Marstall  Ur  von Sulayman Al Bassam


 

Weltendämmerung

Es ist eine Geschichte, die einen Zeitraum von gut 4000 Jahren umreißt. Kern des dramatischen Entwurfs des kuwaitischen Autors und Regisseurs Sulayman Al Bassam ist die „Klage über die Zerstörung der Stadt Ur“. Diese „Klage“ entstammt einer literarischen Tradition, die in Mesopotamien ein ganzes Genre bildete. Es gibt eine Vielzahl derartiger Klagelieder über die Zerstörung von Städten des Altertums. Der konkrete historische Hintergrund reicht bis in die Zeit um 2000 v. Ch. zurück, als die 3. Dynastie der Herrscher von Ur, eine blühende Metropole im Osten des „fruchtbaren Halbmondes“, unterging und die Stadt dem Erdboden gleich gemacht wurde. Göttertochter und Herrscherin Nin-Gal, sehr weiblich bis lasziv von Lara Ailo gespielt, liebte einen feindlichen Elamiten namens Elam, Tim Werths verlieh der Figur antike Schönheit und machte die hingebungsvolle und sehr sinnliche Liebe, durchaus geeignet für einen Mythos, glaubhaft. Nin-Gal beauftragte ihre Schreiber, sie hatte die Soldaten allesamt durch Schreiber ersetzt, Gedichte auf diese Liebe zu machen, in denen vor allem die Erotik nicht zu kurz kommen sollte.

Als Ur von Feinden bedrängt wurde, ließ Nin-Gal die Tore der Stadt öffnen und Freunde wie Feinde ein. Sie baute auf die Kraft des Wortes, auf die Poesie, um die Aggression zu stoppen. Es waren ihr eigener Ehemann Nanna, Gott des Mondes, und ihr Vater Enlil, Gott des Windes, die ihr in den Rücken fielen. Mohamad al Rashi spielte ersteren als engherzigen und eifersüchtigen Ehemann, den anderen als herrschsüchtigen Patriarchen. Mit der Begründung, eine Schutzmacht aufzubauen, belagerten sie Ur. Doch Nin-Gal ließ sich nicht einschüchtern und bot beiden die Stirn. Als die Männer erkennen mussten, dass diese Frau sich ihrem Willen und dem patriarchalen Regime nicht beugen würde, war der Untergang der Stadt besiegelt. Alles Flehen der Königin half nicht: „Wahrlich, ich vergoss meine Tränen vor An.“ Wahrlich, ich selbst flehte Enlil an. „Lasst meine Stadt nicht zerstört werden“, flehte ich sie an.“Lasst Urim nicht vernichtet werden“, flehte ich sie an. Ich flehte sie an, aber An änderte das Wort nicht. Enlil beruhigte mein Herz nicht mit einem „Es ist gut – so sei es“. (Originaltext aus dem Klagelied, 144-150)

Eine zweite Ebene des Stückes spielte im Jahr 1903. Deutsche Archäologen unter der Leitung des Begründers der „Deutschen Orient-Gesellschaft“ Friedrich Delitzsch, gruben das antike Babylon aus. Delitzsch stand unter dem Patronat des deutschen Kaisers und er hatte ein ganz eigenes Motiv für seine Forschungen. Der verkappte Antisemit Delitzsch, Gunther Eckes in schneidiger Herrenmenschenpose, wollte den Nachweis erbringen, dass Jesus arischer Abstammung war und somit die christliche Religion den Juden entreißen, in dem er die babylonische Kultur direkt in das „Neue Testament“ aufgehen lässt. Die sumerischen Klagelieder finden in den alttestamentarischen Klageliedern des Jeremias deutliche Entsprechungen. Zudem war „Ur in Chaldäa“ (Genesis 11:28) das Vaterland Abrahams, das er mit seiner Familie verließ, um in jenes Land auszuwandern, welches Gott ihnen wies. (1. Buch Mose 11:31, 12:1) Delitzsch war besessen von dieser Idee, trieb die Archäologen an und forderte unentwegt Beweise für seine krude Theorie. Die Archäologen Robert Koldewey, ruhig und überlegt gegeben von Bijan Zamani, und Walter Andrae (Tim Werths) gerieten in einen heftigen Diskurs, der den Sinn ihrer Arbeit infrage stellte. Andrae erwog, die voraussichtlichen Funde lieber zu zerstören, als sie Delitzschs Fantasien auszuliefern.

  Ur  
 

Lara Ailo, Tim Werths, Dalia Naous

© Thomas Dashuber

 

Die dritte Ebene spielte im jetzt und heute, in der IS-Terroristen die Ausgrabungen, wie in Palmyra geschehen, zerstörten und ihre Wächter, die wissenschaftlichen Sachwalter auf grausame Weise ermordeten. Die Wahnvorstellung der Islamisten, die Welt mit einer einzigen Religion zu überziehen und sie somit zu einem Paradies zu machen, endet wieder in der Zerstörung von Städten und Stätten der Geschichte, die sogar Quellen des Islam waren. „Oh Stadt, deine Riten wurden dir entfremdet, deine Kräfte wurden in fremde Mächte verwandelt.“ (Originaltext aus dem Klagelied, 64-71) In Sulayman Al Bassams Inszenierung blieb der Palast Nin-Gals oder auch der Palast von Babylon – im schlichten, aber monumental steinern aufragenden Bühnenbild von Eric Soyer wurden beide Ort in einem Bild realisiert – verschont, weil der Sprengstoff nicht zündete. So komisch kann Geschichte auch sein.

Die vierte Ebene schließlich spielte im wieder aufgebauten Mossul im Jahr 2035. In einem sehr noblen Appartement artikulierte eine Frau ihrem Ehemann gegenüber ihr Unbehagen im Angesicht einer antiken Büste. Es war eine stark fragmentierte Skulptur Nin-Gals. Der Mann weigerte sich, diese Büste zu entfernen, denn er hatte dafür viel Geld auf dem Schwarzmarkt bezahlt. Die Frau stellte verängstigt fest, dass die Figur der Nin-Gal „nicht frei“ sei, und gestand ihrem Mann im selben Atemzug eine Schwangerschaft. Der Mann orakelte nach einer kurzen Pause des Besinnens, als suchte ihn eine unausweichliche Wahrheit heim: „They’ll kill us both“. Ein Museumskurator sang: „Nin-Gal is not dead, Nin-Gal cannot die,…“

Es war ein große Geschichte, nicht nur in Bezug auf den Umfang und die Vielzahl der angesprochenen Themen, die Sulayman Al Bassam auf der kleinen Bühne des Marstalls in Arabisch, Englisch und Deutsch von wunderbaren, zum Teil in für deutsche Theaterbesucher exotischer ästhetischer Sprache erzählen ließ. Unter dem Dach des großen zeitlichen Bogens agierte der Mensch immer wieder auf die gleiche zerstörerische Weise unter Benutzung derselben hanebüchenen Begründungen in gegensätzlichsten Konstellationen. Man konnte meinen, dass der Mensch darin wetteifere, immer noch dümmere Argumente zu finden für noch exzessivere Zerstörungen. Lichtgestalten wie Nin-Gal, mythische Verkörperungen der Liebe und Poesie, scheinen ausschließlich prädestiniert zu sein für die Opferrolle. Und an dieser Stelle muss angemerkt werden, dass es sich um historische Begebenheiten handelte, denn wir haben Kunde davon. So klingt die Klage einer Person, der Poesie mächtig, die vor 4000 Jahren sprach: „ Möge dieser Sturm, wie Regen vom Himmel herab, nie wiederkehren. Möge dieser Sturm, der alle schwarzköpfigen Lebewesen von Himmel und Erde erschlagen hat, vollkommen zerstört sein. Möge die Tür geschlossen sein, wie das große Stadttor zur Nachtzeit. Möge dieser Sturm keinen Platz in der Rechnung haben, möge seine Aufzeichnung an einen Nagel außerhalb des Hauses von Enlil gehängt werden.“ (Originaltext aus dem Klagelied, 411-416.)

Im Marstall endete die ästhetisch beeindruckende und inhaltlich bedrückende Inszenierung damit, dass IS-Terroristen die Lunte entzündeten. Sie brannte von beiden Seiten und damit doppelt so schnell, was auch eine beängstigende deutliche Botschaft war. Sie, die Terroristen hatten das letzte Wort. Damit artikulierten Sulayman Al Bassam und seine Mitstreiter eine sehr eindringliche Mahnung. Gemeint war damit nicht die kleinmütige Angst vor dem „Fremden“, quantitativ im täglichen Leben übrigens kaum messbar und darum mehr im Kopf existent, die uns in die Aggression treibt, sondern die Tatsache, dass wir seit Tausenden von Jahren nicht begreifen, dass uns fast ausschließlich Angst immer schneller und zerstörerischer durch eine Gewaltspirale treibt, als wäre es unser Schicksal.

Schicksal ist eine Erfindung von Kleingeistern und Demagogen! Folgte man der Vorstellung Nin-Gals und ersetzte man Gewalt durch Liebe und Hasstiraden durch Poesie, würde es ganz sicher anders aussehen. Es ist, als wolle sich der Mensch tagtäglich aufs Neue beweisen, dass das Gute ans Kreuz genagelt gehört. Merken Sie was, verehrte Leser? Weltuntergangsstimmung macht sich breit und wir beginnen sie zu genießen. Bleibt zu hoffen, dass wir dieser Stimmung bald überdrüssig werden, denn auf Dauer ist der Weltuntergang, insbesondere wenn er nicht eintritt, womit ja durchaus auch zu rechnen ist, nicht sonderlich unterhaltsam.

 

Wolf Banitzki


UA Ur
von Sulayman Al Bassam
Deutsch von Frank Weigand

Lara Ailo, Tim Werths, Hala Omran, Dalia Naous, Marina M. Blanke, Mohamad al Rashi, Gunther Eckes, Bijan Zamani

Regie: Sulayman Al Bassam

Marstall  Erschlagt die Armen! von Shumona Sinha


 

Politisch korrekt oder doch die Wahrheit

In seinem Prosagedicht „Erschlagt die Armen!“ erzählt Charles Baudelaire die Geschichte eines wohlsituierten Mannes, der eines Abends in einem abgelegenen Stadtteil von einem Bettler um ein Almosen gebeten wird. Doch anstatt ihm dieses Almosen zu gewähren, beginnt der Mann auf den Bettler einzuprügeln. Als dieser bereits am Boden liegt, ergreift der Mann einen Ast und prügelt weiter auf ihn ein, als wolle er ihn erschlagen. Der Bettler, ein ausgemergeltes Gerippe, rafft sich in höchster Not auf, und prügelt nun, erfolgreich auf die Beine gekommen, seinerseits auf den Angreifer ein und fügt ihm einige Blessuren zu. Als der feine Herr spürt, dass der Bettler ihm im Kampf durchaus ebenbürtig ist, unterbricht er den Kampf, gratuliert dem Mann, dass er endlich seine Würde und seine Kraft wiedergefunden hat, teilt mit ihm seine Börse und gibt ihm den Rat, die aus diesem Zwischenfall resultierende Einsicht unter Seinesgleichen zu verbreiten.

Die 1973 in Kalkutta geborene Schriftstellerin Shumona Sinha gab ihrem Roman denselben Titel wie Baudelaires Prosagedicht. Tatsächlich ähneln sich die Geschichten in ihrem Wesen. In Shumona Sinhas Roman muss sich eine Frau dafür verantworten, dass sie in Paris einem Asylbewerber eine Flasche auf den Kopf geschlagen hat. Die Protagonistin arbeitete in einer Ausländerbehörde, in der sie die Aussagen der Asylsuchenden übersetzen und auch hinterfragen musste. Alle Bewerber ersuchten um Asyl, weil sie vorgeblich politisch verfolgt wurden. Die stereotypischen Aussagen waren vorgefertigt und bedienten die Mechanismen eines Asylverfahrens aus politischen Gründen. Die Probleme begannen bereits damit, dass ihre männlichen Landsleute ihre Rolle als Befragerin als völlig unakzeptabel empfanden, entsprach diese Konstellation doch ganz und gar nicht dem heimischen Rollenbild. Zudem verstrickten sich die Befragten schnell in Widersprüche und bald schon wurde offensichtlich, dass es sich bei den meisten um „Wirtschaftsflüchtlinge“ handelte. Sie, die sich strikt an die Gesetze halten wollte, wurde zur „Verräterin“ an den eigenen Landsleuten (erklärt).

Ihr Konflikt, um Wahrheit bemüht zu sein und die Asylsuchenden zu überführen und sie damit abzuweisen, drohte die Frau zu zerreißen. Sie selbst hatte ihr Aufenthaltsrecht durch das Studium im Land und eine Anstellung bei einer staatlichen Behörde sicher. Und so brach sich ihre Aggression, resultierend aus ungerechtfertigten Vorwürfen, Anschuldigungen und Missachtungen zwangsläufig Bahn. Sie wurde zum Opfer eines unvollkommenen und zum Teil auch menschenverachtenden Asylsystems. Die Unzulänglichkeit wird mit einem einzigen Satz schlüssig erklärt: „Aber Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen.“

  Erschlagt die Armen  
 

Anna Drexler

© Konrad Fersterer

 

Zino Wey, 1988 in der Schweiz geboren, brachte diesen, seit seinem Erscheinen hochbrisanten Text auf die Bühne des Marstalls und somit eine wirklich neue Facette in der alle Bereiche des Lebens berührende Diskussion zum Thema. Er leistete damit etwas, was eine echte Tugend des Theaters ausmacht, nämlich im Spiel Wahrheiten ans Tageslicht zu bringen, die die Öffentlichkeit scheuen, die aber notwendigerweise diskutiert werden müssen. Anna Drexler fiel die Rolle der indischen Frau zu, die sich und ihre Tat in einem Pariser Gefängnis erklären muss. Für seine Inszenierung ließ sich Zino Wey eine schiefe Ebene auf der Bühne installieren, die anfangs mit einer schützenden Folie überzogen war. Der Himmel darüber war mit zahllosen Kopfhörern bestückt, aus denen immer wieder die Stimmen der Asylsuchenden oder der Befragenden wisperten. Anna Drexler gab eine sensible, umtriebige, in sich zerrissene junge Frau, die nach ihrer Tat keinen Boden mehr unter die Füße bekam. Und wenn am Ende Bestrafung stehen sollte, war das auch wieder nur ein Indiz dafür, dass das System versagt, denn Fehlleistungen wie die der jungen Frau waren immanent und vorhersehbar. Eigentlich hätte ihr Hilfe zuteilwerden müssen.

Anna Drexlers Spiel war ausgeklügelt, äußerst intensiv, körperbetont und stimmgewaltig. Es war eine Augenweide, wenngleich gewarnt werden muss, denn sie ist eine Darstellerin, die um ihre Wirkung weiß und darum, wie sie das Publikum vereinnahmen kann. Sie verfügt über einfache und sehr wirkungsvolle, sich häufig wiederholende Gesten, die ihr einen etwas putzigen, manchmal sogar clownesken, in jedem Fall aber den Beschützerinstinkt des Betrachters weckenden Ausdruck verleihen. Es ist häufig nur ein linkisches Abspreizen eines Fingers oder ein kindliches am Kostüm nesteln, was bei näherer Betrachtung grenzwertig manieristisch wirkt. Insbesondere, wenn man sie aus mehreren Inszenierungen kennt. Das tat der Wirkung ihres Spiels auf der Marstallbühne allerdings keinen Abbruch, denn nachdem man Anna Drexler in dieser Rolle so überzeugend und einprägsam erlebt hat, ist eine andere Besetzung nur schwer vorstellbar. Entscheidend ist, dass die Botschaft der Inszenierung klar und deutlich über die Rampe kam. Das machte die Inszenierung mit allen ihren gelungenen Komponenten, Licht von Monika Pangerl und Musik Ole Brolin und Zino Wey, zu einer wertvollen, deren Besuch unbedingt empfohlen wird.

Der Roman hatte bei seinem Erscheinen eine verstörende Wirkung, denn er war nicht das, was man „politisch korrekt“ nennt. Hinter den behandelten Problemen des politischen und/oder wirtschaftlichen Asyls und des Stromes der Suchenden hat der Roman mindestens ein weiteres, ebenso großes Problem (vielleicht unbewusst) transportiert. Nämlich unsere Unfähigkeit im politischen Kontext die Wahrheiten zu formulieren oder zuzulassen. Der eigentliche Plot der Geschichte liegt außerhalb des Romans und ist der, dass Shumona Sinha nach Erscheinen des Buches im Jahr 2011 ihren Arbeitsplatz bei der französischen Migrationsbehörde verlor. Das Ausblenden von Wahrheiten, das Verschweigen oder das Ersetzen durch „politisch korrekte“ und somit alternative Formulierungen führt nur zur Spaltung der Gesellschaft und dazu, dass sich Populisten einfinden und die liegengelassenen Wahrheiten aufgreifen und sie schamlos ausnutzen. Die zwingende Frage aus dieser Inszenierung ist: Politisch korrekt oder doch die Wahrheit? Die Wahrheit war noch immer der bessere Weg.

 

Wolf Banitzki

 


Erschlagt die Armen!

von Shumona Sinha
Deutsch von Lena Müller

Anna Drexler

Regie/Bühne: Zino Wey

Marstall  Philipp Lahm Uraufführung von Michel Decar


Was soll man sagen? Philipp Lahm …

Ort der Handlung: Philipp Lahm. Zeit der Handlung: Philipp Lahm. Person der Handlung ist Philipp Lahm, ist Philipp Lahm, ist Philipp Lahm … Philipp Lahm wird gespielt von, nein, nicht von Philipp Lahm, sondern von Gunther Eckes, und das durchaus sehenswert. Das, was Autor Michel Decar da zusammengeschraubt hat als durchnummerierte Szenenfolge ist sprunghaft, absurd, tiefschürfend, blödsinnig, genial, unverständlich, platt … ist Philipp Lahm. Alles ist Philipp Lahm und doch nicht, denn niemand kann sagen, wer der Mann ist und was sich hinter dem Mann versteckt, der sich Philipp Lahm nennt. Es gibt von jeder x-beliebigen Laborratte mehr Material für ein psychologisches Porträt als von Philipp Lahm, der immerhin mehr als ein Jahrzehnt Repräsentationsfigur im deutschen Fußball war. Und darin besteht das Absurde, denn seine Vorzeigbarkeit resultiert scheinbar aus seiner erschütternden Eigenschaftslosigkeit.

Und so unterstellt Michel Decar der Figur einige Aussagen, aus denen wir uns einen Philipp Lahm erschaffen können. Das Ganze ist ein Was-wäre-wenn-Experiment. Was wäre, wenn wir Einblick bekämen in das Wohnzimmer von Philipp Lahm? Wir würden erfahren, dass Philipp Lahm die Beatles mag, dass das Album „Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band“ allerdings erst auf Platz vier in Philipp Lahms Ranking rangiert. Wir würden erfahren, dass Philipp Lahm vier Tafeln weiße Nussschokolade auf einmal essen kann. Wir würden erfahren, dass Philipp Lahm ohne zusätzliche kostenpflichtige Virensoftware im Netz unterwegs ist, weil Philipp Lahm weiß, dass man Anhänge unbekannter Mails nicht öffnen sollte und Philipp Lahm niemals auf schlüpfrigen oder zwielichtigen Webseiten unterwegs ist. Wir würden erfahren, dass Philipp Lahm regelmäßig seine Passwörter ändert, beispielsweise in „Lahm83“.

Philipp Lahm ist ein nahezu Unsichtbarer, selbst wenn er anwesend ist. Bei der Premiere war er nicht anwesend. Passt, möchte man meinen, auch nach dem Theaterabend. Decars Philipp Lahm ist gänzlich ohne Widersprüche und auch ohne Widersprüchlichkeiten und damit ein Idealtyp. Erfolgreich ohne Kollateralschäden. Er schaut Dokumentationen auf arte und 3Sat und kommentiert sie mit „toll, „Spitze“, „einfach richtig gut“. Er verliert sich in Schwärmereien über Heldentum, das gänzlich unspektakulär ist. Es ist ja auch gut so, wie es ist und es wäre noch besser, wenn sich nichts ändern würde. Darum wählt Philipp Lahm auch immer oder wirbt für das Wählen oder zwinkert aus Spots heraus, die für das Wählen werben. Was wird er wohl wählen? Was schon, das was ist.

 

 
  Philipp Lahm  
 

Gunther Eckes (Philipp Lahm)

© Julian Baumann

 

Wenn Philipp Lahm sagt, sein Lieblingsbuch ist „Die unendliche Geschichte“ und sein Lieblingsfilm, ist die Verfilmung des Buches „Die unendliche Geschichte“. Man glaubt ihm das ganz selbstverständlich im Kanon der Szenen. Doch dann gesteht er plötzlich, dass „L’avventura“ von Michelangelo Antonioni sein Lieblingsfilm sei. „Stimmt echt.“ Und der Autor heißt die Zuschauer wieder willkommen in einem Theaterstück auf der Bühne des Marstalls. Prompt bekommt das Bild irgendwie Risse. Ein anderer Philipp Lahm wird dahinter nicht sichtbar, aber der Wunsch nach einem anderen Philipp Lahm, denn der, den wir kennen, ist so langweilig, dass es schmerzt. Fatal nur, dass er ein echter Held unserer Zeit ist und wir müssen uns fragen, in was für einer Zeit und Gesellschaft wir leben, in der Philipp Lahm ein echter Held sein kann.

Robert Gerloffs Regie brachte eine Inszenierung hervor, die mit vielen Bildern auch im Videoformat jonglierte. Das war auch nötig, denn eine und eine halbe Stunde weitestgehend sinnfreie Texte in Szene zu setzen, und so Subtexte zu generieren, ist wahrlich keine leichte Aufgabe. Die Bühne von Maximilian Lindner wurde trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer erschreckenden Spießigkeit allen Anforderungen gerecht. So konnte Philipp Lahm im Muscle Suit (Kostüme Johanna Hlawica) glaubhaft als Trophäe an der Wand hängen oder, wie bereits erwähnt, vor den Augen des Publikums vier Tafeln Schokolade essen.

Das Stück ist fraglos eine Provokation und die Szenenfolge lässt ein breites Spektrum an Interpretationen und Deutungen zu. In der Inszenierung steckte durchaus auch die Gefahr einer Diskriminierung des Helden, denn das Auge des Betrachters ist ein eigenwilliges Ding. Dass Sportler und insbesondere Fußballer, wenn sie vor eine Kamera oder ein Mikrophon treten, ganz oft sehr schnell peinlich werden, ist hinlänglich bekannt. Auch bei Gunther Eckes Philipp Lahm gibt es diese Momente. Es wäre wirklich gut gewesen zu erfahren, wie Philipp Lahm diese Figur gesehen hätte … oder vielleicht auch nicht. Ein gelungenes Experiment war es allemal, wenngleich nicht für jeden Zuschauer gleichsam unterhaltsam. Aber das liegt in der Natur der Sache: An Experimenten, besonders an künstlerischen, scheiden sich häufig die Geister.

Wolf Banitzki

 


Philipp Lahm

Uraufführung von Michel Decar

Mit Gunther Eckes

Regie: Robert Gerloff

Residenztheater Der Balkon von Jean Genet


 

B-Movie

Jean Genet (1910-1986), der stolze Prophet des Bösen, wurde zwischen 1937 und 1943 dreizehn Mal zu Gefängnisstrafen verurteilt. Zuvor war er bereits als 15jähriger Dieb ins Gefängnis und anschließend in die berüchtigte Besserungsanstalt Mettray gesteckt worden, aus der er ausbrach und sich zur Fremdenlegion nach Nordafrika durchschlug. Aus der Legion desertierte er bereits nach wenigen Tagen, nicht ohne sich zuvor einige Offizierskoffer unter den Nagel gerissen zu haben. 1943 wurde er erstmals in einem Gerichtsverfahren freigesprochen. Die Begründung lautete: Er sei „krankhaft veranlagt“. Jean Cocteau hatte für ihn ausgesagt und ihn als den „größten lebenden Schriftsteller Frankreichs“ bezeichnet. Ein Treppenwitz der Geschichte ist die Tatsache, dass Genet Nazideutschland angewidert verließ, weil sein kriminelles Treiben, er war stets als Dieb unterwegs, dort kein Verbrechen, sondern die Normalität war. Nach seinem „Tagebuch eines Diebes“ (1949) stellte Genet das Schreiben ein. Als Grund dafür sagte er dem Schriftsteller und Ethnographen Hubert Fichte: „Der Übergang war geschehen.“ Georg Hensel interpretierte die Aussage als „den Übergang von einer lange verzögerten Reifezeit ins Mannesalter“.

Es lässt sich nicht leugnen, dass Genet ein bekennender Böser war, der das Verbrechen heiligsprach und somit sich selbst. Dass Genet heute als Ikone des amoralischen Künstlertums gilt, ist dem fast tausend Seiten langen Werk „Saint Genet“ von Jean Paul Sarte zu danken. Früh aus der Bahn geworfen, Sartre schildert Genets Weg verständnisvoll und minutiös, macht Genet sein Dilemma zu Programmatik: „(Ich habe Beschlossen,) der zu sein, den das Verbrechen aus (mir) gemacht hat.“ Sartre kommentiert dieses Bekenntnis: „Da er dem Verhängnis nicht entkommen kann, wird er sein eigenes Verhängnis sein; da man ihm das Leben unlebbar macht, wird er diese Unmöglichkeit, zu leben, leben“ Jedem Vorwurf der Gesellschaft, die Normen nicht zu respektieren, begegnet er mit Hochmut: „Ja, ich bin böse, und ich bin stolz, es zu sein.“ Es stellt sich angesichts der anhaltenden Popularität, die wohl nicht zuletzt der Gänsehaut geschuldet ist, die Genet und sein Werk jeder Generation aufs Neue bereitet, die Frage nach der gesellschaftlichen Dimension des Werkes von Genet. Diese Frage beantwortet Sartre wie folgt: „Rimbaud wollte das Leben und Marx die Gesellschaft ändern. Genet will gar nichts ändern. Man sollte nicht auf ihn rechnen, wenn man Institutionen kritisieren will: er kann ohne sie nicht leben, genau wie Prometheus ohne seinen Adler nicht denkbar ist … Er tut alles, um die soziale Ordnung, aus der er ausgeschlossen ist, lebensfähig zu erhalten: Genet benötigt die strenge Ausschließlichkeit dieser Ordnung, um seine Perfektion im Bösen erreichen zu können.“ Das sollte man unbedingt wissen, wenn man sich anschickt, in die Inszenierung eines Theaterstückes von Jean Genet zu gehen!

Der Balkon ist ein Bordell, ein „Haus der Illusionen“, wie die Betreiberin Madame Irma nicht müde wird zu beteuern. Darin werden allnächtlich sämtliche nur erdenkliche Traumfreuden ausgelebt. Es ist natürlich stets ein sexueller Akt, aber darüber hinaus kann der Kleinbürger stundenweise auch in Rollen schlüpfen, nach denen es ihn schon immer gelüstete. Ein Kunde wird zum Bischof, der durch die Macht seines (geborgten) Amtes schlüpfrige Beichten erzwingt. Ein anderer erreicht mittels (gespielter) Folter als Richter peinliche Geständnisse. Ein dritter reitet auf seiner leichtgeschürzten „Stute“ in die glorreiche Schlacht. Alles ist nur Spiel unter den gestrengen Augen Irmas. Doch im Hintergrund tobt bereits eine (in Genets Text romantisch verklärte) Revolution gegen die Monarchie und der echte Polizeipräsident, Madame Irma ist seine heimliche Geliebte, flüchtet sich in das Bordell, um von dort aus die Fäden zu ziehen und im geeigneten Augenblick die Macht als Alleinherrscher an sich zu reißen.

Um der Revolution die Spitze zu nehmen, lässt der Polizeipräsident die Bordellbesucher in ihren Verkleidungen auf dem Balkon des Palastes aufmarschieren, um dem Volk, das die Prostituierte Chantal zu ihrer Gallionsfigur, zu ihrer Jeanne d'Arc erwählt haben, das Scheitern der Revolution vor Augen zu führen. Der Coup gelingt. Der Schein überwindet das Sein; das Volk hängt mehr an den Symbolen als an der Idee. Der tiefere Sinn der Aktionen des Polizeipräsidenten besteht allerdings darin, ebenfalls zu einem Wunschbild der Kundschaft des Bordells aufzusteigen. Die Revolution ist ein Spiel und er sucht Ewigkeit als Idol. Tatsächlich übernimmt zum Erstaunen des Polizeipräsidenten einer der Anführer der Revolution diese Rolle und die Dinge geraten augenblicklich außer Kontrolle und eine neue Revolution bricht los. Das „Welttheater“, Genet hat sich vom Barocktheater inspirieren lassen, in dem der Schein und weniger die Realität dominieren, muss mit dem verkehrten Vorzeichen, mit dem des Bösen gesehen werden. So wird aus der „Bordellwelt das Weltbordell“. (Georg Hensel)

  Der Balkon  
 

Cynthia Micas, Marko Mandić

© Konrad Fersterer

 

Der kroatische Regisseur Ivica Buljan inszenierte nach „Der Schweinestall“ von Pasolini im Marstall diesen Reigen des Bösen in einer fast dreieinhalbstündigen Inszenierung. Als einen Grund für die Länge wurde die Weigerung der Genet-Erben bezüglich Streichungen am Text genannt. Dass das nicht ganz der Wahrheit entspricht, wusste wohl jeder Besucher nach dem kleinen Marathon. Buljan hatte sich für sein furioses Spektakel mit viel Musik von Aleksandar Denić, bekannt durch Frank Castorf- und auch Martin Kušej-Inszenierungen, eine Bühne entwerfen lassen, die aus einer hohen Wand aus Kühl- und anderen Schänken bestand, in der man sehr viel, gelegentlich auch Menschen unterbringen konnte. Es ist leicht vorstellbar, wie diese Bühne nach der Geschichte aussah: ein Schlachtfeld. Es war nicht immer leicht (in der Vorstellung am 3. März 2018) der Handlung zu folgen, denn das grandiose Ensemble folgte der Verve des Regisseurs und überzog hemmungslos, was nicht selten zu akustischen Verständigungsproblemen führte, aber auch die „ganze Kiste an die Grenze zum Bersten“ brachte, um es einmal ganz lax zu formulieren.

Es wurde masturbiert, kopuliert, randaliert, zwischendurch musiziert, demoliert und am Ende auch ejakuliert, wenngleich dankenswerter Weise nur aus der Bierbüchse. Man gab alles! Quickte bei den Fetischspielen, grunzte bei der Masturbation, schrie in der revolutionären Ektase und tänzelte splitterfasernackt, das Publikum wie ein Rattenfänger hinter sich herlockend, allerdings nicht die Flöte spielend, sondern lautstakt die „Internationale“ auf Kroatisch (?) schmetternd, um den nächtlichen Marstall herum. Zum Leidwesen einiger Zuschauer gab es keine vierte Wand und so durfte/musste mancher Zuschauer die physische Nacktheit von Marko Mandić hautnah erleben. Bespielt wurde der ganze Zuschauerraum, auch von Tim Werths, der sich auf spektakuläre Weise in einen Gorilla verwandelte und über die Armlehnen hinweg weit auf das Terrain der Zuschauer vorwagte, um mit der einen oder anderen, zumeist blonden Besucherin tierisch zu kommunizieren. Auch wenn der tiefere Sinn dieser Szene sich nicht unbedingt erschloss, absolut sehenswert war sie allemal.

Sehenswert waren auch die Damen des Ensembles. Juliane Köhler bereitete es keine Probleme, eine körperlich attraktive Madame Irma vorzustellen. Diese Figur entpuppte sich als letzte Macht im Stück, die das Ende das Spektakels mit den Worten ausläutet: „Sie müssen nun nach Hause gehen, wo alles noch unwirklicher sein wird als hier…“. Damit eroberte sie die Oberhoheit zurück und schloss das Business bis zum nächsten Spiel der Illusionen, das unweigerlich folgen würde. Cynthia Micas zog mit ihren weiblichen Reizen ebenso wie mit ihrer darstellerischen Präsenz sowohl als Prostituierte Carmen als auch in der Rolle der Revolutionsikone Chantal die Aufmerksamkeit auf sich. Sämtlichen Darstellern konnte und musste für jede Rolle Lob gezollt werden. Allerdings waren die Fliehkräfte des Spiels, insbesondere das von Marko Mandić, so heftig, dass die Ordnung mehrfach auseinanderbrach und die Darsteller der Souffleuse sogar das Textbuch entwenden mussten, um herauszufinden, an welcher Stelle der Geschichte man sich eigentlich befand. Das war umso bedauerlicher, da es mancher durchaus gelungenen Szene die zu erzielende Wirkung nahm. Mit den gelungenen Szenen waren keinesfalls die „provokanten Elemente“ gemeint, wie die Masturbationsszene oder das zähe und zeitaufwendige Basteln eines großen Phallus aus Bierbüchsen, begleitet von den wahnsinnig anmutenden Schreien des Polizeichefdoubles: „Ich kann das! Ich darf das!“ Solche „Provokationen“ langweilen allenfalls. Eine Katharsis bleibt in der Regel aus. Am Ende hatte man das Gefühl, einem B-Movie beigewohnt zu haben. Die Mittel waren unterm Strich zu dilettantisch und die Geschichte verfehlte den Rang eines Blockbusters.

Nach dem Studium des Programmheftes, insbesondere des Textes „Pornographie der Gegenwart“ von Alain Badiou, wurde deutlich, dass die Macher mit ihrer Inszenierung die heutigen Institutionen kritisieren und infrage stellen wollten, also etwas versuchten, was Sartre, wie eingangs zitiert, nicht für möglich hielt. Das Ziel scheint auch deutlich verfehlt worden zu sein. Das Bemühen indes spiegelt einen Zug unserer Zeit wider, nämlich der Gier nach spektakulären Bildern und vermeintlichen Ideen zu oder in den Bildern. Dabei scheinen die Grenzen der Vernunft gelegentlich aufgehoben zu sein. Es erinnert zum Beispiel an die bisweilen lächerlichen Deutungsversuche von Koranversen, die nicht selten völlig unverständlich sind und dennoch mit erstaunlichsten Bedeutungen aufgeladen werden, weil man diese Bedeutungen in der „Heiligen Schrift“ braucht, um Antworten geben zu können. Hier geht es jedoch um Glaubensfragen, in der Philosophie indes um Wissensinhalte. Dieses Bemühen entspringt häufig ideologisiertem Denken.

So soll am Ende noch einmal Jean Genet zu Wort kommen, um zu verdeutlichen, wie egomanisch der Mensch Genet und sein Denken war, dessen System mehr religiösen, als philosophischen Charakter hatte. Ernsthafte Kritik hatte er im Sinn, als er 1948 Dank der Intervention Sartres und Cocteaus vom Staatspräsidenten Vincent Auriol begnadigt wurde. Er war zu lebenslanger Verbannung in einer Strafkolonie verurteilt worden. Er wollte sich am darauffolgenden Tag in einem Radiointerview darüber beschweren, dass man ihn mit dieser überflüssigen Mildtätigkeit um die kommenden Ereignisse und Erlebnisse gebracht hatte. Genet: „Ich war sechzehn … in meinem Herzen behielt ich keine Stelle, wo sich das Gefühl meiner Unschuld ansiedeln konnte. Ich erkannte mich als den Feigling, den Verräter, den Dieb, den Schwulen, den man in mir sah … in mir selbst, mit etwas Geduld, entdeckte ich durch Nachdenken genug Gründe, mit diesen Namen benannt zu werden. Und ich war bestürzt zu wissen, dass ich aus Dreck bestand. Ich wurde verwerflich“ (Tagebuch eines Diebes)

Wolf Banitzki

 


Der Balkon
von Jean Genet
Aus dem Französischen von Peter Krumme

 

Christian Erdt, Philip Dechamps, Tim Werths, Nils Strunk, Marko Mandić, Juliane Köhler, Mathilde Bundschuh, Cynthia Micas

Regie Ivica Buljan

Residenztheater  Für immer schön  von Noah Haidle


 

Der Totentanz um das goldene Kalb

Schönheit ist Pflicht! oder zumindest das, was man heutigentags oder auch anderentags für Schönheit hält. Schließlich wird Schönheit vornehmlich von (im weitesten Sinn) Modeschöpfern definiert. Dabei ist das Wort Modeschöpfer überaus interessant und gleichsam entlarvend. Immerhin war der Akt der Schöpfung bis ins 19. Jahrhundert hinein ausschließlich Gott vorbehalten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts definierte dann ein Philosoph namens Nietzsche Mode als Massenwahn. Und genau so funktioniert Religion, ein Prophet (Karl Lagerfeld hält sich mit Sicherheit für einen) verkündet Gottes Schönheitsideal und eine Gemeinde fällt in einen Wahn. Folglich wohnt Schönheit ein religiöser Anspruch inne; niemand erreicht sie, zumindest in der Selbstwahrnehmung, und so betreibt die Gesellschaft und das Individuum die Anbetung der wandelbaren Gottheit, Moden lösen einander in rascher Folge ab, bis zum Exzess. Cookie erfuhr im Alter von sechs Jahren aus dem Mund ihrer Mutter, dass Gott den Menschen nach seinem Bild erschaffen hat (tatsächlich war es natürlich andersherum) und, Bäng, Cookie wusste, dass sie die geborene Kosmetikvertreterin ist.

Unermüdlich zieht Cookie, gleich einer Johanna der Lippenstifte, Mascaras und Cremes, ihre Runden durch die Vorstadttristesse, um ihre Garanten für Jugend und Schönheit an den Mann, resp. die Frau zu bringen. Sie ist Dienerin und Königin zugleich, denn Cookie ist eine (Verkaufs-) Legende. Inzwischen selbst in die Jahre gekommen, weiß sie sehr wohl, wovon sie spricht, wenn sie Aging und Schwerkraft erwähnt, was ihrem Enthusiasmus jedoch keinen Abbruch bereitet. Ehrlicherweise geht es gar nicht mehr um Vollkommenheit, soviel Aufrichtigkeit ist immerhin drin, sondern um „permanente Instandsetzung“ und den bloßen Anschein von …was auch immer. Einen Spritzer Parfum an Hals und Handgelenke, die Haare in den Nacken geworfen, das Kinn selbstbewusst nach oben gereckt, das zitronengelbe, eng anliegende Kostüm glattgestrichen, das konspirative Losungswort "It’s showtime!" gesprochen und den Klingelknopf gedrückt. Es ist ein ständiger Kampf, zu dem sich Cookie immer wieder selbst anspornen muss, in dem sie sich selbst die langsam verwelkenden Hinterbacken klatscht, wie einen Arbeitsgaul, der angetrieben werden muss.

Dreißig Jahre trottet sie unter ihrem selbstgewählten Joch und irgendwann beginnt das Blut aus den hochhackigen Schuhen zu quellen. Cookie hat viel verkauft in ihrem Leben, hat, bis auf den „Rosa Cadillac“, den Oscar für Handelsvertreter, alle Preise bekommen, die zu erringen waren. Und sie hat mit unendlich vielen Männern geschlafen, immerhin der Beweis dafür, dass ihre Schönheit, gleichsam ihr Aushängeschild, begehrt war. Sie hat ein Kind namens Dawn zur Welt gebracht, das sie am Ende mit letzter Kraft zu Grabe tragen muss, denn Dawn ist vorzeitig gestrauchelt auf dem ach so verheißungsvollen „American Way of Life“. Für Cookie, die zuletzt blind und abgerissen diesen Weg weiterwankt, hält das Leben bestenfalls noch den Gnadenschuss bereit, um sie von ihrem Leidensweg zu erlösen. Nichts gibt allerdings Anlass, an diese Gnade zu glauben.

  Fr immer schn  
 

Mathilde Bundschuh (Dawn), Juliane Köhler (Cookie)

© Julian Baumann

 

Es ist ein düsteres Stück ohne die geringste Hoffnung, das Noah Haidle schrieb und das Katrin Plötner auf die Bühne des Marstalls brachte. Es drängte sich nach kürzester Zeit der Vergleich mit Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ auf. Doch bald schon zeichnete sich ab, dass Cookie ganz und gar nicht einer aufrecht gläubigen Priesterschaft zur Verkündigung des Marktes angehörte, wie Willy Loman, sondern sowohl Kanone als auch Futter auf dem Markt war. Kanonenfutter nannte man die Soldaten des 1. Weltkrieges, die ausgehoben und ins Feld geschickt wurden, um sich für Ideen abschlachten zu lassen, die, wie sich letztlich herausstellte, doch nicht die ihren waren. Cookie stirbt nicht an gebrochenem Herzen wie Willy, sondern sie wird zum „Menschen als leerlaufende Maschine“, seelenlos, blind, alles vergessend. Die ursprüngliche Idee verschwindet, wie die von ihrer Mutter in die Schuhsohlen gravierte Lyrik, abgewetzt auf einem Weg ohne Ziel.

Katrin Plötner inszenierte eine realistische Geschichte, die in realistischer Sprache abgehandelt wurde, auf einer völlig abstrakten Bühne. Bildnerin Anneliese Neudecker hatte den Raum bis in den Bühnenhimmel hinein mit einer glänzenden, undurchsichtigen Folie ausschlagen lassen, die überwiegend mit rosafarbenem Licht ausgeleuchtet wurde. (Licht Gerrit Jurda) Lili Wanners Kostüme waren ebenso unverbindlich „schön“ gestaltet und bis auf einen existenzialistischen Schwarztupfer harmonisch ins Gesamtbild integriert. Die Masken waren makellos glatt und scheintödlich perfekt. Auf dem ersten Blick assoziierte das Bild eine „cleane“ Welt. Damit sollte wohl die Aufgeräumtheit und die Unverbindlichkeit der bürgerlichen Mitte als die tragende Konsumentenschicht jeder Gesellschaft versinnbildlicht werden. Das machte anfänglich auch durchaus Eindruck. Doch dieser Eindruck verkehrte sich im Lauf des Spiels, das hauptsächlich von Juliane Köhler als Cookie getragen wurde und der für ihr engagiertes Spiel höchstes Lob gebührte. Juliane Köhler gab ihre Cookie als Frau aus Fleisch und Blut und Sexappeal, also durchaus differenziert realistisch und absolut glaubhaft.

Sehr guten Schauspielern, und sämtliche Darsteller des Abends qualifizierten sich für dieses Prädikat, gelingt eine Entfaltung ihrer Aura, so dass sie den Raum nach und nach ausfüllen und ihn dergestalt beherrschen, dass sie auch während ihrer physischen Abwesenheit auf der Bühne präsent sind. Frau Neudeckers Bühne wirkte indes wie ein teflonbeschichteter Raum, in dem sich nichts generalisieren und festsetzen konnte. Mit jedem Abgang verlor sich augenblicklich die Spur der Figur. Besonders auffällig wurde das am Ende, als Juliane Köhler mit bloßen Händen ein Grab aushob und echte Muttererde sichtbar wurde. Das hatte beinahe Erlösungscharakter.

So lagerte über der ganzen Geschichte eine permanente existenzielle Befremdlichkeit, die es dem Zuschauer nicht unbedingt leichter machte, den Realismus in der Geschichte auch in ihren komischen Momenten umfänglich zu rezipieren. Das bremste ebenso die Wucht der Tragik so mancher Figur aus. Mathilde Bundschuhs Dawn als Säugling (Cookies Tochter) suggerierte ein Wesen, das einen starken Willen besaß, der aber unter den Prüfungen des Lebens, und Dawn ging durch etliche, unweigerlich zerbrach, denn sie war für dieses System nicht gemacht. Pauline Fusbans Heather trat in die Fußstapfen Cookies und konnte eine Weile die Illusion von einer begabten Verkäuferin aufrecht erhalten. Doch sie besaß nicht die Zähigkeit, die es für diesen Job brauchte und zog es vor, ihren sozialen und ökonomischen Status über Ehen zu sichern. Zwei ihrer Ehemänner verkörperte Nils Strunk auf denkbar unterschiedlichste Weise. Katharina Pichler fiel die Rolle der durch Cookie betrogenen Ehefrau Vera zu. Sowohl Heather als auch Vera waren die typischen „Vorstadtweiber“, die Dank hinlänglich bekannter Fernsehserien zu einem neuen Klischee aufgebaut wurden.

Es war eine starke Geschichte, von exzellenten Schauspielern engagiert erzählt. Das Programmheft verwies schließlich noch auf die systemkritischen Ansätze, die der Geschichte innewohnen und die von Regisseurin Katrin Plötner auch zur Diskussion gestellt wurden. Indes, es fehlte das letzte Quäntchen Übergriffigkeit auf das Publikum, um die ganze Wucht des Themas zu entfalten. Immerhin unterstellte eine Zuschauerin nach der Premiere von „Tod eines Handlungsreisenden“ im Februar 1949 in New York, „Das (Stück – Anm. W.B.) ist eine Zeitbombe unter dem amerikanischen Kapitalismus.“ (Programmheft zur Inszenierung) Miller hoffte, dass es so sei. Hochgegangen ist sie mit „Für immer schön“ allerdings auch nicht. Und so totentanzt die Welt weiter um das goldene Kalb und konsumiert auf Gedeih und Verderb – wohl mehr auf letzteres.

Der Konsumismus als letzte weltumspannende Religion ist wieder nur eine Krücke für den unvollkommenen Menschen, der nicht in der Lage ist, eine Gesellschaft auf immaterielle Werte (Vernunft wäre so ein Wert!) zu begründen, auch wenn er unentwegt vorgibt, genau dies zu tun. Kaufen und Verkaufen, um nichts mehr geht es und alle Entwicklung scheint sich dem unterzuordnen und dabei zu versanden. Heiner Müller bemerkte nach dem Fall des Ostblock und mit den damit verbundenen Ideen von nicht auf Besitz basierenden Gesellschaften sinngemäß: Hier endet die Geschichte und der reine Geldverkehr beginnt.

Wolf Banitzki

 


Für immer schön

von Noah Haidle

Juliane Köhler, Pauline Fusban, Katharina Pichler, Nils Strunk, Mathilde Bundschuh

Regie: Katrin Plötner

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