, dem tumben Metzger Oskar, sondern dem Spieler und Gigolo Alfred. Der Akt hat Folgen. Die Verlobung platzt, Marianne wird verstoßen und schwanger. Das Zusammenleben der beiden endet nach einem Jahr in einer Misere. Alfred, inzwischen Kosmetikvertreter, fühlt sich zu Höherem berufen und kehrt Marianne den Rücken. Die muss den Ihrigen in einem „international renommierten“ Varieté als „künstlerische Aktskulptur“ zur Schau stellen. Das Kind namens Leopold, nach dem ablehnenden Großvater benannt, wird zu Alfreds Mutter in die Wachau abgeschoben, wo es von der garstigen Großmutter weiterbefördert wird, nämlich zum Herrgott. Als Marianne, einer böswillige Verleumdung zur Folge, wegen des Verdachts auf Diebstahl ins Untersuchungsgefängnis muss, ist sie endgültig gebrochen und kehrt in die Metzgerarme Oskars zurück. Ihren Vater, den Zauberkönig, ereilt ein Schlaganfall, als er vom Tod des Enkels erfährt, den er gerade akzeptieren gelernt hatte und auf den er sich ehrlich freute.
Stephan Kimmig inszenierte das emotionsüberfrachtete Rührstück distanziert und mit dem kühlen Blick des Analytikers. Er vermied dabei jeglichen Befindlichkeitsausdruck, überhöhte die Szenen mimisch artifiziell und ließ seine Akteure sprechen, als führten sie keine Dialoge sondern permanente Selbstbehauptungen. Bereits beim Betreten des Foyers wurde der Besucher mit Walzerklängen und tanzenden Senioren empfangen. Was anfangs mit Verblüffung und Belustigung registriert wurde, schlug bald in quälende Belästigung um. Als sich endlich der eiserne Vorhang zur Vorstellung hob, die Walzerklänge verstummten, ging ein Aufatmen durch die Reihen. Doch Regisseur Kimmig beließ es nicht bei dieser seltsam anmutenden Introduktion, sondern verfolgte sein Konzept, die Handlung in rhythmischen und auch arhythmischen Tanz zu transferieren, konsequent. Sichtbar wurde die innere Zerrissenheit der einzelnen Figuren, wenn sie sich bemühten im Rhythmus der Masse zu verbleiben. Doch immer wieder schlugen ihre Bemühungen fehl und sie verfielen in spastisch anmutende Bewegungen.
Katja Haß hatte die Bühne mit einem hölzernen Tanzboden versehen, der drehbar war und der an die ärmlichen „Tanzpaläste“ erinnerte, in denen sich das Volk billig amüsierte. Die Musik, so verbissen sie auch Harmonie einzufordern versuchte, konterkarierte die auszutragenden Konflikte. Der Vater verstieß „wegen der Moral“ die Tochter; der egoistische, hypertrophe Mann verriet die vorgeblich geliebte Frau; die bösartige Großmutter stellte den Säugling jede Nacht in den kalten Durchzug, bis dieser endlich am Fieber verstarb. Doch am Ende entstand wieder so etwas wie eine heile Welt, eine Welt aus Bigotterie und der gnadenlosen Unterdrückung eines individuellen Glücksanspruchs. Oskar, proper-blöde von Stefan Merki gespielt, sollte Recht behalten, als er Marianne drohte: „Du entgehst meiner Liebe nicht!“ Am Ende resignierte sie und offenbarte schlicht: „Ich kann nicht mehr.“ Sie hatte das für sie arrangierte Ziel erreicht. Der Rest war Grauen.
Stephan Kimmigs Inszenierung brach radikal mit einer scheinbar unausweichlichen Gefühlsduselei, die zweifelsohne unterhaltsam sein kann, sich in bestem Wiener Schmäh ergeht und dabei in der Wirkung über ein ehrliches Schaudern nicht hinaus gelangt. Kimmigs Sicht war existenzieller und endgültiger. Wenn Peter Brombacher in seiner lächerlichen Verkleidung als Großmutter das Lied von der Wachau sang, säuerte der Heurige und ätzte den Lack von der bürgerlichen Fassade. Ausbrüche wahrhaftigen Mitgefühls nahmen zerstörerische Züge an. So brach Sylvana Krappatsch als Valerie unter dem Druck der verdrängten Emotionen schlichtweg zusammen. Doch ihre Auferstehung führte sie schnell zurück in die bürgerliche Scheinwelt, in der sie durchaus einen Preis hatte und den sie auch lebensgierig einforderte. So kehrte die verwelkende Schönheit der Wahrheit, die sie gerade noch so unbarmherzig gefällt hatte, den Rücken. Man muss ja schließlich irgendwie weiterleben...
Max Simonischeks Alfred war die erbärmlichste Figur im kleinbürgerlichen Panoptikum. Seine pseudophilosophischen Argumente sind selbst heute durchaus modern und zeitgemäß, wenn es darum geht, eine parasitäre Lebensform zu begründen. Charakterlosigkeit war, ist und bleibt die Basis einer wohlfeilen Gesellschaft, die für alles einen Preis berechnen kann. Beim Rittmeister hingegen fanden sich noch rudimentäre Moralvorstellungen. Jochen Noch spulte sie geradezu mechanisch ab, als könnte er sich gegen diese Relikte vergangener Zeiten nicht erwehren. Wolfgang Preglers Zauberkönig indes nahm groteske Züge an, wenn er über den frühen Tod seiner Frau, über die feindlichen ökonomischen Bedingungen oder den tiefen Fall seiner Tochter in Larmoyanz verging. Anna Drexlers Spielgestus war ebenso distanziert wie Stephan Kimmigs gesamte Sicht auf das Stück. Sie verdeutlichte dem Publikum, dass es sich bei ihr nicht um ein zutiefst unglückliches Mädchen handelte, sondern um eine Schauspielerin, die die Geschichte von einem unglücklichen Mädchen darstellerisch und nicht ohne Komik erzählte.
Das war bestes episches Theater, stark verfremdet und gut funktionierend. Der Blick der Zuschauer blieb (von Tränen des Mitgefühls) ungetrübt und die Botschaft war darum umso radikaler: Die Welt findet im Wiener Wald statt; der Wiener Wald ist die Welt, und zwar hier und heute. Der allgemeine Rückzug in die Egomanie beginnt endlich gesellschaftliche Früchte zu tragen. Die Gesellschaft erodiert im Walzerschritt. Selbst Auslassungen über die „Naturgesetzlichkeit“ von Kriegen kann man in der heutigen Situation nur schwerlich widersprechen. Die Argumente gehen uns langsam aus. Das war, vielleicht auch wegen der momentanen weltgeschichtlichen Situation, eine neue Qualität. Das Publikum nahm diese schmuck- und emotionslose Inszenierung (2. Vorstellung) geradezu euphorisch an und lobte mit vielen Bravos. Und das gewiss nicht ohne gute Gründe!
Wolf Banitzki
Geschichten aus dem Wiener Wald
von Ödön von Horváth
Peter Brombacher, Anna Drexler, Sylvana Krappatsch, Stefan Merki, Jochen Noch, Wolfgang Pregler, Max Simonischek, Jeff Wilbusch, Joachim Wörmsdorf
Regie: Stephan Kimmig
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