Volkstheater Das blaue blaue Meer von Nis-Momme Stockmann


 

Aktuell und berührend

Darko verkörpert den gesellschaftlichen Typus, den man Loser nennt. Dabei klingt das Wort Loser auch irgendwie putzig, eignet sich zum Necken, unter Freunden. Doch in der Welt, in der Darko lebt, gibt es keine Neckereien und erst recht keine Putzigkeiten. Darkos Welt ist kein Ponyhof. Hier herrscht eine erbarmungslose Realität, Alkoholismus, Brutalität, Misstrauen, und all das führt zu permanenten Gewalttätigkeiten, psychischen und auch physischen, bis hin zu Mord und Totschlag. Es ist die Welt der Sozialbauwohnungen, der Schließfächer für das „Präkariat“, in denen die Menschen einem trostlosen Ende entgegen dämmern.

Dabei hat Darko einen Traum, einen poetischen Traum. Er möchte einmal die Sterne sehen. Das ist ihm nicht vergönnt, denn das permanente Licht, eine anerkannte Form der Umweltverschmutzung, verhindert das. Sein Suizid scheint unausweichlich. Doch dann taucht unverhofft Motte, die „Wohnsiedlungsprostituierte“, im Keller, wo sich Darko gerade die Wäscheleine um den Hals legt, und in seinem Leben auf. Ihr Sehnsuchtsort ist Norwegen, wegen des Blaus des Meeres und des Himmels. Doch als sie es nicht einmal schaffen, gemeinsam in den Zoo zu gelangen, geht alle Hoffnung in Rauch auf: „Ich glaube, Sterne gibt es nur im Märchen“. Das Fazit von Motte.

Nis-Momme Stockmanns kleines, aber aufregendes Drama, das 2010 seine Uraufführung feierte, benennt eine Situation, die in der Reflexion der Gesellschaft kaum oder nur am Rande stattfindet. Der Text liefert auch keine schlüssige Analyse über das Phänomen Armut und soziale Verwahrlosung in der viertstärksten Volkswirtschaft der Welt oder gar Auswege. Doch es klagt unmissverständlich an, nämlich die, die der Armut gegenüber stehen. Und so wendet sich Darko an das Publikum und schleudert ihm seinen Frust entgegen. Sinngemäß: „Ihr braucht uns, damit ihr euch reich fühlt!“ Das trifft ins Mark, wenngleich der Text alle erdenklichen Klischees bedient und hart an den Sandbänken des Sozialkitschs segelt. Doch wo und wann spüren wir eigentlich noch den Kloß im Hals angesichts des Elends einer wahrlich nicht unerheblichen Menge an Mitmenschen? Insofern macht das Stück sehr wohl Sinn.

  Das blaue blaue Meer  
 

Mauricio Hölzemann, Lavinia Nowak, Jonathan Müller

© Gabriela Neeb

 

Regisseur Philip Klose richtete das Drama auf der kleinen Bühne des Volkstheaters ein und dabei ging er sehr ambitioniert zu Werke. Elisabeth Pletzers Bühne, sie zeichnete auch für die Kostüme verantwortlich, versinnbildlichte mit einem durchsichtigen, geschlossenen Raum die Gefangenschaft sowohl im Sozialbaughetto, als auch in der sozialen Situation von Armut. Im Innern hingen in durchsichtigen Kleidersäcken Artefakte von anderen, früheren Bewohnern, die ihren Weg bereits bis zum bitteren Ende gegangen waren. Diese Sachen glichen den Kostümen der agierenden Figuren, fleischfarben, durchsichtig, vernarbt. Sie suggerierten Entblößung - in den Kleidersäcken, auf makabere Weise die Häute der verblichenen Mitbewohner.

Philip Klose inszenierte eine Offenlegung. Die Akteure Jonathan Müller, Mauricio Hölzemann und Lavinia Nowak verschoben die Wände so lange, bis der Raum am Ende endlich einsehbar war. Desgleichen wurde viel mit den Kleiderbeuteln veranstaltet, die dem Erinnern dienten, aber auch als Konservierung des Nachlasses. Zum Beispiel des Nachlasses von Ulrike, der Schwester des physisch verunstalteten Freundes Darkos, sensibel und zurückhaltend gespielt von Mauricio Hölzemann, die sich vor aller Augen vom Dach gestürzt hatte.

Jonathan Müller spielte den Darko mit viel Energie, der immer wieder an die unsichtbaren Wände seiner begrenzten Existenz prallte, was ihn immer wieder in Richtung Suizid drängte. Die aufkeimende Liebe, er konnte dieses Gefühl selbst lange nicht einordnen, gestaltete Müller mit außerordentlicher, geradezu vibrierender Zartheit, die so ganz im Gegensatz zum letzten großen Zorn stand, mit der er die Welt (das Publikum) herausforderte. Lavinia Nowak gab genau die Motte, die das Spiel von Jonathan Müller so glaubhaft machte.

Es war eine wunderbare Ensembleleistung, die das kleine Kammerspiel mit großer Intensität beseelt haben könnte, wären das nicht die zum Teil ablenkenden Handhabungen der Kleidersäcke und ihrer Inhalte oder das permanente Verschieben der Wandelemente aus PVC-Trapezplatten. Vieles, ob deutlich motiviert oder nicht, lenkte vom wuchtigen und eindringlichen Text ab. Aufgefüllt mit scheinbar unendlich vielen, vorgeblich bedeutungsschwangeren Handlungen und Gängen wurde die Zeit gestreckt und so fühlte sich die eine und eine viertel Stunde dauernde Vorstellung deutlich länger an. Hier wäre weniger deutlich mehr gewesen. Dennoch war es, vor allem durch das intensive und konzentrierte Spiel der Darsteller, eine berührende Inszenierung, deren Inhalt bedrückend aktuell ist und darum auch auf die Bühne gehört.

Wolf Banitzki

 


Das blaue blaue Meer

von Nis-Momme Stockmann

Jonathan Müller, Mauricio Hölzemann, Lavinia Nowak

Regie: Philip Klose

Volkstheater  UA In den Strassen keine Blumen von Charlotte Roos


 

Ein düsterer Mädelsabend

Es ist ein eklektisches Werk, das Charlotte Roos zu Papier und Pinar Karabulut auf die Bühne des Volkstheaters brachte. Das am 21. Juni 2018 uraufgeführte Drama setzt sich aus den vier großen Tragödien des 1936 von faschistischen Horden ermordeten Spaniers Federico García Lorca zusammen: „Bluthochzeit“, „Yerma“, „Doña Rosita bleibt ledig oder Die Sprache der Blumen“ und „Bernarda Albas Haus“. Das Projekt wirft zuallererst die Frage auf, warum die vier großen und großartigen Dramen miteinander verwoben, mit Alltagssprache durchsetzt in einer zweieinhalbstündigen, kaum schlüssigen und schon gar nicht organischen Form präsentiert wurden? Eine Antwort gibt der Text, mit dem die Inszenierung von Seiten des Volkstheaters beworben wurde: „In den Straßen keine Blumen“ verbindet das Schicksal der Lorca´schen Frauen zu einem Kaleidoskop des Protests gegen ein System, das, längst als tot entlarvt, nur mehr künstlich am Leben gehalten wird. In dieser Künstlichkeit kann nichts wachsen. Keine Blume. Kein Kind. Keine Liebe. Keine Zukunft. (Website Volkstheater)

„Keine Blume“ spielt auf „Doña Rosita bleibt ledig…“ an. Doña Rosita muss Abschied von ihrem Verlobten nehmen, der zu seinen Eltern nach Lateinamerika reist. Sie verspricht, zu warten. 15 Jahre gehen ins Land. Eine Fernhochzeit schürt noch einmal Hoffnung. Doch schließlich muss die Braut erfahren, dass der Geliebte bereits seit acht Jahren verheiratet ist. Die Hoffnung stirbt. Doña Rosita verblüht wie die Rose „Rosa mutabilis“, vom Onkel im Gewächshaus gezüchtet, die morgens rot erblüht, mittags leuchtet, nachmittags weiß wird und sich in der Dämmerung entblättert. Doña Rosita ist eben diese Blume im gesellschaftlichen Gewächshaus nach spanischer Sitte. Aufbegehren wird jedoch erst „Yerma“, der Name bedeutet „die Brachliegende“. Zwangsverheiratet mit dem Bauern Juan, sieht sie in der Geburt eines Kindes ihre eigene Erlösung: „Es hungert mich nach den Schmerzen einer Gebärerin.“ Als sie erkennen muss, dass ihr sittenstrenger Gatte auch noch zeugungsunfähig ist, erwürgt sie ihn. In „Bluthochzeit“ führt eine arrangierte Ehe, Besitz heiratet Besitz, in die Katastrophe, als der ehemalige Verlobte der Braut, Leonardo, inzwischen selbst verheiratet, auf dem Fest auftaucht. Leonardo und die Braut fliehen noch in derselben Nacht. Der Bräutigam setzt ihnen nach und die beiden Männer erstechen sich gegenseitig im Zweikampf. Zurück bleibt die Braut, Ehebrecherin, Jungfrau und Witwe zugleich.

In „Bernarda Albas Haus“ herrscht Trauer. Der Hausherr ist gestorben und die Witwe Bernarda Alba ordnet eine achtjährige Trauer an. Das bedeutet für vier von fünf Töchtern eine achtjährige Gefangenschaft im Haus. Nur die älteste Tochter hat eine Chance, dem Gefängnis zu entkommen. Sie ist mit Pepe el Romano verlobt, mit dem sie sich immerhin durch das vergitterte Fenster unterhalten darf. Pepe will sie nur der üppigen Mitgift wegen heiraten, tatsächlich jedoch liebt er die jüngste Schwester Adela. Ein gemeinsames Treffen der beiden Liebenden wird von Mutter Bernarda mit Waffengewalt unterbunden. Nachdem Adela von einer eifersüchtigen Schwester, die ihr den Tod Pepes vermeldet, betrogen wird, erhängt sie sich.

  In den Strassen keine Blume  
 

Laina Schwarz, Jonathan Hutter, Carolin Hartmann, Oleg Tikhomirov, Nina Steils, Timocin Ziegler

© Gabriela Neeb

 

Zuletzt las die Bernarda-Darstellerin Margot Gödrös den Mythos von Demeter, deren Tochter Persephone von Hades ins Totenreich entführt wurde. Demeter, die mächtige Göttin der Fruchtbarkeit, verweigert die Nahrungsaufnahme, woraufhin alles was fruchtbar ist „im Land“ verkümmert. Erst Iambe oder auch Baubo gelingt es, die Trauer der Demeter zu brechen und sie Lachen zu machen, in dem sie ihr ihre Vulva zeigt. Demeter isst und trinkt wieder und das Elend hat ein Ende.

Es ist ein per se sehr großes Thema, vielleicht zu groß für einen zweieinhalbstündigen Theaterabend, das die Regisseurin Pinar Karabulut angegangen ist. Unzulässige Vereinfachungen scheinen dabei unvermeidlich. Und so wie der Text eine Hybridisation des Lorca´schen Werkes ist, ist es auch die ästhetische Umsetzung auf der Bühne. Es wurde getanzt, gesungen, geklettert, körperlich rhythmisiert, lautmalerisch kommentiert und kolportiert und gelegentlich auch Raserei veranstaltet. Maßvoll war das nicht und sollte es wohl auch nicht sein. Vielmehr war es ein geradezu ekstatischer Aufschrei der bedrängten weiblichen Kreatur, die (so zumindest behauptet) noch immer in den gesellschaftlichen Konventionen gefangen ist und leidet. Objektiv betrachtet, waren inhaltliche Differenzierungen kaum möglich und es stellt sich für einen in jedem Fall „schuldigen“ Mann die Frage, ob es politisch überhaupt korrekt ist, den dargebotenen Status nach achtzig Jahren (seit dem Tod Lorcas) zu hinterfragen. Leben wir tatsächlich noch immer in so archaischen Strukturen und machohaften Verhältnissen, dass mit solcher Wucht angeklagt wird?

Ästhetisch war die Inszenierung jedenfalls nicht wirklich zwingend, denn während die Poesie Lorcas, angefüllt mit Blumenmetaphorik, durch den Raum flatterte, nicht selten Verzauberung durch lyrische Bilder zelebriert wurde, erfuhren diese Momente immer wieder ihre ernüchternden Abbrüche durch banale Alltagssprache, Vulgarismen und Jugendslang. Bühnenbildnerin Johanna Stenzel hatte für dieses „Kaleidoskop des Protests“ einen weiß verhangenen Bühnenraum geschaffen, der in der Mitte einen Swimming Pool, umrandet von Gartensplit, aufwies. Die Rückseite wurde für Videoprojektionen genutzt, in denen Blut, wie auf der Bühne auch, eine wichtige Rolle spielte. (Video: Leon Landsberg) Mit fortschreitendem Spiel wurden die Tücher herunter gerissen und der Raum wurde immer düsterer. Eine sehr komödiantische Szene erheiterte immerhin in all der Depression. Nina Steils brachte als Mutter der drei Jungfern selbige zu einer Poolparty mit. Sie wurden von den drei männlichen Darstellern (Jonathan Hutter, Oleg Tikhomirov, Timocin Ziegler), in Bonbonverpackungen gewandet, gespielt. Die Kostüme von Claudia Irro waren ein neckischer Einfall.

Unterm Strich allerdings schlug das in jeder Hinsicht aufwendige Spiel sämtlicher Darsteller nicht durchgängig in den Bann. Einige Längen waren unvermeidlich und als Kenner der Lorca´schen Dramen war man zu sehr damit beschäftigt, die Personen und Handlungen zu sortieren, als sich von ihnen be- und anrühren zu lassen. Es war indes eine sehr weibliche Sicht auf das Thema, das nicht sonderlich erschöpfend behandelt wurde. Wie auch, es ist, wie bereits erwähnt, ein sehr großes Thema, das deutlich über die Vulva hinausgeht. Vielleicht ist die Anmerkung nicht unbedingt passend, aber es sei erwähnt, dass in einer anderen Fassung des Demeter-Mythos Zeus, der Bruder von Hades und Vater von Persephone, vermittelnd eingreift und einen Deal mit Demeter und Hades einfädelt. Danach muss Demeter ihre Tochter für die Hälfte des Jahres Hades überlassen, also quasi zur Nichtenschändung. Aus diesem Grund haben wir Sommer und Winter, die Zeit der Fruchtbarkeit und die Zeit der Unfruchtbarkeit. Hier relativiert sich der Ausgang der auf der Bühne gelesenen Fassung einigermaßen. Also, eine Vulva ist ein mächtiges, aber kein allmächtiges Organ, so glücklich sich die meisten Männer schätzen dürfen, dass es sie gibt. Es bleiben zwei Geschlechter, die, und hier sollte unbedingt auch das Glückstiftende gesehen werden, die Dualität durch Vereinigung seit Anbeginn zu überwinden suchen. Die Natur, auch die des Menschen, sollte nicht ausschließlich beklagt werden. Nur der Widerspruch ermöglicht Entwicklung, und der wird bis ans Ende der Tage bleiben. Einzig die Liebe vermag ihn, wenn auch nicht dauerhaft, zu überwinden.

Wolf Banitzki

 


In den Strassen keine Blumen (UA)

von Charlotte Roos nach Texten von Federico García Lorca

 Luise Deborah Daberkow, Margot Gödrös, Pola Jane O´Mara, Laina Schwarz, Nina Steils, Jonathan Hutter, Oleg Tikhomirov, Timocin Ziegler

Regie: Pinar Karabulut

Volkstheater  Das Bildnis des Dorian Gray nach Oscar Wilde


 

Über Jugend- und Schönheitswahn

„Alle Kunst ist ganz und gar nutzlos.“ - Nein, Oscar Wilde glaubte nicht an eine weltverbessernde Kraft der Kunst, obgleich sie in Europa seit Homer zweifelsfrei nachgewiesen ist. Und so ging Wilde entschlossen daran, jeglichen Vorsatz auszublenden, mit der Kunst einem Zweck zu dienen. Je näher die Kunst dabei der Realität kommt, umso sinnloser wird sie dem Dichter: „Das Leben verdirbt durch seinen Realismus immer die Thematik der Kunst. Das erhabenste Vergnügen an der Literatur ist, das Nicht-Existente existent zu machen.“ Kunst als Transportmittel für Moral war für Wilde ohnehin indiskutabel: „Alle Künste sind amoralisch – außer jenen niedrigeren Formen der sinnlichen oder belehrenden Kunst, die, im Bösen oder Guten, zum Handeln anzustacheln sucht. Denn Handeln jeder Art gehört in den Bereich der Ethik. Ziel der Kunst ist es einfach, eine Stimmung zu erzeugen.“ Und so findet sich am Ende doch noch ein Zweck, denn was ist die Erzeugung von Stimmungen im Ergebnis anderes als ein zweckdienliches Streben. Allein, Wilde war, was das Ergebnis anbelangte, kein Optimist: „Wir haben das abstrakte Gefühl für Schönheit verloren.“

Immerhin, in „Das Bildnis des Dorian Gray“ bleibt er seinen Prämissen treu, begibt sich in die Gefilde des Phantastischen und beschwört das „Nicht-Existente“. Der Maler Basil Hallward schafft ein Bildnis von Dorian Gray, dem er seit der ersten Begegnung vollkommen verfallen ist. Es gelingt ihm, die makellose Schönheit des Mannes in ein absolutes Kunstwerk zu bannen. Dorian erkennt im Angesicht seines Bildnisses, dass darin die vollkommene Schönheit auf ewig weiter existieren wird, während seine Schönheit bald vergehen muss. Er leistet den Schwur, alles zu geben, damit sich diese Tatsache umkehrt, seine physische Schönheit fortbestehen wird und stattdessen sein Abbild auf der Leinwand altert. Genau das geschieht, bleibt aber vorerst das Geheimnis Dorians. Angefeuert und zugleich verunsichert von dem Ästheten Henry Wotton, einem wahrhaften Advocatus Diaboli, saugt Dorian die Schönheit des Lebens in sich auf. Ihm begegnet die Liebe, doch für Dorian endet sie ernüchternd, als das angebetete Wesen, die Schauspielerin Sibyl Vane unter dem Einfluss der Liebe zu einem wahrhaftigen menschlichen Wesen wird und die Rollen der Desdemona oder der Ophelia abstreift. Dorians Liebe erlischt augenblicklich und er wendet sich von ihr ab. Sibyl überlebt ihre Enttäuschung nicht. Von nun an entwickelt sich die Geschichte zu einem Horrortrip, in der der Tod auch weiterhin reiche Ernte einfährt.

Abdullah Kenan Karaca brachte die Geschichte auf die Kleine Bühne des Volkstheaters. Es wäre müßig über die Aktualität des Stoffes nachzudenken, denn was hat in unserer Mediengesellschaft momentan einen höheren Stellenwert, als die Selbstdarstellung und der Wahn von Schönheit. Auch das Ergebnis ähnelt angesichts der zahllosen Botox-Mumien und der geistigen Verarmung der Repräsentanz von Schönheit der Geschichte des Dorian Gray. Gerade hat Verona Poth herausgefunden, dass eine Flugzeugtoilette ein guter Ort für Selfies ist und die Medien entblöden sich nicht, uns diese Tatsache brühwarm mitzuteilen. Henry Wotton erklärt das Phänomen der Unvereinbarkeit von Schönheit und Geist wie folgt: „Schönheit, wahre Schönheit hört auf, wo geistiger Ausdruck anfängt. Geist ist an sich eine Art Übertriebenheit und zerstört das Ebenmaß jedes Gesichts. Sowie man sich ans Denken macht, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder derart Grässliches. Betrachte die Männer, die in irgendeinem gelehrten Beruf Erfolg hatten. Wie vollendet hässlich sind sie!“ Vor diesem Schicksal ist Frau Poth ganz sicher gefeit.

  Dorian Gray  
 

Pascal Fligg, Oleg Tikhomirov, Jakob Geßner

© Gabriela Neeb

 

Zehn Jahre treibt es Dorian auf das Schändlichste und er altert dabei nicht. Einzig die Gesellschaft wendet sich immer mehr von ihm ab. Der Geruch von Lasterhaftigkeit und emotionaler Barbarei haftet ihm an. Als Basil Hallward die Herausgabe des Bildnisses für eine temporäre Ausstellung in Paris fordert, enthüllt sich ihm das Geheimnis. Das wahre Antlitz Dorians ist auf dem Bild zu sehen: „Die Sünde ist etwas, das sich einem Menschen ins Gesicht schreibt. Sie lässt sich nicht verbergen.“ (Aphorismus von O. Wilde) Er überlebt diese Erkenntnis jedoch nicht. Jakob Geßner verkörperte in dieser Rolle den einzigen moralischen Menschen, dessen letzter Ausdruck der des Entsetzens ist. Aber auch Henry Wotton, fein ziseliert, mit viel Witz und wunderbar zarten Nuancen gestaltet von Pascal Fligg steht ungläubig vor den Trümmern seiner Bemühungen, den jungen Dorian Gray aufzuklären über das Leben, wie Wotton es in seiner zynisch-makaberen Sicht interpretiert.

Bei der Rollenverteilung war eine männliche Dominanz nicht zu leugnen und als dritter im Bund gab Oleg Tikhomirov einen in sich zerrissenen, von Zweifeln und düsteren Ahnungen geplagten Dorian Gray. Carolin Hartmann komplettierte als Lady Wotton eine Ehe, die Ehemann Henry so definierte: „(…) die Ehe hat den einen Reiz, dass sie beiden Teilen ein Leben der Täuschung völlig zur Notwendigkeit macht.“ Immerhin verklausulierte Lady Wotton diese permanenten Täuschungsmanöver nicht allzu sehr. Pola Jane O´Maras Sibyl Vane hatte nur einen kurzen Auftritt, indem sie sie selbst, also Sibyl Vane sein konnte. Davor spielte sie die Ophelia so wunderbar grottenschlecht, dass der Abgesang auf die Schauspielkunst den Herren im Publikum (also Henry Wotton, Basil Hallward und Dorian Gray) glaubhaftes Entsetzen auf die Gesichter zauberte. Zurück kam sie nur noch als ihr eigener Geist, Dorian zusehends in den Wahnsinn treibend.

Abdullah Kenan Karaca gelang eine in sich stimmige und spannende Inszenierung, zu deren Gelingen das Licht von Günther E. Weiss einen großen Anteil hatte. Aber auch das Bühnenbild von Vincent Mesnaritsch beeindruckte, ein einfacher Raum mit goldfarben patinierten Wänden, die nach und nach unter den Ausbrüchen von Aggression und Verzweiflung zu Bruch gingen. Dieser Raum konnte von den Darstellern nur kriechend durch einen Spalt über dem Fußboden erreicht werden. Figuren, die lediglich durch ihre Füße sichtbar waren, spielten im Wesentlichen im Off, was die Begrenztheit des Bühnenraumes durch glaubhafte Imagination aufhob. Die Kostüme von Elke Gattinger vervollkommneten die gepflegte Ästhetik der Geschichte um Schönheit, Moden und Abgrenzung von allem Banalen und somit Hässlichem. Es waren aufwendig gearbeitete Roben, die einem Oscar Wilde vermutlich gut gefallen hätten. Fotos von ihm, er hasste es übrigens, abgebildet zu werden, lassen diesen Schluss zu.

Abgesehen davon, dass Wildes Stücke, Texte und Gedanken schon wegen der Pracht ihrer Sprache, aber auch wegen der Brillanz des innewohnenden Geistes es allemal wert sind, immer wieder zur Diskussion gestellt zu werden, trifft die Inszenierung einen Nerv der Zeit. Auch wenn Wilde stets die Zweckfreiheit seiner Werke zu beschwören suchte, bleibt doch zu hoffen, dass dem Publikum hier und da ein Licht aufgeht und der wunderbare Theaterabend nicht gänzlich folgenlos bleibt. Wildes Rezepte für den Erhalt von Jugendlichkeit (und damit Schönheit) waren immerhin gänzlich andere, als die heutigen tags praktizierten: „Um meine Jugend zurückzuerhalten, würde ich alles auf der Welt tun, außer Leibesübungen, früh aufstehen oder ehrbar werden.“

Wolf Banitzki

 


Das Bildnis des Dorian Gray

nach Oscar Wilde
in einer Übersetzung von Eike Schönfeld

Oleg Tikhomirov, Pascal Fligg, Carolin Hartmann, Jakob Geßner, Pola Jane O´Mara

Regie: Abdullah Kenan Karaca

Volkstheater  Schöne Neue Welt nach Aldous Huxley


 

Freiheit oder Glück

Es ist vollbracht! Der Mensch ist frei von Leiden, ist bis zu seinem Tod, der von staatlicher Seite organisiert ist, gesund, von angenehmer Gestalt und in jeder Hinsicht potent. Soma, eine Droge, die dauerhaft verabreicht wird, verhindert Depressionen, Missstimmungen und befördert sexuelles Begehren und die nötige Potenz. Man speist die wundervollsten Nahrungsmittel, genießt permanent die harmonische Gesellschaft der Mitbürger, ergibt sich einer allgemeinen Promiskuität und einer permanenten, flachen Unterhaltung. Die Geschichte, die Kunst sind abgeschafft, ebenso wie jegliche Formen von Individualismus. Das klingt wie die ganz große Freiheit, die Erlösung von allen Übeln.

Klingt leider nur so, denn diese Welt hat eine dunkle Schattenseite. Die Bewohner dieser „Zivilisation“ sind nicht auf natürliche Weise gezeugt und von Müttern geboren, sondern in der Retorte gezüchtet, biochemisch konditioniert und optimiert und in Kasten, von Alpha bis Epsilon eingeteilt, hineingeboren, aus denen sie nicht mehr herauskommen und es auch nicht wollen, denn es mangelt ihnen dafür an Fantasie und Willen. Freier Wille, eine Quelle des Leids, ist quasi abgeschafft, findet sich nur noch rudimentär bei den Controllern, einem weltbeherrschenden Rat, die zugleich auch Wissende sind, was die Geschichte, die Kunst, die Psychologie anbelangt. Sie lesen die Bücher, die gemeinhin verboten sind, denn „sie machen die Gesetze und können dagegen verstoßen, straffrei!“

Die Geschichte ist schnell umrissen. Bernhard Marx ist, was das Konzept seiner Existenz anbelangt, nicht perfekt. Er verfügt über einen „mentalen Überschuss“. Dabei ist er mit zu wenig Muskelmasse ausgestattet, was seiner Attraktivität abträglich ist. Er ist unter seinesgleichen „gesondert“ und leidet unter dem Gefühl der Isolation. Aber auch Helmholtz Watson (ein Bild von einem Alpha-Plus), der sehr erfolgreich an der „Schriftfakultät“ arbeitet und ein sehr gutes Händchen hat für „hypnopädische Reimsprüche“. Er schreibt „Fühldrehbücher“ für das Fühlkino (Feelies), ein technischer Ersatz für Haptik und sinnliche Wahrnehmung. In weniger als vier Jahren hat er 640 verschiedene Frauen gehabt. Doch drängt sich ihm ernsthaft die Ahnung auf, dass Sport, Frauen und soziales Engagement nur billiger Ersatz sind für … Ja, wofür eigentlich? Diese Frage kann er nicht beantworten.

Bernhard Marx unternimmt eine Safari in ein „unzivilisiertes Reservat“ nach New Mexico, wo menschliche Wesen noch in der Natur und in ihrer natürlichen Lebensform existieren. Die erste und wichtigste Wahrnehmung ist: Sie riechen schlecht. Dort stoßen sie auf Linda und John Savage, leibliche Mutter und Sohn. Linda ist verstoßen worden aus der „Zivilisation“ und sehnt sich zurück. John hat das ganze Werk Shakespeares auswendig gelernt und misst an diesem die Realität. Er kann Hamlets Ansicht, der das Vertrauen in die Menschen verloren hat, nur teilen. Bernhard Marx nimmt die beiden mit in die „Zivilisation“, die sich nun am naturmenschlichen Wesen, wie es auch der Leser/Betrachter ist, messen lassen muss. John und das Wort Shakespeares sind für die „Zivilisation“ jedoch pures Gift. Sie verändern das Denken von Marx und auch das von Helmholtz Watson und so werden am Ende alle ausgesondert. Die beiden „Zivilisierten“ werden auf eine Insel verdammt; John Savage wird Hauptakteur einer medialen Show, vergleichbar mit Shakespeares monströsem Caliban (Der Sturm). Am Ende bleibt ihm nur die Flucht in den Freitod.

  Schoene Neue Welt  
 

Ensemble

© Arno Declair

 

Regisseur Felix Hafner (Jahrgang 1992) brachte den Roman in einer sehr körperbetonten, musikalisch aufgeladenen Inszenierung auf die Bühne, die vornehmlich das junge Publikum ansprechen dürfte. Dazu brauchte er eine unverstellte Spielfläche und die lieferte Bühnenbildnerin Camilla Hägebarth mit lackglänzendem Bühnenboden. An der Rückwand befand sich ein kreisrundes großes Lichtfeld, das wie das Auge von „Big Brother“ die Vorgänge auf der Bühne überwachte und auch manipulierte. Als John Savage, gespielt von Silas Breiding, den „Zivilisierten“ die Entscheidungsfreiheit zurückgeben wollte, verhängte er das Licht mit einem Bühnenvorhang. Für einen kurzen Augenblick war das System blind. Doch der Controller Mustapha Mond, diabolisch und eindringlich von Jakob Immervoll gestaltet, setzte dem schnell ein Ende. Timocin Zieglers Bernhard Marx war ein emotional schwächelnder Zeitgenosse, der zum Messias nicht taugte, denn als er mit Linda und John Savage Aufsehen erregte wie mit exotischen Tieren, stiegen seine „Werte“ unerwartet und er fühlte sich in der Gemeinschaft wieder aufgehoben und wohl. Mehmet Sözer gab seinen Helmholtz Watson als einen exaltierten Intellektuellen, der zumindest am Ende Heroismus zeigte, als er für seine Verbannung einen Schlechtwetterort forderte. Bei schlechtem Wetter schreibt es sich am besten.

In Aldous Huxleys Roman aus dem Jahr 1932 ist unübersehbar, dass das weibliche Geschlecht nicht unbedingt auserkoren ist, die dystopische Welt in Frage zu stellen oder sich gar dagegen aufzulehnen. So blieben Julia Richter als Lenina Crowne und Luise Deborah Daberkow als Fanny Crowne nicht viel mehr als der Part als Stichwortgeber oder Kontrast zur männlichen Verwirrung. (John Savage: „Ich würde für dich den Boden fegen!“ Lenina Crowne: „Aber dafür gibt es doch Staubsauger und Epsilon Semi-Kretins zu ihrer Bedienung.“) Ansehnlich machten sie das allemal. Nina Steils entkam dieser Huxleyschen Begrenzung und das gleich in zwei Rollen. Als Direktorin agierte sie prägnant und mit lackledernem Nachdruck wie eine Domina, als Linda, in einem Fatsuit (Kostüme: Janina Brinkmann) menschliche Vergänglichkeit vorstellend, starb sie einen langsamen und erbarmungswürdigen Drogentod.

Hintergrund bildeten stets gruppendynamische Abläufe, denn das Individuum wurde nicht aus der Obhut der Gemeinschaft entlassen. Regisseur Hafner hatte sich dafür von Vasna Aguilar aufwendige Choreographien erarbeiten lassen, die der einfachen Rhythmik von Techno- oder Discomusik folgten. Die Musik von Clemens Wenger war auf Texte aus dem Roman komponiert worden und im Ergebnis entstand ein Sound, der mit heutiger, moderner Pop-Kultur kaum vergleichbar ist. Die Bewegungsabläufe erklärten ausgelassenen Tanz, gruppensexuelle Handlungen oder Freizeitaktivitäten wie „E-Magneto Golf“. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass diese Form des Schauspiels für das junge Ensemble des Volkstheaters keine schwierige Herausforderung bedeutete und ihrer unbändigen Spiellust entgegen kam. Dementsprechend schweißtreibend war auch das Ergebnis.

Es war ein mutiges Unterfangen, dem sich die Macher gestellt hatten. Und mit ihrer Lesart reflektierten sie zuallererst die heutige digitale und Netzwerkwelt. Dort gibt es auf beinahe jeder Seite den Buttons „Friend“. Und tatsächlich ist das Bedürfnis, in einer großen Gemeinschaft aufzugehen absurd groß, denn im gleichen Atemzug wird der hohe Wert des Individualismus beschworen. Trotzdem sind die Analogien zur „Schönen Neuen Welt“ von Huxley unübersehbar. Und doch gibt es verglichen mit der Romanvorlage einen deutlichen Mangel. Der besteht in der Abnabelung von der konkreten, mit der Entstehung des Romans verbundenen Geschichte.

Bei Huxley gibt es einen messianischen geistigen Führer, mit dem eine neue Zeitrechnung begonnen hatte. Die Geschichte spielt im Jahr 632 n.F. Das bedeutet übersetzt: 2495 n.Chr. Mit F war Henry Ford gemeint, der im Jahr 1863 geboren worden war, das erste Auto am Fließband produzierte (Ford T – Modell) und unermesslich reich wurde. Ford war ein glühender Anhänger von Adolf Hitler und seinen Ideen, insbesondere denen, die sich auf die Führung von Massen beziehen, und er betrieb ein Institut, in dem experimentelle Forschungen zur Optimierung von Arbeitern in Fließbandfabriken betrieben wurden. Dabei kamen sowohl Drogen als auch Alkohol zum Einsatz. Fords Bewusstsein war hochgradig pervertiert und aufgrund seiner immensen ökonomischen Macht hypertrophiert. Es ist schade, dass hier kein Name gefunden wurde, den man anstelle von Ford symbolhaft zum Einsatz hätte bringen können. Z wie Zuckerberg wäre z.B. einer, der den Anforderungen der Geschichte durchaus gerecht werden würde. Er steht wie kaum ein anderer für eine Industrie zur Schaffung von Illusionen, Unsinnlichkeit, Vereinsamung und geistiger Gleichschaltung. Die kritische Betrachtung wäre konkreter und fassbarer gewesen. Eine Bedrohung für die Freiheit, und die ist noch immer das höchste Gut, sind solche ökonomischen „Titanen und Halbgötter“ (Siehe Kontostand!) noch immer.

Wolf Banitzki

 


Schöne Neue Welt

nach Aldous Huxley

Timocin Ziegler. Julia Richter, Jonathan Hutter, Mehmet Sözer, Luise Deborah Daberkow, Jakob Immervoll, Nina Steils, Silas Breiding

Regie: Felix Hafner

Volkstheater Das ferne Land von Jean-Luc Lagarce


 

Kein Amüsiertheater!

Louis wird sterben, bald schon. Darum tritt er eine letzte Reise in seine Heimat an, der er einstmals entfloh. Es ist ein fernes Land, in das er reist, denn dort ticken die Uhren anders. Dort ist die Tristesse zu Hause, die Ausweglosigkeit, der Stumpfsinn. Vielleicht hatte Louis die Hoffnung, mit offenen Armen empfangen zu werden. Der erste Eindruck gibt ihm recht. Doch dann offenbaren die Zurückgebliebenen ihren Status und der ist beklemmend und erschütternd. Louis begegnet der biologischen Familie, der Mutter, dem Bruder und dessen Familie und seiner Schwester. Aber auch dem verstorbenen Vater, der zeitlebens nur malocht hat und nie aus der Stadt herausgekommen war, es nicht einmal nach Paris schaffte, obgleich er es immer vorhatte.

Er trifft aber auch die Freunde wieder, die Geliebten und unter ihnen auch einen verstorbenen. Louis lässt die Lebensbeichten über sich ergehen und verstummt zusehends. Am Ende kann er seinen nahen Tod nicht verkünden, denn auch dieser Akt würde die Gräben zwischen allen noch tiefer reißen. Die Zurückgebliebenen mit ihren ungelebten Leben machen Louis für ihre Sackgassen verantwortlich, obgleich sie nicht einmal wissen, wie das Leben des „verlorenen Sohns“ aussieht. Man beneidet und verachtet ihn und weiß nicht einmal warum. Man weiß nur, wer weggegangen ist aus der Stadt, einer „Art Stadt“, kein Raum, in dem man leben möchte oder kann, hat Verrat geübt an denen, die zurückgeblieben sind.

Der Text von Jean-Luc Lagarce (1957-1995), zwischen 1991 und 1993 geschrieben, ist eine hochsensible Bestandsaufnahme zum Thema Abschied und Tod, den er selbst schon in sich trug. Es ist ein prosanaher Text in einem Stück, das handlungsarm ist und ohne deutliche dramatische Struktur auskommt. Die Syntax der Texte, ist ein überbordendes Blühwerk, in dem These und Antithese, unterschiedliche Tempusformen und sich steigernde und einander überbietende Konkretisierungen gleichberechtigt nebeneinander stehen oder aufeinander folgen. Was den Texten an Dramatik fehlt, wird ersetzt durch die Sogkraft der strudelartigen Bilder. Es fehlen durchgängige Dialoge, in denen abgearbeitet, analysiert, zugespitzt und nach einer Lösung gestrebt wird. Stattdessen hat jeder Darsteller irgendwann seinen großen Offenbarungsmonolog. Und jeder Monolog für sich ist ein Abgrund, in den der Zuschauer zu schauen gezwungen ist. Wozu das führt, hat Friedrich Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“ beschrieben: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Genau dieses Entsetzen, das dabei entstand, war die wesentliche Qualität des Theaterabends. Es war eine ehrliche Inszenierung, die einem Franzosen vielleicht eher gelingt, als uns Deutschen, die wir uns den Blick auf das pure Leben immer gern mit Ideologien und Philosophien verstellen.

  Das fremde Land  
 

Gregor Knop, Reinhardt Winter, Luise Deborah Daberkow, Jonathan Hutter

© Gabriela Neeb

 

Unterm Strich entdeckte der Zuschauer eine Endzeit, einen Bankrott der Gefühle und Ideen in Bezug auf (k)eine Zukunft. Die Kraft der Protagonisten resultierte größtenteils aus ihrer Selbstverachtung, die Nietzsche erklärt mit: „Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter.“ Schon das Bühnenbild von Pia Greven ließ jedes Streben nach ästhetischer Attraktivität vermissen. Es war eine bildliche Verlautbarung der Vergänglichkeit und der Schäbigkeit. Abgewetztes und vergilbtes Grün bedeckte den Boden. Wülste, landschaftliche Verwerfungen oder Schründe, dienten als Beete, die nach und nach mit weißen Lilien bepflanzt wurden. Die ambivalente Symbolik dieser Blume in unserem Kulturkreis reicht von Jungfräulichkeit bis Vergänglichkeit, wobei sich in diesem Zusammenhang letztere Bedeutung aufdrängte. Auf dem Prospekt vor dem Bühnenhintergrund waren die vagen Umrisse des Wohnhauses der Familie sichtbar, in die hinein Videoprojektionen gebeamt wurden. Davor standen einige billige Gartenstühle wie in einem Freiluftkino unter einer vielfarbigen Leuchtgirlande. Die Tristesse fühlte sich im Spiel dennoch atmosphärisch aufgeladen an.

Nicolas Charaux, der zuletzt mit seiner hochartifiziellen Inszenierung von Kafkas „Das Schloss“ begeisterte, überzeugt auch in dieser Arbeit mit guten bis verblüffenden szenischen Lösungen. In der Videoschau wurden die Darsteller nackt und bloß wie unter einem erbarmungslosen Vergrößerungsglas. Verblüffend war der Auftritt des Kriegers, gespielt von Oleg Tikhomirov, dessen Körper bei den meisten Männern Minderwertigkeitskomplexe erzeugen könnten. Beinahe nackt und vollkommen mit Goldfarbe überzogen, erschien er geräuschlos wie ein Wesen aus einer märchenhaften Welt, um einen tonlosen Schrei in den Raum zu schleudern. Das war ein Moment mit Gänsehautfaktor. Der Auftritt von Reinhardt Winter als der tote Vater war ein echter Höhepunkt der Inszenierung. Als eine Mischung aus verantwortungsvollem Familienvorstand, brutalem Macho und von Sehnsucht zerfressenem Malocher schuf er ein umfängliches Bild einer ganzen Generation, die den heutigen Wohlstand schuf, ohne ihn selbst genossen zu haben. Marie Goyette faszinierte als Louis' Mutter mit einer kaum zu unterdrückenden Komik, die selbst in tragischen Momenten mitschwang. Luise Deborah Daberkow, noch recht neu am Münchner Volkstheater gestaltete Louis' Schwester Suzanne mit ungeheurer Frische und einer Kraft, die schier unbändig war.

Es war wieder einmal bestes Ensembletheater, in dem auch sämtliche Darsteller überzeugten, die an dieser Stelle nicht genannt wurden. Einer sollte indes unbedingt erwähnt werden: Gregor Knop. Der 1987 in Berlin geborene Schauspieler faszinierte mit seinem überaus verhaltenen Spiel in der Rolle des Louis'. Darüber hinaus aber war es angesichts seiner Physis schwer vorstellbar, dass diese Rolle mit einem anderen Darsteller besser hätte besetzt werden können. Er erinnerte an den jungen Woody Allen mit seinen großen scheuen und fragenden Augen, nur war seine Ausstrahlung nicht komisch, sondern von einer fast biblischen Tragik. Nicolas Charaux weiß, wie man Bilder baut, auch und vor allem aus menschlichen Antlitzen. Und er weiß, wie man die Vorgänge mit unspektakulärer Musik wirkungsvoll unterlegt. (Musik Bernd Eder)

Dieser Theaterabend war einer, der sich mit anstrengender Arbeit vergleichen lässt. Er war nicht frei von Schmerz und er war gelegentlich auch quälend lang. Doch er war ehrlich und aufrichtig, zwei Attribute, die nicht unbedingt immer in einem Zusammenhang mit Erbauung und Wohlbefinden genannt werden. „Das ferne Land“ war kein Amüsiertheater!

Wolf Banitzki

 


Das ferne Land

von Jean-Luc Lagarce

Gregor Knop, Jonathan Müller, Mehmet Sözer, Jonathan Hutter, Oleg Tikhomirov, Reinhardt Winter, Marie Goyette, Silas Breiding, Luise Deborah Daberkow, Pola Jane O´Mara, Nina Steils

Regie: Nicolas Charaux

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