Kammerspiele Der Kaufmann von Venedig von William Shakespeare


 

 

Kammerwerkstatt - mehr Demontage als Montage

Die Spannung war groß, denn die Übernahme der Intendanz an den Münchner Kammerspielen war bereits im Vorfeld mit einigen Aufregungen verbunden. Insbesondere die Ankündigung, das altbekannte Ensembletheater nicht in der Form fortzuführen, löste einige Befürchtungen aus. Der Wechsel ist vollzogen und mit Nicolas Stemanns Inszenierung „Der Kaufmann von Venedig“ von William Shakespeare der Weg in die neue Zukunft der Kammerspiele beschritten. Die Erwartungen an den neuen Hausregisseur waren hoch und neben den Intendanten der großen Münchner Häuser war auch die Presse zahlreich aufgelaufen. Bereits der Spielplan, in dem nicht wenige politische Aktivitäten ins Auge stechen, lässt vermuten, dass sich das Publikum einer neuen Diskurskultur stellen muss – oder auch nicht, denn das Publikum kann entscheiden.

Bekanntermaßen ist ja Wahl nicht selten mit Qual verbunden. Nicht so bei der Konzeption Stemanns für seine Inszenierung: „Um den vielen widersprüchlichen Fragen und Ansprüchen, den Forderungen und den Schulden, den Sowohl und dem als Auch zu begegnen, hat Nicolas Stehmann für die Inszenierung schließlich den, so schien es ihm, einzig möglichen Weg gewählt: den Schritt in die offene Form. Das heißt, er hat eine Spiel- und Inszenierungsweise befördert, die das Annähern kultiviert, das Werkstatthafte, die Anführungszeichen, die Camouflage und das Sich-Verwandeln.“ (Benjamin von Blomberg, Dramaturg der Inszenierung, im Programmheft) In dieser Formulierung findet sich leider ein Anachronismus, denn wenn man von dem „einzig möglichen Weg“ spricht, kann man schwerlich von Wahl sprechen.

 Die „vielen widersprüchlichen Fragen und Ansprüche“ drehen sich in erster Linie um das Thema Antisemitismus und wie kann, muss, soll man (politisch korrekt) damit umgehen. Wie wäre es, die politische Korrektness einfach mal beiseite zu lassen und Tacheles zu reden. Dann hätte man mal ein gutes, ehrliches Fundament für kritische Befragung und Diskurs. Stattdessen verhindert Sprachzensur das Zutagetreten von echten, verinnerlichten Anschauungen. Die Gesellschaft sollte dankbar sein für die „Pegidabewegung“, denn mit ihr tritt der Gesellschaft eine reaktionäre, dumme und wohlfeile Fratze entgegen, das ebenso real ist wie das erwünschte und geschminkte Antlitz. Die Sinnkrise der Gesellschaft, und in der Politik offenbart sie sich am deutlichsten, hat sich längt auch am Theater breit gemacht. Anschauungen und Haltungen sind augenblicklich suspekt, wenn sie nicht flexibel genug sind, um mit ihnen um die nächste weltanschauliche Ecke zu kommen.

Der „Kaufmann von Venedig“ ist eine Komödie und der Stoff stammt nicht von Shakespeare. Er war bereits Bestandteil des „Dolopathos“, einem in mittellateinischer Sprache verfassten Erzählwerk aus dem späten 12. Jahrhundert. Ser Giovanni, genannt Fiorentino, griff die Geschichte auf und einverleibte sie seiner Novellensammlung „Il Pecorone“, die er im Jahr 1378 begonnen hatte zu schreiben. 1558 ist sie mit einiger Wahrscheinlichkeit Shakespeare in die Hände gefallen. Es handelt sich also um einen uralten Stoff, der sich wegen seines Plots hervorragend zur Adaption eignet. Die Frage zu stellen, ist das Werk antisemitisch, ist müßig, denn den Begriff Antisemitismus, einer nationalistisch, sozialdarwinistisch oder rassistisch geprägten Anschauung, gibt es erst seit etwa 1870. Also kann man Shakespeare schwerlich Antisemitismus unterstellen. Tatsächlich gab es Ende des 16. Jahrhunderts überwiegend religiös motivierte antijüdische Stimmungen, ausgelöst durch einen Prozess gegen den Leibarzt Elisabeths I., einen portugiesischen Juden namens Rodrigo Lopez. Graf Essex hatte ihn beschuldigt, die Königin im Auftrag Phillip II. töten zu wollen. Tatsächlich wurde Lopez, nachdem er zum Christentum übergetreten war, hingerichtet.

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Walter Hess, Thomas Schmauser, Jelena Kuljić, Julia Riedler, Niels Bormann, Haqssan Akkouch

© © David Baltzer / Bildbühne

 

Die antijüdische Stimmung wurde zudem von einem Theaterstück angeheizt, das mit großem Erfolg gespielt wurde: „Der Jude von Malta“ von Christopher Marlow, der zu dieser Zeit bereits ermordet worden war. Dieses Stück handelt von dem dämonischen Juden Barrabas, der ein abgefeimter Schurke, Mörder, Verräter und Christenhasser war. Betrachtet man dagegen den Shylock und sein Los, war Shakespeares Werk beinahe ein politischer Affront. Immerhin hatte sich Königin Elisabeth lange Monate gegen die Hinrichtung von Lopez gesträubt und nur sehr widerwillig zugestimmt. Überdies ist es nicht sehr sinnvoll, nach pro- oder antijüdischer Gesinnung bei den Elisabethanern zu fragen, denn die Juden waren aus England per Gesetz verbannt. Der konkrete lebendige Jude war in England unbekannt und existierte nur als Mythos, mit dem man nach Belieben verfuhr.

Warum diesen Ausflug in die Historie, wird sich der eine oder andere Leser fragen? Weil damit zutage tritt, dass es sich in dieser Komödie von Shakespeare nicht um die Frage von Antisemitismus dreht, sondern in erster Linie um Liebesbeziehungen. Die Geschichte um Shylock ist vornehmlich dramaturgisches Transportmittel. Aber der heutige Homo politicus kann nach Holocaust und Auschwitz nicht mehr umhin, sofort in Kategorien wie Antisemitismus zu denken, sobald das Wort Jude fällt. Der Umgang mit diesem Thema, und das spricht die Inszenierung durchaus auch an, ist nicht objektiv, sondern hysterisch, und dieser hysterische Umgang wird langsam und scheinbar unaufhaltsam auf andere Religionen und Weltanschauungen übertragen.

Es ist nicht leicht, Nicolas Stemanns Inszenierung mit dem üblichen Instrumentarium zu besprechen, dann es gibt sowohl ästhetisch wie auch inhaltlich kaum Verbindliches. Die „offene Form“ bedeutete erst einmal, dass Schauspieler Rollen kaum gestalteten und damit nur sehr bedingt erlebbare Figuren schufen. Die Texte wurden von allen gesprochen, ungeachtet des Geschlechts. Jeder konnte jeder sein. Dadurch entstand auch kein dramatisches Beziehungsgeflecht, das Empathie oder Antipathie beim Betrachter auslöste. Es ist schon sehr empfehlenswert, das Stück in den Grundzügen zu kennen, denn die Inszenierung kann schon einige Verwirrungen erzeugen. Der Handlungsfaden durchzog den Abend durchaus, allein, es hatte den Anschein, als ob Nicolas Stehmann ihn an bestimmten Stellen, die ihm für seinen Disput angemessen erschienen, mehr oder weniger gewaltsam kappte. Wenn sich der durchtrennte Handlungsfaden auseinanderdröselte, ging es in die Breite. Als Shylock seinen berühmten Monolog begann: „Ich bin eine Jude. Hat nicht ein Jude Augen?...“, wurde unvermittelt eine andere Stimme laut: “Ich bin Roma. …“. Und noch eine: „Ich bin schwul. …“ Eine weitere: „Ich bin Frau. …“ Schließlich beendete Thomas Schmauser den Irrsinn mit: „Ich bin eine Mann und heterosexuell.“ Das hatte neben einigem Unterhaltungswert durchaus auch Erhellendes. Zumindest verhinderte es das übliche Pathos, mit dem gern auf die Drüsen gedrückt wird. Aufgesetzter indes erschien die Szene, in der das Stück zur Komödie erklärt wurde. Nils Borman verteilte bei den auf der Bühne befindlichen Akteuren Charlie Hebdo – Zeitungen, auf denen die Mohamed-Karikaturen zu sehen waren. Mit vorgehaltener Waffe, gestreckter Daumen und Zeigefinger, wurde zum Lachen aufgefordert. Wer nicht lachte, wurde bedroht, wer lachte, erschossen.

Es wurde lax und ungezwungen gespielt, was den Abend leichtfüßig aber auch unverbindlich gestaltete. Rollengestaltung war, wie gesagt,  nicht wirklich gefordert und so verließ sich jeder Schauspieler auf seine natürlichen Stärken. Es ist höchst fraglich, ob diese Einstellung zur Aufgabe des Schauspielers einen künstlerischen Fortschritt bedeutet oder ob es doch nur eine temporäre Attitüde ist. Besonders Thomas Schmauser konnte seine Kapriziosität im Ausdruck, die auch schon mal in wirklich sehenswerter Gespreiztheit gipfelte, ausleben. Unterhaltsam und ansprechend waren zudem die Gesangseinlagen von Jelena Kuljić, in denen mit jazzige Stimme und musikalischer Begleitung (Musiker Thomas Kürstner/Sebastian Vogel) shakespearesche Texte mit gesteigerter Eindringlichkeit wiederholt wurden.

Katrin Nottrodts Bühnenbild begann bereits an der Rampe. Die Portale links und rechts waren mit silberner Folie abgehängt, auf denen blutrote Streifen waren. Dieses Bild wurde in der Gerichtsszene durch einen silbernen Vorhang gedoppelt, der vom Bühnenboden in den Bühnenhimmel hochgezogen wurde, wobei die leblosen, messerbewehrten Akteure in den Vordergrund rollten. Es waren die Farben von blankem Stahl und Blut. Auf bis zu sieben Monitoren wurden schrille Travestieszenen, (Video Claudia Lehmann), Standbilder, Filmsequenzen („Jud Süß“, Michael Redfords „Kaufmann“-Verfilmung mit Al Pacino) oder auch Texte eingespielt. Bunt und zappelig ging es zu. Hassan Akkouch brachte überdies bemerkenswert akrobatisches Tanztheater ein, in dem er die Zwiespälte Jessicas, der abtrünnigen Tochter Shylocks, körperlichen Ausdruck verlieh. Am Ende gab es dann doch noch ein Hauch Komödie, als die beiden Frauen Portia (Julia Riedler) und Nerissa (Jelena Kuljić) die Ringe, Pfänder der Liebe, von ihren Männern Bassanio (Thomas Schmauser) und Graziano (Niels Bormann) einforderten, die diese an ihre Ehefrauen, nicht wissend, dass sie es sind, zurückgegeben hatten.

So wie die Formen, nämlich offen, war auch der Gesamteindruck: Offen. Es gab Momente, in denen ungewöhnliche Wendungen von ausgetretenen Denkpfaden wegführten. Es taten sich Fragen auf, die aus heutiger Sicht und unter Gebrauch von Shakespeares Text legitim und gut waren. Allerdings wurden keine wirklichen Antworten gegeben, allenfalls vage Andeutungen. So blieb ein schaler Nachgeschmack beim Betrachter, zumindest bei dem, der das Stück hinreichend kannte. Werkstatt ist gut, wenn denn am Ende ein Vehikel steht, das etwas Substanzielles transportiert. Das ist mit dieser Inszenierung nur mäßig gelungen. Es fand mehr Demontage als Montage statt.

 

Wolf Banitzki

 


Der Kaufmann von Venedig   

von William Shakespeare

Hassan Akkouch, Niels Bormann, Walter Hess, Jelena Kuljić, Julia Riedler, Thomas Schmauser

Regie: Nicolas Stemann

Kammerspiele Hoppla, wir sterben! von Arnon Grünberg


 

 

Von Deutschen und Pazifisten

Oberstleutnant Fuchs ist verschwunden! Es breitet sich unter den Betroffenen und Involvierten der Verdacht aus, Fuchs sei in den unwirtlichen Weiten Afghanistans verloren gegangen, weil er sich zu sehr „mit der Seele des Feindes identifiziert hat“. Die üblichen und dienstvorschriftlichen Maßnahmen werden eingeleitet. Ein Krisenteam nebst Betreuungspsychologen bricht in die Welt der Familie Fuchs ein und sucht nach Antworten, professionell und gleichsam verunsichert, denn schließlich ist man, was Kriege anbelangt, ein wenig aus der Übung. Frau Fuchs rekapituliert das Weltbild ihres Mannes, der durchaus bereit ist, sein Leben für das Vaterland zu opfern. „Wer Frieden will, muss den Krieg vorbereiten!“ (Qui desiderat pacem, praeparet bellum). Das schrieb ein gewisser Flavius Vegetius Renatus (um 400) in ein Handbuch der Militärwissenschaft, das der Wiederherstellung der Schlagkraft der römischen Armee dienen sollte. 1600 Jahre Kriege und nichts dazu gelernt, soviel ist sicher. Da macht die deutsche Demokratie keine Ausnahme. Zudem ist, folgt man der römischen Logik, der Soldat der wahre Pazifist. Er, des Schießens kundig, hat es in der Hand, nicht zu schießen und auf kriegerische Weise Frieden zu schaffen. Das ist zwar historisch betrachtet völliger Blödsinn, aber ungeachtet dessen Staatsdoktrin, seit unsere Freiheit am Hindukusch verteidigt wird.

Der niederländische Autor Arnon Grünberg entwarf in seiner Auftragsarbeit für die Münchner Kammerspiele „Hoppla, wir sterben!“ ein episch breites Bild von der deutschen Gesellschaft, ohne sich einer stringenten Handlung und konkreter Personen zu bedienen. Sämtliche Figuren, von der des Afghanen Zmarak und des syrischen Scheichs Hamad einmal abgesehen, waren in hohem Grad abstrakt, plakativ und somit repräsentativ für bestimmte wahrnehmbare Anschauungen. Der Diskrete betätigte sich als Fremdenführer und verkaufte die echten Werte Münchens und Umgebung (wozu auch Salzburg gehört), die da sind: Berge, Regen, McDonald´s und Sicherheit. Er empfiehlt entsprechende Ärzte, denn die meisten Araber kommen, um ihre Impotenz behandeln zu lassen. Oder Der Diskrete bespaßt die Frauen der Scheichs. Da auch er impotent ist, funktioniert das gut. Er hat aber auch eine Moral und bremst die verschleierten Araberinnen auch schon mal aus, wenn sie über Gebühr ins Schwärmen geraten über den „Führer“.

Nicht fehlen dürfen die betroffenen Bürger, durchideologisiert und frei von brauchbaren Ideen, die Welt richtig zu interpretieren. Auf der großen Spielwiese der Ratlosigkeit tummeln sich Politiker, unter ihnen auch eine kabaretttaugliche Bundekanzlerin, Psychologen und Berater, von denen der „Interkulturelle“ die Speerspitze der Geschwätzigkeit darstellt. Die Krise ist allgegenwärtig; es gilt, sie zu verwalten. Dabei bleibt nicht verborgen, dass diese Krise auch eine Geschäftsidee sein könnte. Sie kann aber auch sinnstiftend sein, wie der Beinlose herausgefunden hat. Er verlor seine Beine in Afghanistan bei der Verteidigung seiner Kameraden auf einem Feld. Mit seiner Beinlosigkeit hat er einen neuen Status errungen. Er ist das Opfer und als solches, kann er auch der Tröster sein. So tröstet er Frau Fuchs und, wenn er schon dabei ist, auch gleich deren beide Töchter Sophie und Jana. Sophie stellt in ihrer sexuellen Hingabe fest, dass dem Beinlosen im Rausch der Vereinigung die Beine wieder wachsen. Alles sprießt in alle Richtungen, Gefühle, Meinungen, Sehnsüchte. Unruhe hat die Gesellschaft befallen. Niemand hat mehr festen Boden unter den Füßen.

Und so ließ sich Johan Simons von Katrin Brack ein Bühnenbild schaffen, dass dieser brennenden Unruhe Ausdruck verlieh. Auf der Bühnenmitte lodert ein gewaltiges Feuer. Rundherum ein paar Baumstämme, die als Sitzgelegenheiten dienten. Es gab nichts Urbanes mehr. Und so konnte das Feuer das letzte bedeuten, mit dem sich die Zivilisation verabschiedet oder das erste, an dem man sich sammelte, um wieder eine rettende Idee zu entwickeln. Letzteres war angesichts des Textes ungewiss und unwahrscheinlich. Die Kostüme von Teresa Vergho deuteten lediglich an oder verzichteten auf Kostümierung. Ebenso nüchtern und pragmatisch präsentierten die Darsteller ihren Text, der behauptete, beschrieb, verschleierte, ins Nichts ging oder süffisant Entsetzliches offenbarte.

Neues gab es nicht und die Botschaft richtete sich an ein Publikum, das ohnehin Bescheid weiß. Begleitet von einem Kammerorchester, offenbarten sich die Charaktere, die, wie bereits erwähnt, gesellschaftliche Typen vorstellten. Das tat dem Genuss, großartige Darsteller in bestem Ensembletheater zu erleben, keinen Abbruch. André Jung propagierte als Der Diskrete, der Hamads Fremdenführer mimte, geistige Eleganz a la Bayern. Jeff Wilbusch, mit Arabertuch gewandet, ließ spitz wissen und spüren, dass Geld keine Überzeugung sei und dass es den Deutschen an solchen mangele. Benny Claessens Interkultureller Berater wirkte, als wäre er gerade einem Club aus Drüberstehern entsprungen und Hans Kremer verlor als Zmarak schon mal die Übersicht über seine vermeintlichen und zugesprochenen Identitäten. Annette Paulmanns hingebungsvoll liebende und leidende Ehefrau von Oberstleutnant Fuchs war fleischgwordene Mutterschaft; als Kanzlerin Merkel indes drohte sie mit kabarettistischen Anklängen das Theater zu sprengen. Anna Drexler und Marie Jung gaben als Betroffene Bürger und als Schwestern Sophie und Jana die Hanni und Nanni deutscher Befindlichkeit. Wolfgang Preglers mopsfideler Tröster mit Beinprothesen schürte sexuelle Aufgeregtheit und nebenher schuf er auch einen neuen Heldentypus. Opferbonus können auch Täter haben.

Verhandelt wurde viel, vielleicht ein wenig zu viel Politik. Ein wirklicher Erkenntnisgewinn war dabei nicht zu verzeichnen. Der Abend, der ein bitteres Thema zum Inhalt hatte, ging sowohl dank der Regie wie auch dank der Leistung der Darsteller recht leichtfüßig über die Bühne und unterhielt. Allein, Antworten gab er nicht und damit erinnerte er ein wenig an die bemühten Talkshows, in denen eines nicht passiert: Antworten auf drängende Fragen. Hier blieb es vornehmlich dabei, dass Arnon Grünberg seine Sicht auf die Welt – oder besser auf die deutsche Gesellschaft - schilderte. Seine berechtigte Beunruhigung ist auch unsere und schön wäre es, wenn wieder einmal jemand ein paar (möglichst provokante und radikale) Lösungsvorschläge machen würde, wenn er denn schon politisches Tagesgeschäft auf die Bühne bringt.

 

Wolf Banitzki

 

 


Hoppla, wir sterben!

von Arnon Grünberg

Mit: Benny Claessens, Anna Drexler, Marie Jung, André Jung, Hans Kremer, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, Jeff Wilbusch

Musiker: Stefan Schreiber / Ulrich Wangenheim, Joerg Widmoser / Gertrud Schilde, Andreas Höricht, Klaus Kämper / Jost-H. Hecker / Philipp von Morgen

Regie: Johan Simons

Kammerspiele Jagdszenen aus Niederbayern von Martin Sperr


 

 

Und ewig erschallt das Halali

1948. Der homosexuelle Abram kehrt aus dem Gefängnis heim in das mütterliche Haus. Sie, die allein irgendwie überleben muss, hat sich dem Druck der Dorfgemeinschaft längst gebeugt und mit dem Jungen gebrochen. Ihr wäre es lieber, wenn er seine Sachen packen und verschwinden würde. Doch Maria, deren Mann im Krieg verschollen ist und die mit dem verkrüppelten Knecht Volker zusammenlebt, was ihr naturgemäß bösartige Anfeindungen des Dorfes beschert, gibt Abram Arbeit. Marias geistig behinderter Sohn Rovo findet in Abram den einzigen Menschen, der ihn nicht hänselt oder verspottet. Abram geht, um seine sexuelle Neigung vor den Dörflern zu kaschieren, eine Beziehung mit Tonka ein, die schwanger wird. Als Abram und Rovo in intimer Zweisamkeit ertappt werden, bricht sich die Aggression der Dörfler Bahn. Als Tonka Abram mit ihrer Schwangerschaft erpresst und ihn schließlich verhöhnt, da er mit ihr nicht leben kann, ersticht er sie wutentbrannt. Maria erhält die langersehnte Nachricht, dass ihr verschollener Mann endlich für tot erklärt wurde. Rovo erhängt sich, um seiner Einsamkeit, den Augen seiner Mutter, die ihm Angst machen, und einer Einweisung in eine Anstalt zu entfliehen. Das Dorf bläst zum Halali auf „die schwule Sau“. 2500 Mark sind als Finderlohn ausgelobt. Man hat Übung beim Jagen und stellt das „Wild“. Im Stück wird Abram der Polizei übergeben; in Martin Kušejs Inszenierung schießt man ihn nieder wie ein wildes Tier.

Martin Sperr hat eine Geschichte geschrieben, die ein Anfang und ein Ende hat. Im Dorf ist jeder irgendwie mit jedem verbandelt und die unterschiedlichsten Abhängigkeiten regeln den Umgang miteinander. Das Erscheinen Abrams löst einen Konflikt aus und seine Gefangennahme oder sein Tod ist die logische Antwort darauf. Die Aktualität der Geschichte zu hinterfragen, wäre müßig. Mögen sich die äußeren Umstande auch gewandelt haben, die Psyche der Menschen hat sich, wenn überhaupt, nur geringfügig weiterentwickelt und in Zeiten von Krieg, Flucht und Vertreibung, wie wir sie unbestritten haben, bricht alles Negative, angetrieben von Ängsten und Unsicherheiten, aber auch von Pervertiertheit, die lange unter der Decke gehalten werden konnte, hervor wie Eiter aus einer schwärenden Wunde.

Doch diese Erkenntnis allein genügte Martin Kušej nicht und so vollführte er einen radikalen Schritt in seiner Inszenierung. Er erzählte nicht die Antwort auf die Verhältnisse, wie bei Sperr geschrieben, sondern er stellte die Frage nach den Zuständen und nach den Weg, die zu dieser Antwort führten. Er spielt das Stück vom Ende zum Anfang. Dieser radikale Perspektivwechsel schaffte eine extrem gesteigerte Aufmerksamkeit und Konzentration. Es erinnerte an eine Methode des Korrekturlesens, um die Orthografie zu überprüfen. Rückwärts gelesen konzentriert sich der Leser auf jedes einzelne Wort und er wird nicht vom Wissen um das, was kommt, über die Fehler hinweg getragen, ohne sie zu bemerken.

Annette Murschetzs Bühne bestand aus drei Wände, einer hölzernen, einer aus Beton und einer, die mit Bahnen aus Teerpappe verkleidet war. T-förmig aneinandergefügt ergaben sie drei Räume. Kargheit charakterisierte das Bühnenbild und von äußerster Kargheit war auch das Spiel. Der jeweilige Wochentag wurde eingesprochen. So verstanden auch die Zuschauer, denen das Geschehen nicht bekannt war, schnell, dass die Geschichte zeitlich rückwärts passierte. Im ersten Bild stürzte Abram, von einer bis zum Zerreißen intensiv gestaltenden Katja Bürkle gespielt, auf die Bühne und wurde von einem harten, erbarmungslosen Licht an die hölzerne Wand genagelt. Dann bellten die Gewehre und es zerriss Abram die Brust. In der nächsten Szene lauerten die versammelten, bewaffneten Dorfbewohner, einschließlich Abrams Mutter Barbara, auf den Flüchtigen. Nur von oben mit kaltem, hartem Licht beleuchtet (Jürgen Kolb), bleiben die Gestalten schattenhaft, wie in einem Schwarz-Weiß-Comic. Es wurde wenig und sehr langsam gesprochen. Die Bedrohlichkeit wurde in den Szenen durch die grollende Geräuschkulisse von Bert Wrede gesteigert und physisch spürbar. Die  Konstellation des zweiten Bildes wiederholte sich am Ende. Jetzt war das Dorf im Sonntagsstaat wie zu einem Gruppenfoto vor der hölzernen Wand aufmarschiert, von hellem Licht gerahmt. Der Anfang des mörderischen Geschichte bekam zögerlich, während Rovo eine Katze quälte, einen Namen: Abram, Inbegriff des „Abartigen“, des „Unnatürlichen“.

In der sehr beherzt eingestrichenen Fassung war alles eliminiert, was folkloristische Heimeligkeiten beschwören, aber auch alles, was den Topos Niederbayern definieren könnte. Heraus kam eine zeitlose, unverortete, holzschnittartige Chronik, die auf ihr Wesen, nämlich das des Menschen in geistiger, moralischer und gesellschaftlicher Not, reduziert war. Sämtliche Darsteller agierten physisch zurückgenommen, aber mit äußerster Intensität. Hans Kremers humpelnder Volker war sowohl seelisch wie körperlich verkrüppelt. Immerhin litt er auch sichtbar darunter, ebenso wie Gundi Ellert als Barbara. Es tobte ein heftiger innerer Kampf in ihr, denn immerhin hatte sie um ihr eigenes Wohl willen den Sohn zu verleugnen und zu verdammen. Michael Tregors Knocherl war von stählerner Härte, von einer unbeugsamen Bösartigkeit. Anna Drexlers Tonka, die ihren Körper feilbot, wenn es ihr gefiel, hatte den notwendigen Pragmatismus zum Überleben verinnerlicht. Liebenswert war sie nicht in ihrer dümmlich dreisten Art. Ganz anders Jeff Wilbuschs Dorfdepp Rovo, der keine Chance in der eisigen Kälte des Dorfklimas hatte. Er war eine ebenso tragische Figur wie Abram.

Es war der Minimalismus, der in jeder Hinsicht herrschte, der eine große Emotionalität freisetzte, in der man als Zuschauer allerdings nicht ertrank. Es war ein hartes, erbarmungsloses, aber aufrichtiges und wahrhaftiges Stück Theater, dessen Bilder man so schnell nicht aus dem Kopf bekommt. Was will man mehr! Und gewiss ist: Das Halali geht weiter.

Wolf Banitzki

 


Jagdszenen aus Niederbayern

von Martin Sperr

Katja Bürkle, Silja Bächli, Anna Drexler, Gundi Ellert, Pauline Fusban, Hans Kremer, Cristin König, Christian Löber, Anna Maria Sturm, Michael Tregor, Jeff Wilbusch

Regie: Martin Kušej

Kammerspiele Camino Real von Tennessee Williams


 

 

Düster-poetische Reise durch menschliche Innenwelten

Es ist kein Ort, den man auf irgendeiner Karte finden könnte und ebenso unreal sind die Namen der Straßen und Plätze. Der Camino Real existiert in einer Welt, in der die Verzweiflung Zahlungsmittel ist und der ein Pfad in die Dantesche Topografie der letzten Atemzüge sein könnte. Bevölkert wird diese Vision von imaginären, aber auch von historisch verbrieften Personen wie Giacomo Casanova oder Lord Byron. Diese Figuren wandeln zwischen literarischen Helden wie Baron de Chalus von Marcel Proust oder Marguerite Gautier, die Kameliendame aus dem Roman von A. Duma jun. Auch Don Quijote ist Gefangener dieser Welt, in der sie allesamt zwischen Luxus-Hotels, Billigabsteigen, Kneipen und Bordellen umher taumeln, einen Ausweg suchend oder vor diesem fliehend, weil das was sie verlieren könnten immer noch kostbarer ist als das Nichts, das sie möglicherweise erwartet. Casanova beispielsweise wagt nicht, einen Brief zu öffnen. Er schreckt vor den Konsequenzen zurück. Eine könnte sein, nicht mehr an der Seite der Kameliendame wandeln zu dürfen, deren Brunnen längst ausgetrocknet ist und die nurmehr weiße Kamelien trägt.

Diese Welt wird regiert von den eingebrannten Ängsten, die sie aus dem Leben mitgeschleppt haben zu diesem Ort an der Schwelle zu den Terra incognita und die nun ein rüdes Regiment führen. In Person des Straßenfegers wandeln diese Ängste pfeifend über den Camino Real, die Kadaver einzusammeln und zu entsorgen oder weiter zu verhökern. Nur einer hat die Größe, zu widerstehen: der Boxchampion Kilroy. Ihm ist es sogar noch einmal vergönnt, ein Weib zu umarmen, eine Hure und Jungfrau zugleich, denn in diesem Land vermögen mondhelle Nächte die Jungfernschaft wieder herzustellen, was dem Kuppeleigeschäft sehr zuträglich ist. Dann bricht sein krankes Herz, doch Kilroy ist ungeschlagen geblieben. In Tennessee Williams Drama wird ihm das kindskopfgroße, aus reinem Gold bestehende Herz aus dem Leib geschnitten und für Esmeralda verpfändet, für die Hure, die er Aufrichtigkeit gelehrt hat und die nun wieder liebt: „Lasst etwas sein, das des Wort Ehre wieder bedeutet.“

Das Stück ist ein düster-poetischer Taumel über sechszehn Stationen, an dessen Ende ein Held steht, der Hoffnung macht: Kilroy. „Kilroy was here!“ schrieben die Soldaten an die Abtrittswände dieser Welt. Kilroy war der Mann, der den Mut hatte, das verbotene Wort „Bruder“ auszusprechen. Er nennt Casanova „Bruder“ und bringt so wieder Hoffnung auf den Camino Real.

Das von Elia Kazan im März 1953 in New York uraufgeführte Stück fiel bei den Kritikern durch, wurde aber vom Publikum begeistert aufgenommen. Es ist ein Stück, das mit der emotionalen Intelligenz entschlüsselt werden muss und das sich unmöglich auf eine simple rationale Formel bringen lässt. Es ist ein Drama, das ausschließlich in Innenwelten spielt und diese unterliegen nicht der natürlichen Schwerkraft der äußeren Natur. So wird auch nur der verstehen, der bereit ist, geschehen zu lassen, was die Bilder, die Bewegungen, die Worte, das Licht und die Klänge auslösen.

Sebastian Nübeling ist es in seiner Inszenierung an den Münchner Kammerspielen jedenfalls gelungen, diese Welten sicht- und spürbar zu machen. In ihnen finden sich alle (realen) Probleme, mehr oder weniger deutlich ausformuliert, aber unübersehbar, wieder. Allein, der literarische Kontext ist ein anderer, ein ungewohnter. Es ist gleichsam ein Stück über die Unzulänglichkeit des Menschen, sich gegen die Welt im realen Leben zu behaupten, sich vom gesellschaftlichen Leben zu emanzipieren. Ein grundsätzliches Paradoxon des Lebens wird deutlich: Letztlich nimmt der Mensch doch alles, was ihn quält und ihn peinigt in sich auf und mit sich fort, als könnte er ohne Leid nicht leben.

Jochen Noch gab den Führer bei der Reise über den Camino Real, der sowohl der „königliche“ wie auch der „Weg der Wirklichkeit“ bedeutete. Schwungvoll in den Hüften, tänzelte er, das Megafon in der Hand, von Station zu Station. Dabei wurde die Schar der Reisenden, die verzweifelt an ihrem wenigen irdischen Besitz klebten, hier nur leere, raschelnde Plastiktaschen, immer dünner. Tim Erny war der emotional robuste, kräftige und erbarmungslose Straßenfeger, der ohne jegliches Gefühl entsorgte, was auf der Strecke blieb. Der Camino Real hatte nur ein Bild (Bühne und Kostüme: Eva-Maria Bauer). An der Bühnenrückwand saßen zwei riesige bonbonfarbige Plüschteddys, die das Geschehen mit den Augen verfolgten, als seien sie lebendig. Davor musste jeweils ein Darsteller den „dummen August“ geben, ebenfalls in ein lächerliches und erniedrigendes Hasenkostüm gewandet. Aufgabe war es, mit der linken Hand unentwegt zu winken, wie es die glänzenden chinesischen Katzen tun, die es in vielen Asiashops zu kaufen gibt und die Glück verheißen sollen. Als erster musste sich Michael Tregor (Don Quijote / Der Überlebende / Lord Byron) in diese Rolle fügen. Er verdurstet oder verhungert. Sein Nachfolger war kein geringerer als Kilroy, der Boxchampion, der mit seinen goldenen (blauen) Boxhandschuhen verwachsen zu sein schien. Erst im Augenblick des Todes streifte er sie ab.

Regisseur Sebastian Nübling hatte sie Inszenierung penibel durchchoreografiert und rhythmisiert. Immer wieder, wenn es aufging zur nächsten Station, wuselten die Reisenden, in der Gruppe gefangen und gehetzt, als könnten sie die eigene Erlösung versäumen, durch den Raum. Sie ließen von ihrer Habe ab, um sie im nächsten Moment wieder zusammenzuraffen. Choreografin Alice Gartenschläger spielte an der Seite von Stefan Merki das Ehepaar Lady und Lord Mulligan. Die Choreografien spiegelten die Ohnmacht und ihre Verzweiflung, ihre Ängste und die daraus resultierende Aggressivität wider. Wiebke Puls` Marguerite Gautier war eine verblühte Schönheit, die ihren Begleiter Casanova (Oliver Mallison) anzog und abstieß, je nach Gefühlslage, um ihn dann mit dem erstbesten Matrosen zum „König der Hahnreis“ zu machen. Sie gewann dabei nichts; sie büßte nur ihr Portemonnaie ein. Dominiert wurde das Spiel von der aggressiv singenden und den Raum agil vermessenden Sandra Hüller als La Madrecita / Esmeralda und dem fragilen Risto Kubar als Kilroy. Beide schufen vielschichtige Figuren von faszinierender Körperlichkeit.

Dass sämtliche Darsteller zu großer Form aufliefen, war der in sich wunderbar geschlossenen, intelligenten Regie geschuldet, die den Abend zu einem großartigen poetischen Theaterereignis gerinnen ließ. Sebastian Nübling hatte mehrere Figuren auf einzelne Darsteller zusammengelegt, was dem magischen Zauber des Stücks jedoch keinen Abbruch tat. „Camino Real“ von Tennessee Williams, ein vermeintlich schwer spielbares und darum wohl auch ein Stück, das in den Spielplänen eher rar vertreten ist, wurde unter der Spielleitung von Sebastian Nübling zu einer echten Sternstunde für die Kammerspiele.

 

Wolf Banitzki

 


Camino Real

von Tennessee Williams

Tim Erny, Alice Gartenschläger, Sandra Hüller, Risto Kübar, Oliver Mallison, Stefan Merki, Jochen Noch, Wiebke Puls, Çiğdem Teke, Michael Tregor

Regie: Sebastian Nübling

Kammerspiele Ekzem Homo von Gerhard Polt


 

 

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Wenn man das bayerische Wort „Krattler“ erklären möchte, reicht es eigentlich, den Namen Gerhard Polt zu nennen. Polt ist Fleisch gewordene Krattler-Kunst. Es gibt ihn heuer wieder zu sehen und mit ihm die Well-Brüder, die ja bekanntlich bereits ihren Rücktritt von den „Brettern“ erklärt hatten. Aber wer glaubt schon an Rücktritte? Schon die Ankündigung der Neuauflage von „Gerhard Polt und den Well-Brüdern aus'm Biermoos“ sorgte für einen regelrechten Run auf die Kassen der Münchner Kammerspiele. Das hat Tradition, denn Otto Falckenberg sah sich bereits im Jahr 1922 wegen klammer Kassen, nachdem Brechts Erstling „Trommeln in der Nacht“ den Zuschauerraum leergefegt hatte, gezwungen, in die Niederungen der „Volkskunst“ hinabzusteigen, Karl Valentin und Liesl Karlstadt bewahrten das Haus vor einer Abschaltung vom Stromnetz wegen unbezahlter Rechnungen.

Man kann wohl getrost davon ausgehen, dass der Auftritt der Dame Funke Konate (die/das Fremde verkörpernd), der Well-Brüder, Stefan Merkis und Gerhard Polts nicht der finanziellen Situation der Münchner Kammerspiele geschuldet war, sondern vielmehr dem Bemühen Johan Simons, selbst exotischste Kulturen, in unzugänglichen Biotopen erblüht,  zusammen und auf die Bühne zu bringen, um mit deren Weisheit die letzten Welträtsel zu lösen. Eines ist naturgemäß der Mensch an sich. Der ist, wie Polt ohne jeden Zweifel zu postulieren weiß, gut, aber die Leute sind halt…

Das liegt vermutlich daran, dass der Mensch eigentlich nur ein „Zwischenwirt“ ist und darum unvollkommen. In ihm nisten sich „Parasiten, … Bazillen, … Waffenhändler, Religionen und Fußpilze“ ein. „Vor allem aber ist er ein Kostenfaktor.“ Der Mensch ist ein Problemfall, dessen Unzulänglichkeiten schnell ausgemacht sind: Er eignet sich nicht als „Nachbar“, denn als solcher, kommuniziert er erst einmal, wird er ganz schnell und unvermittelt auch schon mal zum Mörder. Ebenso wenig ist er ein guter Steuerzahler; die Neigung zum Hinterziehen scheint im Wesen des Menschen verankert zu sein. Schließlich ist jede nichtgeleistete Überstunde schon eine Steuerhinterziehung. Ob Uli Hoeneß, wenn er den Namen Sepp Blatter hört, tatsächlich denkt: „Die Kleinen sperrt man ein, die Großen lässt man laufen“? Möglich wär´s wohl.

Zudem scheitern auch und insbesondere die wertvollsten unserer Mitbürger in ihrem Bestreben, der Welt ein menschliches Antlitz zu verleihen, unweigerlich, wie Polt am Dom Pérignon schlürfenden Landrat schlüssig bewies. Wir müssen irgendwann einmal einsehen, dass diese Menschen, also unsere Politiker, sich für uns geradezu aufreiben und wir dies in unserer Ignoranz nicht zu würdigen wissen. Ach, übrigens, wer sind „Wir“? Es macht schon nachdenklich, wenn man erkennen muss, dass Ich nicht Wir bin.

Neben Transzendentalem gab es indes auch handfeste Bildungsinhalte, vermittelt in einer „Brandschutzschulung“, beispielsweise wenn die Frage beantwortet wird, warum für eine Hexenverbrennung trockenes Holz verwendet werden sollte: Nicht trockenes Holz führt zu starker Rauchentwicklung und behindert die Sicht auf die verbrennende Hexe. Das leuchtet ein, oder? Gerhard Polt argumentiert nicht, er erklärt  sich selbst. Und warum auch nicht, wir können doch alle voneinander lernen. Schon wieder dieses Wir! Das pathetischen „Ecce Homo!“ wich an diesem Abend (3. Vorstellung), nach Polts eigenwillig schrägen Analysen, der nüchternen Einsicht: „Ekzem Homo!“

Regisseur dieser kabarettistischen Revue, die durch die musikalischen Einlagen der Well-Brüder (in bekannter Manier) wie eine Perlenkette verknüpft und zusammengehalten wurde, die darüber hinaus durchaus eigenständigen Kabarettnummern darstellten, war Johan Simons. Es heißt, eine gute Regie ist die, die man nicht wahrnimmt. Sollte dies Vorsatz gewesen sein, hat es bestens funktioniert. In dem von Laubenpiepercharme geprägten Bühnenbild von Sina Barbra Gentsch waren alle Darsteller Nachbarn. Sie traten in ihre Vorgärten hinaus und lamentierten, stritten, philosophierten oder spielten sogar Theater, denn Polt hatte das Publikum wissen lassen, dass der Nachbar Merki ein professioneller Schauspieler sei. Kein sonderlich erfolgreicher, denn in „Dahoam is dahoam“ ward er nie gesehen. Doch immerhin konnte der sich ein eigenes Haus leisten. Das war früher auch mal anders. Da sind die Schauspieler, fast möchte man meinen - wie es sich gehört, an Hunger verreckt.

Und so mäanderte der Geist des Abends über zweieinhalb Stunden (eine Pause) durch das Tal der Ahnungslosigkeit. Erklärend konstatiert Polt: „Ich red halt auch oft nur so dahin und hoffe, dass ein Gedankengang Schritt hält. Und wenn nicht, hat er halt Pech gehabt, der Gedanke.“

Polts Witz ist angesiedelt zwischen Banalphrase, Unaussprechlichkeit und existenzialistischer Absurdität. Er ist ebenso ein Kind Karl Valentins wie Samuel Becketts. Die Höhen und auch die Tiefen, in die er radikal und tabulos vordringt, machen ihn zu einem ganz besonderen Künstler und den Abend mit ihm zu einem Ereignis. So geschehen an den Münchner Kammerspielen. Das Publikum, es war augenscheinlich nicht unbedingt das angestammte, feierte ihn wie einen Propheten. Die Frage, von Christoph Well im Vorfeld der Inszenierung gestellt: „Da bin ich jetzt schon gespannt, wie der Johan (Simons) einen Jodler inszeniert“, wird übrigens auch beantwortet.

 

Wolf Banitzki

 


Ekzem Homo

von Gerhard Polt

Funke Konate, Stefan Merki, Gerhard Polt, Karli Well, Michael Well, Christoph Well

Regie: Johan Simons