Volkstheater  Am Wiesnrand UA von Stefanie Sargnagel


 

Wenn man im eigenen Bäuerchen erwacht

Die Wienerin Stefanie Sargnagel, Autorin und Cartoonistin, preisgekrönt für komische Kunst und Mitglied der Autorengruppe „Wiener Grippe“, ging auf eine nicht für nervenschwache Bürger zu empfehlenden Exkursion auf die Münchner Wiesn. Ihr tagebuchartiger Statusbericht ist erschütternd und es steht zu befürchten, dass er der Wahrheit sehr nahe kommt. Das älteste und größte Volksfest der Welt hat seine Wurzeln in der Eheschließung des Kronprinzen Ludwig und der Prinzessin Therese am 12. Oktober 1810. Am 17. Oktober desselben Jahres fand ein Pferderennen statt, auf das das so genannte Oktoberfest zurück geht. Zu diesem Rennen erschienen auf der Theresienhöhe (ursprünglich Sendlinger Berg) 40.000 Zuschauer. Inzwischen wurde immerhin das 186. Oktoberfest gefeiert.

Zur Wiesn reisen Menschen aus aller Welt an und in den ca. zwei Wochen werden inzwischen über 6 Millionen Besucher gezählt. 2018 generierte das Volksfest inklusive Übernachtungen satte 1,2 Milliarden Euro. Diese nüchternen Fakten erklären erst einmal gar nichts, denn der Institution Wiesn muss ein tieferer mythischer Sinn innewohnen, da nur Cholera-Epidemien und Kriege das Fest seither verhindern konnten. Möglicherweise, denn völlig gesicherte Erkenntnisse kann auch Frau Sargnagel nicht liefern, steht die zwingende Magie dieses Festes mit den Selbsterfahrungen der Besucher in Zusammenhang. Die sind extrem, ähnlich wie eine Besteigung des Mount Everest oder vergleichbare Extremsportunternehmungen. Dabei vermittelt der äußere Eindruck erst einmal vordergründige Idylle. Doch die ist trügerisch, so trügerisch wie die Verkleidungen der Besucher. Nur in den wenigsten Krachledernen oder Dirndln stecken auch tatsächlich bajuwarische Landsleute. Als Bajuwarisch definiert sich, wer in dritter Generation im Land ansässig ist. In einigen Regionen muss man sogar fünf oder sechs Generationen Vorfahren auf dem Friedhof liegen haben, um eingebürgert zu sein.

Stefanie Sargnagel legte Zeugnis ab von den besonderen Qualitäten der Bayern. Die unterscheiden sich auf dem ersten Blick kaum von den Österreichern, allein, der Bayer ist deutlich gesünder und kerniger, wenngleich nicht schöner. Schönheit ist ohnehin keine bayerische Tugend. Während die Österreicher selbstmitleidig und von slawischer Schwermut befallen sind, ist das bayerische Volk eine Vereinigung der „drallsten, deutschsprachigen Stämme, vereint zu einem Pfropfen, der jeden geistigen Fluss luftdicht verschließt und einen vor krankmachender Grübelei bewahrt.“ (Hört! Hört!) Desweiteren werden Rituale beschrieben, wie sie auf der Wiesn ausgestellt werden. Diese Rituale haben ihren Ursprung in der Neigung zum Exzess. Was physiologisch eigentlich nicht möglich ist, wird praktiziert und bewiesen. Zum Beispiel, wie schafft es ein Mensch bei einem einzigen Besuch, einige gehen ja mehrfach auf die Wiesn, mehr als ein Zehntel des eigenen Körpergewichts an totem Fleisch und vergorener Gerste in sich hineinzupressen?

  Am Wiesnrand  
 

Henriette Nagel, Pola Jane O’Mara, Jonathan Müller, Nina Steils, Jan Meeno Jürgens

© Arno Declair

 

Es geht dabei, wie der eine oder andere Leser jetzt schon vermutet, in erster Linie immer um die Befriedigung der vitalen Bedürfnisse. Für die Öffentlichkeit, insbesondere die Mitbürger, die das Fest noch nie aus eigener Anschauung kennengelernt haben, bedeutet die Wiesn „Tradition und Trachtenfasching und bayerische Gemütlichkeit“. Übersetzt in die vulgäre Realität, praktiziert von einem großen Teil der Wiesnbesucher, heißt es aber Fressen, Saufen, Ficken.

Um uns diese Tatsachen erträglicher zu gestalten, fand die Bestandsaufnahme mit dem Titel „Am Wiesenrand“ in einem Theater statt, genauer im Volkstheater, und Christina Tscharyiski wurde hinzugezogen, um es einem willigen Publikum schonend beizubringen. Es bedurfte schon eines gehörigen Aufwands, um die Realität künstlerisch zu brechen und den Anschein zu erwecken, hier handele es sich nur um ein Theaterstück. Zu diesem Zweck schuf Sarah Sassen ein Bühnenbild, dass der gefälligen These, „Das Oktoberfest ist eine Urmutter, die uns alles gibt!“, Vorschub leistete. Es bestand aus einem gewaltigen Frauenkörper mit prallem Bauch und üppigen Brüsten, ausgestreckt über die ganze Breite der Bühne. Und um die Angelegenheit noch weiter zu verklausulieren und der Realität nicht zu nahe zu kommen, hüpften die fünf Darsteller als Flöhe (Kostüme Svenja Gassen) über diesen wunderbar prallen Mutterkörper. Dabei taten sie die Beobachtungen und Erkenntnisse von Stefanie Sargnagel, die das exorbitante Risiko eines mehrtägigen Wiesnbesuches nicht gescheut hat, kund. Die sollen hier im Detail nicht weiter ausgeführt werden, denn sie könnten die Leser über Gebühr verstören. Tatsächlich hat das, was gemeinhin als „Oktoberfest“ bezeichnet wird, etwas Infernalisches.

Nun stellt sich die Frage, dass, wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen, viele der Handlungsweisen, die im Kontext einer Kulturgesellschaft menschlich kaum zu nennen sind, dokumentiert vorliegen, der Mensch, insbesondere der Wiesnbesucher nicht vor seinem Spiegelbild entsetzt zurück schreckt und sich abwendet? Weil der Mensch - gemeint sind natürlich immer die Anderen - es nicht will und weil sich der Mensch möglicherweise 50 Wochen des Jahres mit übermenschlichen Kräften selbst kontrolliert und diszipliniert, um dann zwei Wochen zu sein, was er tatsächlich ist? Fragen über Fragen, die weit zurückreichen bis an die Schwellen des Primatentums. Immerhin hat der Mensch Wege und Lösungen gefunden, das Gesamtbild zu schönen, zu verklären etc. Über die lustige Verkleidung (Brathändelhüte etc.) hinaus ist die Musik ein probates Mittel. Regisseurin Christina Tscharyiski trat im Volkstheater den Beweis an, in dem sie die Musikanten von EUROTEURO aus Wien auf die Bühne brachte. (Es ist doch erstaunlich, wozu die Österreicher trotzdem – Siehe oben! - doch anhaltend gut sind.) Wann immer die Darsteller mit ihren Tatsachenberichten vom Kotzhügel oder den Toiletten die Zuhörer an die Grenzen brachten, sprang die Band, die sich selbst zwischen Gaga und Dada ansiedelt, in die Bresche und half mit Titeln „Bla bla bla“, „Tagada“ oder „Ins Glück“ durch gezielte Ablenkung den Brechreiz oder das Nervenflattern zu mildern.

Vor diesem Stück und dessen Inszenierung sei gewarnt. Der Text besitzt eine diabolische (österreichische) Intelligenz und die Inszenierung stellt eine echte Indoktrination desselben dar, um den Zuschauer dahingehend zu beeinflussen, von liebgewonnenen Traditionen Abstand zu nehmen. Kann man das Oktoberfest wegdenken? Kaum, schließlich ist das Argument, in zwei Wochen mehr als eine Milliarde Euro zu machen, nicht leicht unter den Tisch zu kehren. Wenn’s ums Geld geht, hört der Spaß naturgemäß auf. Aber vielleicht ist das Oktoberfest auch gut dafür, dass sich die bajuwarische Manneskraft an Brathendl, Ochse, Schweinshaxe und Maß erschöpfend abarbeitet, und sie darum nicht irgendwo bei dem Nachbarn einmarschieren. Fragen über Fragen und eine kann schlaflose Nächte bereiten: Gibt es die Grube für die Opfer tatsächlich, wo die Kadaver derer, die der Prüfung nicht standhielten, mit Kalk bestreut werden, damit die Verwesung nicht zu lästig wird? Glücklich, wer am Ende doch noch in seinem eigenen Bäuerchen aufwacht. – Ignorieren Sie die Kritik und gehen Sie in die Vorstellung, denn es war irrsinnig komisch, absolut kurzweilig und sehr erhellend!

Wolf Banitzki

 


Am Wiesnrand UA

von Stefanie Sargnagel

Mit: Jan Meeno Jürgens, Jonathan Müller, Henriette Nagel, Pola Jane O´Mara, Nina Steils

EUROTEURO: Katharina Seyser-Trenk, Katarzyna Gruszka / Wolfgang Möstl, Florian Seyser-Trenk, Werner Thenmayer

Regie: Christina Tscharyiski

Volkstheater  Wer hat meinen Vater umgebracht (DE) nach Édouard Louis


 

Kein Erbarmen für das Proletariat

Vorlage für die gut einstündige Inszenierung von Philipp Arnold auf der kleinen Bühne des Volkstheaters ist der gleichnamige dritte Roman des jungen französischen Autors Édouard Louis. Es ist ein zorniger Roman, in dem er sein Verhältnis zu seinem Vater zu bewältigen versucht. Die Spannungsgeladenheit resultiert aus der sozialen Lage der Familie. Geboren wurde der Autor in der nordfranzösischen Provinz, in der in den letzten Jahrzehnten die gesellschaftstragende Industrie gestorben oder abgewandert ist. Zurückgeblieben ist ein Heer von Arbeitern, die zum Teil in prekären Verhältnissen leben müssen. Édouard Louis definiert diese Welt in einem Interview, abgedruckt im Programmheft zur Inszenierung unter Berufung auf Karl Marx, als die Welt des Lumpenproletariats.

Das ist schwer vorstellbar, denn Marx definierte das Lumpenproletariat im „Kapital“ 1. Band wie folgt: „Abgesehen von Vagabunden, Verbrechern, Prostituierten, kurz dem eigentlichen Lumpenproletariat, besteht diese Gesellschaftsschicht (gemeint ist das Proletariat – W.B.) aus drei Kategorien.“ (23. Kapitel – Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation) Die Verkürzung des Autors ist vermutlich der Dramatik geschuldet, zu der linke Intellektuelle gelegentlich neigen. Dennoch ist die Aussage keineswegs unzutreffend, insbesondre, wenn es um den Vater von Édouard Louis geht. Der ist zuletzt durch einen Arbeitsunfall invalid geworden und ist nach Marx definitorisch der dritten Schicht des Proletariats zuzuordnen: „Verkommene, Verlumpte, Arbeitsunfähige. Es sind namentlich Individuen, die an ihrer durch die Teilung der Arbeit verursachten Unbeweglichkeit untergehen, (…) endlich Opfer der Industrie, deren Zahl mit gefährlicher Maschinerie, Bergwerksbau, chemischen Fabriken etc. wächst, Verstümmelte, Verkrankte, Witwen etc.“

Die Rohheit der Verhältnisse, über die Marx schrieb, ist längst nicht überwunden, lediglich durch den Hochglanz des modernen Neoliberalismus weniger penetrant sichtbar. Es galt damals und es gilt heute: Nur ein Überfluss an doppeltfreien Lohnarbeitern, die zueinander in einem natürlichen Konkurrenzverhältnis stehen, sichert niedrige Löhne und Beschäftigungsflexibilität für den Unternehmer. Allzu gern möchte man die Menschen glauben machen, es gäbe dazu keine Alternative. Einer der Apologeten des Kapitalismus, der Abbé Galiani (1728-1787), verkündete seinerzeit galant und geistreich: „Gott hat es gefügt, dass die Menschen, die die nützlichsten Berufe ausüben, überreichlich geboren werden.“ Für sein Hauptwerk „Moneta – Libri Cinque“ (Über das Geld – fünf Bücher) und für seine Verdienste als Wirtschaftstheoretiker erhielt der weltliche Mann die Pfründen des Bistums Centola und der Abtei San Lorenzo. Galiani empfing die niedere Priesterweihe und konnte seinen Reichtum genießen. Er hatte der Kirche aus dem verfetteten Herzen und der korrupten Seele gesprochen.

  Wer hat meinen Vater umgebr  
 

Jakob Geßner, Jonathan Hutter, Anne Stein

© Gabriela Neeb

 

Und wenn man die Geschichte des Eddy Bellegueule, so der bürgerliche Name des Autors, liest, wird genau diese Verrohung deutlich. Zur Scham über die Klassenzugehörigkeit kommt in dem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Vater und Sohn auch noch das „Stigma“ der Homosexualität. Der Vater in frühen Jahren: „Schwule muss man töten.“

Es ist schon erstaunlich, dass gerade Menschen, die kaum etwas zu verlieren haben, sich so sehr an gesellschaftliche Konventionen klammern. Die Mutter durfte, obgleich sie es sich wünschte, nicht arbeiten. Rassismus war fester Bestandteil des Weltbildes der Arbeiterklasse. Arbeiter leben nicht selten über ihre Verhältnisse, um ihre Besitzlosigkeit zu kaschieren. Männliche Dominanz muss mit allen Mitteln, auch mit Gewalt, durchgesetzt werden. Bildungsferne wurde gepflegt, weil es als besonders männlich galt, frühzeitig die Schule zu verlassen, um seinen Platz in der Arbeitswelt einzunehmen. Und nicht zuletzt ist Alkohol und Alkoholismus eine mit diesem Männerbild einhergende Erscheinung.

Die Rede ist nicht vom frühindustriellen Zeitalter mit dem dazugehörigen Pauperismus. Édouard Louis ist Jahrgang 1992. Er musste sein Elternhaus zum eigenen Fortkommen und zum eigenen Schutz beizeiten verlassen, seine Herkunft verleugnet er indes nicht. Vom Vater blieb der Satz: „Ich schäme mich für dich, weil du schwul bist.“ Der Vater war, was das System aus ihm gemacht hatte und der Sohn verzieh ihm, weil er es besser wusste. Die Wut hat ihn zum Schreiben gebracht. Die Wut darüber, dass die Literatur sich kaum oder gar nicht um diese soziale Schicht kümmert.

Regisseur Philipp Arnold inszenierte den Roman auf der kleinen Bühne des Volkstheaters. Von Belle Santos ließ er sich ein fragiles und halbtransparentes Gebäude errichten, das zugleich die Welt der Familie Bellegueule begrenzte. Nach einer Introduktion durch die drei Darsteller wurden die vorderen und seitlichen Wände des Gebäudes heruntergerissen und das Spiel verlagerte sich vornehmlich nach innen. Die Rückwand blieb als Projektionsfläche für Videoaufzeichnungen der zeitgleichen Vorgänge stehen. Alle drei Darsteller, Jakob Geßner, Jonathan Hutter und Anne Stein übernahmen auch sämtliche Parts. Der Wechsel geschah durch Masken. Mit diesen Masken wurden der Vater und die Mutter verkörpert. Durch die Masken verschwand der individuelle Ausdruck der Figur und es bleib einzig das Wort, dem alle Aufmerksamkeit galt. Es war über weite Strecken Erzähltheater, schlüpfte der Darsteller in eine konkrete Figur, geschah das oft mit äußerster Expression. Das Spiel war, anders als die Beschreibungen und Erzählungen, keinem Realismus verpflichtet. Die Kostüme von Belle Santos waren so unverbindlich wie „Arbeitskleidung“.

Somit war der Fokus zu allererst auf die Geschichte gerichtet, unterbrochen von kurzen Videosequenzen, in denen die Gesichter der Darsteller übergroß an der Rückwand zu sehen waren. Dann zeigte sich, wie viel Zartheit und auch Zärtlichkeit den Vorgängen innewohnten. Die Beziehungen aller Figuren untereinander waren äußerst ambivalent. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn erfuhr letztlich eine Entwicklung und Vater und Sohn fanden, soweit es überhaupt möglich war, zumindest in dem Bewusstsein zueinander, dass sie nicht in der besten aller Welten lebten und dass ihr Leid, und als ein solches stellte sich die Beziehung dar, nur in überschaubarem Maße selbstverschuldet war.

Zuletzt wurden das System des Kapitalismus angeklagt, aber auch konkrete Personen im Dienste des Systems. Es fielen Namen: Chirac, Sarcozy, Hollande und Macron. Und es wurden ihre jeweiligen Verdienste beim Abbau von sozialen Errungenschaften und Rechten aufgezählt. Es war zugleich eine Beschreibung des physischen und sozialen Niedergangs des Vaters, der zuletzt, obgleich medizinisch attestiert als arbeitsunfähig nach einem Betriebsunfall eingestuft, als Straßenreiniger arbeiten musste, um die erbärmlich niedrigen Einkünfte nicht zu verlieren. So erhielten die Zuschauer am Ende eine klare Antwort auf die Frage, “Wer hat meinen Vater umgebracht“. Es gibt kein Erbarmen für das Proletariat.

Wolf Banitzki

 


Wer hat meinen Vater umgebracht (DE)

nach Édouard Louis

Mit: Jakob Geßner, Jonathan Hutter, Anne Stein

Regie: Philipp Arnold

Volkstheater  Der Kaufmann von Venedig  von William Shakespeare


 

Der Schoß ist nicht nur fruchtbar, er ist schon trächtig

Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde das Problem Antisemitismus vornehmlich unter historischem Aspekt behandelt, obgleich er doch nie wirklich verschwunden war. Für eine gewisse Zeit waren sie abgetaucht, die Antisemiten, doch nun hat sich das politische Klima soweit verändert, dass man wieder Schuldige braucht. Ja, wofür eigentlich? Noch nie ging es den Deutschen so gut wie zurzeit. Wir haben annähernd Vollbeschäftigung, die Löhne und Gehälter sind gut bis üppig. Die Reichen haben ihren Reichtum im letzten Dezennium verdoppelt. Es gibt noch immer eine Menge Ungerechtigkeiten, doch wir haben die Freiheit, sie zu benennen und anzuprangern. Wir leben in einer Demokratie, die immer noch so stabil ist, dass sie beispielsweise Gesetze für Mindestlöhne erlassen kann, und die Politik bemüht sich, wenn es die Wirtschaft denn zulässt, auf noch vorhandene Missstände zu reagieren. Könnte es vielleicht sein, dass fast vier Legislaturperioden visionslose und utopiefreie Politik nicht folgenlos bleiben?

Plötzlich kriechen Gestalten unter den Runensteinen der Geschichte hervor und indoktrinieren ein Volk dergestalt, dass es sich plötzlich bedroht sieht und fühlt. Schuldige haben wir en masse, die Ausländer. Und weil es wieder opportun ist, mit Fingern auf andere Menschen zu zeigen und ihnen Gewalt anzudrohen, wenn sie nicht verschwinden, werden auch die alten Feindbilder wieder aus der Mottenkiste der Geschichte gezaubert. Der Jude (an sich und im besonderen) ist ein solches.

Tatsache ist, der Jude taugt viel besser als jeder andere „Feind nicht nur des deutschen Volkes“, denn die Argumente gegen ihn sind so alt, dass man sie gar nicht in Frage stellen kann, sonst müsste man nämlich zugeben, seit annähernd 2000 Jahren mit einer Lüge zu leben. Tatsächlich gibt es das Feindbild des Juden solange, wie es das Christentum gibt. Seit das Christentum römische Staatsreligion wurde, predigten ihre Priester gegen das Judentum. Es gab eine psychologische und eine theologische Notwendigkeit für die Christen, sich von den Juden abzusetzen, denn die jüdische Religion erkennt die Offenbarung Christi nicht an. Das erschütterte immer wieder das Vertrauen in die Offenbarung, denn wenn die Juden den Messias ablehnen, der ihnen durch ihre eigenen Bücher in Aussicht gestellt wurde, kommt unweigerlich die Frage auf, handelt es sich bei Jesus um einen falschen Messias, oder aber war das jüdische Volk vom rechten Weg abgekommen und den Versuchungen des Teufels erlegen. Juden verhielten sich folglich widerspenstig in religiösen Fragen, was über lange Zeit gleichzusetzen war mit sittlicher Ordnung, und gehörten für diesen Frevel bestraft, besser noch, ausgerottet.

Das traurigste an der ganzen Geschichte ist, dass wir es zweihundert Jahre nach der Aufklärung nicht geschafft haben, uns aus dieser Spirale zu lösen, obgleich wir alle wissenschaftlichen und philosophischen Möglichkeiten gehabt haben, Religion zu überwinden und sie als das was sie ist zu begreifen, nämlich als ein Wahn. Wer meint, wir hätten mit dem Westfälischen Frieden von 1648 Religionskriege ein für alle Mal überwunden, der irrt gewaltig. Es gibt immer noch Zeitzeugen und Überlebende des Holocaust und dennoch sind sie schon wieder da, die geistigen Brandstifter und die verblendeten Attentäter. Also, höchste Zeit sich dem Problem wieder einmal zu stellen. Christian Stückl tat das, denn er brachte Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, uraufgeführt 1595, nicht nur auf die Bühne, sondern auch in unser aktuelles Bewusstsein.

  Der Kaufmann von Venedig  
 

Jonathan Hutter, Silas Breiding, Vincent Sauer, Carolin Hartmann, Pascal Fligg, Jan Meeno Jürgens

© Arno Declair

 

Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass es sich um einen brandaktuellen Fall handelte, nämlich um den Fall des portugiesischen Juden Roderigo Lopez, Leibarzt der Königin Elisabeth I. Zu dieser Zeit war es Juden per Gesetz verboten, in England zu leben. Der Jude war eher ein Mythos, denn eine Realität. Jener Lopez wurde vom Grafen Essex angeklagt, die Ermordung der Königin auf Geheiß des spanischen Königs Phillip II. betrieben zu haben. Obgleich Elisabeth I. nicht an die Schuld glaubte, unterschrieb sie das Todesurteil. Lopez, der übrigens zum Christentum konvertiert war, wurde am 7. Juni 1594 hingerichtet. Seine Familie durfte immerhin einen Teil des Besitzes behalten. Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ war indes so etwas wie der Gegenentwurf zu einem anderen Stück, das die Judenthematik zur Modeerscheinung machte. Gemeint war Christopher Marlows „Der Jude von Malta“. Sein Jude war der dämonische Barrabas, ein Mörder und Christenhasser und ein abgefeimter Zyniker.

Christian Stückl verkürzte das Stück auf den wesentlichen Handlungsstrang und auf einige wenige Protagonisten, gerade genug, um die Geschichte ohne gravierende Banalisierungen über die Rampe zu bringen. Und er wählte als Spielort die Welt der Nadelstreifen. Die Darsteller erinnerten sehr an die „Champagnerboys“ der Londoner Börse vor dem Bankencrash, die ihre täglichen fünfstelligen Spekulationsgewinne allabendlich mit Champagner feierten. Stefan Hageneiers Bühne, er zeichnete auch für die Kostüme verantwortlich, bestand aus der goldfarbenen gläsernen Fassade eines Businesshauses mit drei Drehtüren. Damit war alles gesagt.

In der Geschichte geht es um ein Pfund Menschenfleisch als Sicherheit für den Betrag von dreitausend Dukaten. Den borgt der Kaufmann Antonio, arrogant, steif und prinzipienreitend von Silas Breiding gespielt, vom jüdischen Kaufmann Shylock, mit vielen emotionalen Facetten grandios gestaltet von Pascal Fligg. Shylock wird wie kein anderer von der christlichen Gesellschaft der Kaufleute gemobbt, diskriminiert, diskreditiert und beschimpft. Dabei kommen alle Vorbehalte, die das Christentum im Laufe der langen Geschichte gesammelt hat, zur Sprache. Shylock, ohne allen Beistand, muss schlucken. Und er schluckt, bis es ihn zu zerreißen droht. Die dreitausend Dukaten dienen Bassanio, hochenergetisch und mit eher süditalienischem Temperament ausgestattet, gestaltet von Jonathan Hutter, zur Brautwerbung um die kluge und schöne Portia in Belmont. Antonio ist bereit, für den Freund jeden Schein zu zeichnen. Shylock besteht auf ein Pfund Fleisch des Schuldners als Sicherheit und Antonio akzeptiert leichtfertig. Er vertraut auf den Gewinn, den ihm seine Schiffe einbringen werden, die allerdings auf hoher See sind und fatalerweise auch bleiben.

Doch zuvor wird ihm noch mehr Schmach angetan. Seine Tochter Jessica, romantisch verliebt und hochgradig naiv von Henriette Nagel gespielt, brennt Nächtens mit dem Christen Lorenzo durch. Das erregt den allgemeinen Spott der Venezianer und Shylock kann sich kaum noch beherrschen in seinen Rachegelüsten. Der junge Lorenzo, skrupellos und egoistisch von Vincent Sauer gegeben, nahm ihm nicht nur die Tochter, sondern auch (oder besser vor allem) eine nicht unerhebliche Barschaft, Schmuck und Geschmeide. Bald erhält Shylock Kunde vom ausschweifenden Leben des verheirateten Paares, Jessica ist konvertiert, in Padua. Ehe Bassanio zur Brautwerbung in Belmont eintrifft, versucht es ein anderer vermeintlicher Freund Bassanios, Graziano. Jaan Meeno Jürgens verlieh dieser Figur eine enorme Hinterhältigkeit, die doch immerhin bestraft wurde, denn bei Portia konnte er mit seinem Narzissmus und seiner Egomanie nicht landen. Bassanio war erfolgreich und Portia erhörte ihn. Dann traf die Kunde ein, dass Antonios Schiffe allesamt gesunken sind und er nun in der Hand Shylocks ist, der gnadenlos das Pfund Fleisch einfordert.

Portia, die von Carolin Hartmann mit kaum überbietbarem Selbstbewusstsein ausgestattet wurde, verfügte über die Mittel, Antonio und damit auch den geliebten Bassanio aus der Schuld zu erlösen. Sie reiste in Venedig in Männerkleidern als Richter an, um schlimmeres zu verhindern. Unerkannt, als Schreiberin verkleidet, begleitete sie Jessica. Portia verhandelte den Fall. Sie musste das Recht Shylocks anerkennen und plädierte für die Gnade Shylocks. Doch der blieb hart. Nun drehte Portia mittels juristischer Spitzfindigkeiten den Spieß um, und machte Shylock zum Angeklagten. Die christliche Kaufmannschaft kam ungeschoren aus der Sache heraus, Shylock indes durfte sich glücklich schätzen, sein Leben nicht zu verlieren wie sein Vermögen, das er per Richtspruch an seine christliche Tochter abtreten musste. An dieser Stelle feiert der Zynismus einen gewaltigen Triumph und der Jude musste schweigend abgehen.

Schade, dass Christian Stückl nicht auf die vergleichsweise banale Geschichte des Liebesbeweises von Bassanio und Portia verzichtet hat. Sie verwässerte am Ende den großen Moment des Triumphes des Antisemitismus, der auf erschütternde Weise offenkundig wurde. Ein großer Moment der Inszenierung war naturgemäß der große Monolog des Shylocks, in dem er auf die Gleichheit aller Menschen aufmerksam machte: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? …“ Die Katharsis wäre wirklich erschütternd gewesen. Doch ungeachtet dessen leistete die Inszenierung einen Beitrag von kaum zu überschätzendem Wert. Darüber hinaus wurde wieder einmal deutlich, welchen Stellenwert das Werk Shakespeares im heutigen gesellschaftlichen Diskurs haben kann. Brechts Warnung vor dem braunen Ungeist, die da lautete „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, muss inzwischen allerdings leider erweitert werden durch den Zusatz, „er ist schon trächtig“.

Wolf Banitzki

 


Der Kaufmann von Venedig

von William Shakespeare

Mit: Silas Breiding, Jonathan Hutter, Jan Meeno Jürgens, Vincent Sauer, Pascal Fligg, Henriette Nagel, Carolin Hartmann

Regie: Christian Stückl

Volkstheater  Der haarige Affe von Eugene O'Neill


 

O‘Neill oder Vom Glück der Tragödie

Yank ist ein wahrer Kraftprotz, fest davon überzeugt, dass er alle Grenzen überschreiten, alle Ketten brechen kann, denn er zählt sich zu dem Teil der Existenz, der bewegt, der Kraft freisetzt, der die Seele des Stahls ist. Mit 25 Koten schippert er im Bauch des Ozeandampfers zwischen den Kontinenten herum und glaubt, er allein sei es, der den Koloss in Bewegung hält, denn er ist der Heizer. Für seine Kollegen Paddy und Long, die sich über die Lebensumstände, das Essen, die lichtlose und trübselige Existenz, die miese Behandlung beschweren, hat er nur ein Lachen übrig, denn die hält er für zu schwach und zu wehleidig.

Doch dann begegnet er tief unten im rußigen Bauch des Schiffes Mildred Dougles, ihres Zeichens Tochter des Stahlmagnaten und Eigner der Schifffahrtsgesellschaft, bei der Yank angestellt ist. Mildred Dougles betreibt Elendstourismus, und glaubt, in Yank vielmehr einen „haarigen Affen“ als einen Menschen zu sehen. Yank ist zutiefst verletzt, will Rache nehmen für diese Missachtung und lässt sich von Long auf die Fifth Avenue bringen, wo die feine Gesellschaft ihren obligatorischen Kirchgang absolviert. Die Gesellschaft ist unbeeindruckt von Yanks wütendem Auftritt, der lediglich bewirkt, dass er im Gefängnis landet. Freigelassen sucht er Verbündete. Er wendet sich an die Gewerkschaft. Die müssen allerdings schnell einsehen, dass Yank nur auf Rache sinnt und nur ein Ziel hat, das Imperium von Dougles in die Luft zu sprengen. Er wird als Provokateur abgewiesen. Sein letzter Weg führt in den Zoo, wo er den stolzen Gorilla befreit, der sich mit einer tödlichen Umarmung bedankt.

Es ist ein rohes Stück, das sich, wie O’Neill selbst bemerkt, allen „gängigen Ismen“ entzieht, dann immerhin eingesteht, dass es dem Expressionismus am nächsten kommt. O’Neill wusste immerhin, worüber er schrieb, war er doch selbst Goldsucher in Honduras, Tramper durch Argentinien und Matrose auf einer Dreimastbark. Bereits 24-jährig war er lungenkrank, las während des monatelangen Aufenthaltes im Gaylord-Farm-Sanatorium „so ziemlich alle Klassiker“, unter ihnen auch die Dramatiker Ibsen und Strindberg. Letzterer war für ihn der größte Inspirationsquell, wie er in seiner Nobelpreisrede 1936 ausdrücklich betonte. Dabei erinnern seine Stücke vielmehr an die Werke des Expressionisten Georg Kaiser, den er in deutscher Sprache lesen konnte, denn er hatte die Sprache erlernt, um die Werke Friedrich Nietzsches im Original zu lesen.

Regisseur Abdullah Kenan Karaca brachte das Stück dann auch als expressionistisches Werk auf die Bühne des Volkstheaters. Das Bühnenbild von Vincent Mesnaritsch bestand aus einem rußgeschwärzten, fast lichtlosen Kohlenbunker auf der Bühne, mit einem Schacht nach oben, der bis zur ersten Klasse hinaufreichte und einen goldenen Abglanz warf. Auf Requisiten wurde beinahe gänzlich verzichtet und alle Auseinandersetzungen fanden in kraftvollem, rüdem Ton statt. Auch auf psychologische Anklänge wurde weitestgehend verzichtet. Denn im Stück agieren Mildred Dougles, arrogant und ignorant gespielt von Nina Steils, und Tony Lazar, mehr flankierend als einbezogen und mit dem Habitus eines englischen Butlers, gegeben von Mauricio Hölzemann, als Paar mit Reminiszenzen von Eifersucht, Intrige, etc. Die Anstandsdame Katharine Clifton, eine schrill kichernde und sich hysterisch äußernde Luise Deborah Daberkow, vervollkommnete das dekadente Trio. Auf ausgestellten Umgangston und feine Manieren als Abstandshalter zum Proletariat verzichtete Abdullah Kenan Karaca weitestgehend. Das Leben der „feinen Gesellschaft“ blieb marginal.

  Der haarige Affe  
 

Jakob Immervoll, Jonathan Müller, Silas Breiding

© Arno Declair

 

Karaca konzentrierte sich auf die drei Heizer, von denen Paddy der eloquenteste war. Jakob Immervoll zeichnete diese Figur als ein von der Schwerstarbeit und den miserablen Umständen niedergedrücktes menschliches Wrack, der doch immerhin noch genug Fantasie besaß, Schönheit zu beschwören. Belächelt als Wirrkopf wurde er von Long, einem Idealisten, der sich auf die Bibel berief und zum Kampf, keinem gewalttätigen wohlgemerkt, für die Befreiung der gequälten Kreatur aufrief, denn, so sein Argument, bereits in der Bibel ist verbrieft, dass alle Menschen gleich sind und ein Recht auf Freiheit und Menschenwürde haben.

Zu dieser Einsicht gelangte Yank, mit bürgerlichem Namen Robert Smith, nicht mehr. Sein Amoklauf endete, wie er enden musste, unerhört und in den Klauen eines wirklich haarigen Affen. Jonathan Müller überzeugte in dieser Rolle ohne Einschränkungen. Die von O’Neill geforderte wüste Vitalität geschah auf der Bühne des Volkstheaters. Was nicht geschah, war Hoffnung und die gibt es in den Stücken von Eugene O'Neill auch nicht. Für ihn war das Leben zumeist Tragödie und genau der hatte er sich, wie sein Protagonist Yank auch, verschrieben: „Ich finde mehr Glück in einer wirklichen Tragödie als in allen Stücken mit glücklichem Ausgang, die je geschrieben wurden. Es ist nur das heutige Tagesurteil, dass das Tragische ‚Unglück‘ bedeutet. Die Griechen und die Männer aus Shakespeares Zeit wussten das besser. Sie fühlten das gewaltige Leben innerhalb der Tragödie. Sie erhob sie zu einem tiefen Verstehen des Lebens, sie sahen ihr Leben veredelt durch sie. (…) Ich liebe das Leben nicht, weil es angenehm ist – Annehmlichkeit sitzt nur in den Kleidern. Meine Liebe ist tiefer, ich liebe es nackt.“ (Eugene O'Neill)

Als die acht Szenen gespielt waren, die Szenenwechsel fanden wie ein Scannvorgang statt, denn ein greller Leuchtstab glitt über die ganze Fläche der unsichtbaren vierten Wand, ertönte nicht der übliche frenetische Beifall, obgleich Regisseur Abdullah Kenan Karaca und seine Darsteller eine grundsolide und ansprechende Arbeit abgeliefert hatten. Das hatte möglicherweise zwei Gründe. Der erste war die expressionistische Spielweise, die kaum Zwischentöne zuließ und somit ein so extrem düsteres und druckvolles Bild zeichnete, dass man als Zuschauer nur noch flach atmen konnte.

Ein anderer Grund mag sein, dass die jüngeren Menschen, und die bevölkern vorzugsweise das Münchner Volkstheater, mit einem Begriff wie Klassenkampf nichts mehr anfangen können, weil dieser nach dem Fall des Ostblocks gänzlich aus dem Bewusstsein geriet. Die politischen und liberalen Vertreter, die das „Scheitern des sozialistischen Experiments“ ausgelassen feierten, haben alles daran gesetzt, diese Ideen vergessen zu machen. Dennoch gibt es die von O’Neill beschriebenen gesellschaftlichen Missstände in unserem Land natürlich nicht in der Deutlichkeit. Die Uraufführung des Stücks war immerhin vor 100 Jahren. Aber so, wie es den Kapitalisten, er nennt sich lieber Unternehmer, noch gibt, so gibt es auch noch den Proletarier. Karl Max definierte ihn als den „doppelt freien Lohnarbeiter“. Der Proletarier ist frei von Arbeit und frei von Besitz an Produktionsmitteln, also der Lohnarbeit ausgeliefert.

Heute nennt man ihn allerdings nicht Proletarier, sondern HartzIVler. Das Bewusstsein für diese Sicht auf die Gesellschaft ist längst mit allen denkbaren Mitteln weich- oder ausgespült worden. Ein Indiz dafür ist der Niedergang der SPD, die einstmals die erste Klassenkampfpartei unter Ferdinand Lassalle war. „Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und bemänteln dessen, was ist.“ (Ferdinand Lassalle, Gründer des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“, Basis für die Entstehung der SPD) Die Aufführung am Münchner Volkstheater ist so eine Aussprache, zumindest suggeriert die Art der Inszenierung das. Einige Irritationen hat sie mit Sicherheit gebracht und nun sollte das Nachdenken beginnen.

Wolf Banitzki

 


Der haarige Affe

von Eugene O'Neill

Mit: Jonathan Müller, Luise Deborah Daberkow, Nina Steils, Jakob Immervoll, Mauricio Hölzemann, Silas Breiding

Regie: Abdullah Kenan Karaca

Volkstheater  Hedda Gabler von Henrik Ibsen


 

Frei von Tiefenpsychologie und doch tiefgründig

Vor genau 55 Jahren begann Friedrich Luft seine Kritik zur Aufführung von „Hedda Gabler“ am Berliner Renaissance-Theater (Regie: Ullrich Haupt) mit folgenden Worten: „Ibsens Halt- und Spielbarkeit neu zu untersuchen, ist an der Zeit. In schweigender Übereinkunft schienen unsere Theater gesonnen, ihn vorerst auf dem toten Gleis der Halbklassiker, deren Verwendbarkeit gelitten hat, vorsichtig abzustellen. Seine Größe ist unbestritten, genutzt wird sie wenig.“ Die Inszenierung wertete Luft als einen Erfolg, nicht zuletzt, weil sie sich einer Neuübersetzung von Hans Egon Gerlach bediente. Regisseurin Lucia Bihler wählte für ihre Inszenierung am Münchner Volkstheater die Übersetzung von Peter Zadek und Gottfried Greiffenhagen, die fünfzehn Jahre nach der von Luft besprochenen Vorlage entstanden war, jedoch in eine gänzlich andere Theaterepoche fiel. Seither ist ein weiteres halbes Jahrhundert ins Land gegangen und tatsächlich fühlt man sich in vielen Inszenierungen der Werke Ibsens wie bei „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Ohne Frage konnte man in den letzten Jahrzenten ambitionierte Inszenierung erleben, doch wirklich überrascht durch Originalität und herausragender Lesart hat kaum eine.

Der gebürtigen Münchnerin Lucia Bihler gelang dieser Coup. Es hat sich stets als probates Mittel erwiesen, Stücke, die, wie „Hedda Gabler“, annähernd 130 Jahre auf dem Buckel haben, szenisch in die Neuzeit zu transponieren und sie mit Neologismen und Zeitbezügen aufzupeppen. Das reicht normalerweise aus, wenn die Substanz des Stückes zeitlos und menschlich/allzumenschlich ist. Letzteres trifft auf das Stück ohne Frage zu. In „Hedda Gabler“ wird die Geschichte der Generalstochter Hedda erzählt, die ihren sozialen Status und ihre Sicherheit über die Liebe stellt und den zwar mittelmäßig begabten, aber ambitionierten Historiker Jörgen Tesmann heiratet. Der hat auf die Aussicht auf eine Professur hin kräftig Schulden gemacht, um Hedda den angemessenen bürgerlichen Rahmen zu bieten. Nach der Rückkehr aus den Flitterwochen, taucht in der betulichen Kleinstadt der ehemalige Verehrer Heddas und wissenschaftlicher Konkurrent Tesmans Eilat Lövborg auf. Das Unheil kündet sich durch eine ehemalige Schulkameradin Heddas, Thea Elvstedt an, die die letzten Jahre an der Seite Lövborgs als liebende Freundin und Mitarbeiterin fungiert hat. Hedda sieht ihre bürgerliche Existenz gefährdet und muss zugleich erkennen, dass sie in ihrer Mutlosigkeit freiwillig in ein goldenes Gefängnis gezogen war. Sie treibt Lövborg zurück in dessen überwundenen Alkoholismus, stachelt ihn zum Suizid „in Schönheit“ an und vernichtet sein Werk, um sich am Ende selbst das Leben zu nehmen.

Lucia Bihler hat die Geschichte nicht ins Hier und Jetzt geholt; sie tat das Gegenteil und verschob die Geschichte in eine noch fernere Vergangenheit, ins Rokoko. Das Ergebnis war überraschend und erstaunlich zugleich, letzteres, weil es fantastisch funktionierte. Spätestens seit Choderlos de Laclos und seinem Roman „Gefährliche Liebschaften“ wissen wir, dass es keine denkbare Kabale gibt, die nicht auch im Rokoko angesiedelt sein könnte. Gerade im Barock und im Rokoko waren Mesalliancen und sinnentleerte Beziehungen an der Tagesordnung, Standesdünkel schützte vor Selbstentfaltung und der Tod war allgegenwärtig, darum auch die ausschweifende Lebensweise. Obgleich Lucia Bihler in einem Interview im Programmheft zur Inszenierung die Stadt München und das Rokoko über Luxus, Materialismus und Tradition in Verbindung brachte, waren es nicht vornehmlich inhaltliche Ansätze, die diese Inszenierung so sehenswert macht, sondern die Ästhetik.

  Hedda Gabler VT  
 

Jorid Lukaczik, Jakob Immervoll, Anne Stein, Timocin Ziegler,Jakob Geßner, Paulina Alpen, Nathalie Schörken

© Arno Declair

 

Lucia Bihler, die nicht nur Regie, sondern auch Choreografie studiert hat, schuf eine Inszenierung, in der jeder Schritt, jede Pose, jeder Wimpernschlag choreografiert war. Über den Manierismus, der dem Rokoko eigen war, schuf sie Stereotypen, die ganz direkt und unverblümt Protagonisten des Konflikts waren. Der Konflikt, in zeitgenössischen Inszenierungen allzu gern mit Psychologismen ausgeschmückt, um realitätsnäher zu sein, Georg Hensel nannte Ibsens Werk „Die Tragödie auf dem Plüschsofa“, wurde ebenso prototypisch und offenbarte mit äußerster Brutalität, dass das gesellschaftliche Leben mit seinen Konventionen immer auch ein Schlachtfeld ist. "Einmal in meinem Leben will ich Macht besitzen über das Schicksal eines anderen Menschen." Dieser Satz von Hedda Gabler könnte in jeder Tragödie vorkommen.

Den Darstellern war ihre Spiellust deutlich anzusehen, immerhin hielt diese Ästhetik und auch die Bühne von Jana Wassong viel Raum für Komik vor. Heddas goldener Käfig war ein sich stetig drehendes Rondell, überdacht von bauschigen Wattewolken, die auch schon mal geputzt wurden. Auf der Bühne verlieh ein Serviertischchen mit Etagere und quitschbuntem Gebäck Heimeligkeit. Anstelle eines Plüschsofas (Siehe oben.) gab es noch eine Chaiselongue nebst Fußhocker. Die Rokokokostüme von Laura Kirst waren aus bonbonfarbenem Kunststoff genäht und trefflich anzuschauen. Die Rolle der Berte, Heddas Dienstmädchen, war von Lucia Bihler mit Jorid Lukaczik und Nathalie Schörken doppelt besetzt. Beide gaben stumme Dienerinnen, deren Bewegungsabläufe vollkommen mechanisch waren. Sie gehörten der Gesellschaft nicht an, waren aber die Kräfte die das Weltgetriebe oder auch nur die banalen Lebensfunktionen am Laufen hielten.

Hedda Gabler, von der zierlichen Anne Stein gespielt, war ein wahres Monster an Gefühlskälte, selbst der eigene Suizid geschah leidenschaftslos, und Bösartigkeit, was der Rolle im Ibsenschen Drama durchaus entspricht, was man aber selten auf der Bühne zu sehen bekommt. Jakob Immervolls Jörgen Tesman war eine gespreizte Quasselstrippe, der im Satz von einer auf die andere Bigotterie umschalten konnte. Sein Gegenspieler Eilat Lövborg wurde von Jakob Geßner gegeben. Er war zuerst eitler und selbstverliebter Gockel und nach dem Crash mit Hedda nur noch ein in sich zusammengefallener Alkoholiker. Es war nichts an der Figur, das Mitleid erregen konnte. Er war im Grunde nur lächerlich, so lächerlich, wie sein Ende: Ein zufällig ausgelöster Schuss in den Unterleib im städtischen Bordell. Thea Elvstedt, die ohne ihn nicht leben konnte, konnte dann doch leben, nun an der Seite von Tesmann, mit dem sie das verloren gegangen Werk Lövborgs rekonstruierte. Paulina Alpen war die einzige, die gelegentlich ein echtes Gefühl, wenigsten wenn es um sie selbst ging, auf die Bühne brachte. Und last but not least gab es noch den Amtsgerichtsrat Brack, in dessen Abhängigkeit Hedda zuletzt noch geraten war und der keinen Zweifel daran ließ, was er an Hedda begehrte. Timocin Ziegler spielte ihn als aufgeblasenen alten Mann, der mehr vom eigenen Wunsch als von seinem körperlichen Vermögen immer wieder an Heddas Seite gespült wurde. Er was die komischste Figur im Spiel.

Die Inszenierung leistete viel und bereitete Dank der ausgefallenen, aber sinnvollen Ästhetik einen kurzweiligen Theaterabend. Einmal mehr zeigten die jungen Darsteller des Volkstheaters, was in ihnen steckt, wenn sie denn einmal losgelassen und dabei doch glänzend geführt werden. Nämlich Theater vom Feinsten. Diese Inszenierung, die weitestgehend frei von Tiefenpsychologie aber dennoch tiefgründig ist, sei auf das Wärmste empfohlen, zeigt sie doch auch, wie weit Theater den Betrachter in die wunderbarsten Gefilde der Fantasie davontragen kann. Und das mit einer Tragödie von Ibsen. Chapeau!

Wolf Banitzki

 


Hedda Gabler

von Henrik Ibsen

Mit: Anne Stein, Jakob Immervoll, Jakob Geßner, Paulina Alpen, Timocin Ziegler, Jorid Lukaczik, Nathalie Schörken

Regie: Lucia Bihler

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