Kammerspiele  Point Of No Return Performance von Yael Ronen und Ensemble


 

Der Amoklauf oder Auf zum nächst höheren Level

Als die 1976 in Jerusalem geborene Yael Ronen im Juli 2016 mit den Proben zu „Point Of No Return“ an den Münchner Kammerspielen begann, stand das Thema Sexualität im weiteren Sinn im Fokus ihrer Auseinandersetzung. Untersucht werden sollte die Zukunft des Sexes unter dem Einfluss der rasanten technologischen Entwicklungen. Doch dann fielen am 22. Juli am Münchner Olympiaeinkaufszentrum Schüsse und die Nation glaubte, endlich ihren sehnlichst erwarteten Terroranschlag zu haben. (Wiebke Puls: „Ja, München, nicht Berlin, habe ich gedacht!“) Es machte sich allerdings ein gewisse Ernüchterung breit, als sich die Tat als simpler Amoklauf entpuppte. Die Tatsache, dass bis zu 67 vermeintliche Anschlagziele gemeldet wurden, war der Auslöser für einen neuen Ansatz von „Point Of No Return“.

Yael Ronen versuchte nun gemeinsam mit den Schauspielern Niels Bormann, Dejan Bućin, Damian Rebgetz, Wiebke Puls und Jelena Kuljić eine Analyse der komplexen, von Emotionen, Reflexen und Unwägbarkeiten gesteuerten Vorgängen zu erstellen. Dabei wurden die tatsächlichen und fiktiven Erfahrungen und Inspirationen der Schauspieler eingearbeitet. Das war ein mühsamer Prozess, wie Yael Ronen im Programmheft gestand, denn sie kannte die Darsteller nicht oder zu wenig, um ihre „Musik“ zu verstehen. Heraus kam eine Bühnensituation, in der keine Darsteller agierten, sondern die Schauspieler sich selbst spielten oder gaben. Personen und Rollen blieben unentschieden. Das ganze nannte sich Performance. Inhaltlich war es ebenso wenig ein monolithischer  Guss wie eine in sich geschlossene Geschichte.

Der Abend war in drei Teile gegliedert. Gespielt wurde auf einer schiefen Ebene, z.T. an Sicherungsseilen, was meinte: alles ist in eine Schieflage geraten und wir haben ernsthafte Probleme nicht in einen Abgrund zu gleiten. Die drei Bühnenwände waren vollkommen verspiegelt. Im Hintergrund eine kleine Insel mit einer Birke und ein paar Sträuchern: Natur im urbanen Raum. (Bühne Wolfgang Menardi) Auf dem weißen Bühnenboden flackerten eindrucksvoll psychedelische Muster oder Videoprojektionen realer Vorgänge. 

  Point of no return  
 

Dejan Bućin, Wiebke Puls, Jelena Kuljić, Damian Rebgetz

© David Baltzer

 

Im ersten Teil berichteten die Schauspieler, was sie am 22. Juli, in der Zeit, in der Ausnahmezustand in München herrschte, gemacht haben. Niels Bormann hielt sich in der Kantine der Kammerspiele auf, um dort eine Fischsuppe zu essen, als die Tore am Bühneneingang geschlossen wurden. Wiebke Puls war mit ihren Kindern in einer Vorstellung. Sie haderte heftig mit der Situation, in der sie gemeinsam mit vielen anderen im Zuschauerraum saß und nicht auf der Bühne stand, Mitte-Rampe, um die Katastrophe mit ihren (gespielten) Emotionen zu begleiten und zu kommentieren. Dejan Bućin war in einem Kik-Laden gefangen und sein Handyakku gab in seinen Händen den Geist auf. Verzweiflung bemächtigte sich seiner, denn wie sollte er nun kommunizieren, dem Rest der Welt mitteilen, dass er lebte. Es war ein heiterer Teil, in denen nicht über die Opfer gesprochen wurde, sondern über die Befindlichkeiten der fünf Schauspieler. Die kokettierten vornehmlich mit ihren Eitelkeiten, führten sie spielerisch ad absurdum und lebten sie so aus.

Im zweiten Teil wurde ein Video auf den Boden projiziert, in dem ein vermeintlicher Terrorist von einem panischen Wachmann niedergestreckt und von Passanten misshandelt wurde. (Video: Claudius Schulz und Angelika Widel)  Es stellte sich im Nachhinein heraus, dass es sich um einen Eritreer handelte, der sich auffällig nervös benahm, weil er kein Asyl bekommen hatte und illegal im Land war. Er fürchtete, seinen schlecht bezahlten Hilfsarbeiterjob zu verlieren, mit dem er das Lösegeld beschaffen wollte, um seine Familie aus den Händen der Schleuser zu befreien, die, um ihren Gewinn zu maximieren, ihre Kundschaft zusätzlich noch gekidnappt hatten. Man disputierte, wie man einen solchen Eritreer spielen kann. Damian Rebgetz konnte zwar mit dem Argument punkten, dass er Ausländer ist, doch als Australier war es für ihn unmöglich, glaubhaft die „dritte Welt“ darzustellen.

Im dritten Teil sollte der Bericht einer jungen Eritreerin über ihre monatelange Gefangenschaft und ständige Vergewaltigung verlesen werden. Wiebke Puls, sie besitzt bekanntermaßen die Fähigkeit, starke Gefühle zu erzeugen, weigerte sich, denn es gab weder einen Namen des Opfers, noch ein  Datum für das Protokoll. Sie verzichtete zwar nicht auf einen Beweis ihrer Darstellungskraft und weinte auf Kommando, traute der Situation letztlich aber nicht. Jelena Kuljić, als Serbin verfügt sie naturgemäß über Kriegserfahrung, übernahm eifrig den Part. Nach einer Musikaleinlage, ein düster-melancholischer Song von Leonhard Cohen, gab es schließlich noch ein paar Informationen darüber, welche Insekten, Kriechtiere etc. eine viel größere Gefahr für unser Leben seien, als der Terrorismus. Tatsächlich belief sich der Anteil der Europäer an den Opfern des weltweiten Terrorismus gerade einmal auf 0,5%.

Die größte Provokation Yael Ronens, so das Programmheft, ist „ihr schwarzer Humor im Umgang mit historischen Konflikten“. Bleibt allerdings die Frage, mit welchem Ziel sie derart provoziert. Um Heiterkeit zu erzeugen? Das ist ihr zumindest teilweise gelungen. Ansonsten allerdings führte die Performance zu keinen tieferen Einsichten, und Lachen allein hilft niemand über seine Hilflosigkeit im Umgang mit den geschürten und gesteuerten, aber auch mit den natürlichen Ängsten hinweg. Es kann nicht angehen, dass, wenn wir die Probleme nicht beherzt angehen können, uns wenigstens mit ihrem Unterhaltungswert trösten.  Dass das Konzept ebenso wirkungslos wie seine Umsetzung war, kann auch der vagen Aussage der Regisseurin entnommen werden: „Und es (die Schießerei im OEZ – Anm. W.B.) fühlte sich nicht nur an wie das Attentat eines Einzelnen, sondern wie der Beginn von etwas, das die gesamte Stimmung verändert. Als ob jeder so etwas erwartet hätte, um dann schließlich wie in einem Spiel in ein neues Level aufzusteigen.“ Sollte das der „Point Of No Return“ sein? Also das zu verallgemeinern wäre töricht, denn viele mir bekannte Menschen nahmen es als das, was es war, der Amoklauf eines verwirrten Jugendlichen.

Das künstlerische Ergebnis auf der Bühne indes zeigte sich als eine weitere gelungene  Profanisierung der Theaterkunst ohne dabei nennenswerte Ergebnisse gezeitigt zu haben, die über das eigene Selbstverständnis hinaus gingen. Vielleicht liegt es aber auch an der Methode, mit der Yael Ronen arbeitet: work in progress. „Manchmal braucht es also eine lange Zeit, bis ich etwas schreiben kann und dann klärt sich hinterher für mich, worum es da eigentlich geht. Wenn das Stück abgeschlossen ist, versteh ich auch erst, worum es in dem Stück geht.“  (Programmheft) Und wenn beim Zuschauer keine Erleuchtung eintritt und er ohne konkrete sachliche oder emotionale Erkenntnis das Theater verlässt, so bleibt doch immerhin noch die Genugtuung, dass es gut war, darüber geredet zu haben.

Wolf Banitzki


Point Of No Return    

Performance von Yael Ronen und Ensemble

Niels Bormann, Dejan Bućin, Damian Rebgetz, Wiebke Puls, Jelena Kuljić

Inszenierung: Yael Ronen

Kammerspiele  Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung  Nach dem Roman von Kamel Daoud


 

Poetischer Existenzialismus

„Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“ So lautet der erste Satz in „Der Mythos von Sisyphos“. Dieser philosophische Essay, in dem Camus das Absurde zum wesentlichen Element des Existenzialismus erklärte, erschien 1942 und somit im selben Jahr wie „Der Fremde“. Siebzig Jahre später erschien mit „Der Fall Mersault – eine Gegendarstellung“ des algerischen Autors Kamel Daoud. Soviel vorweg, eine Gegendarstellung zu Camus‘ „Der Fremde“ zu schreiben, ist mehr als mutig. Das kann schnell schief gehen und im künstlerischen Selbstmord gipfeln. Aber, und dieser Gedanke entbehrt nicht einer gewissen Komik, das ist nicht der Selbstmord, den Camus meinte. Dennoch, der Philosoph erwähnte in „Der Mythos von Sisyphos“ folgenden Fall: „Ich habe von einem Nachfolger Peregrinos’ gehört, von einem Nachkriegsschriftsteller, der sich nach Vollendung seines ersten Buches das Leben nahm, um die Aufmerksamkeit auf sein Werk zu lenken. Die Aufmerksamkeit wurde tatsächlich erregt, das Buch aber wurde verrissen.“

Nein, Selbstmord beging Kamel Daoud mit seinem zu Recht sehr erfolgreichen Roman nicht. Es ist auch keine wirkliche Gegendarstellung, sondern ein Prosawerk, das von „Der Fremde“ initiiert und inspiriert ist. Wenn die junge Meriem, Maya Haddat als sehr anmutige und liebenswerte Autorin einer wissenschaftlichen Arbeit über das Buch von Camus, anmerkt, dass die Familie Camus die Aufführung beider Werke, „Der Fremde“ und „Der Fall Meursault“ im selben Kontext verbietet, hat die Familie des Philosophen nicht ganz Unrecht. Das eine Werk ist in der Tat ein philosophisches und kein rein narratives Werk. Das Gegenteil trifft auf „Der Fall Meursault“ zu. Das ist jedoch keine Wertung, wie der Tonfall Meriems unterstellte. Es geht vielmehr darum, dass man Äpfel und Birnen nicht als ein und dasselbe verkaufen kann. Es ist auch nicht wirklich zutreffend, dass der literarische Ruhm von „Der Fremde“, wie gelegentlich behauptet, aus der Namenlosigkeit des Opfers resultiert. Den Ruhm verdankt dieses Buch seiner absoluten Aufrichtig- und Kompromisslosigkeit, die menschliche Existenz als das zu benennen, was sie im philosophischen Verständnis ist: sinnlos. Meursault (Camus), der gleichgültige Mörder bringt es mit dem letzten Satz auf den Punkt: „Damit sich alles erfüllt, damit ich mich weniger allein fühle, brauche ich nur noch eines zu wünschen: am Tag meiner Hinrichtung viele Zuschauer, die mich mit Schreien des Hasses empfangen.“

  Der Fall Meursault  
 

Walter Hess, Maya Haddad, Hassan Akkouch

© Judith Buss

 

Kamel Daoud gab dem vom Franzosen Meursault getöteten Mann sowohl einen Namen, Musa, als auch einen Bruder, Harun, und eine Mutter. Letztere, gespielt von Mahin Sadri, hatte etwas Erinnyenhaftes, in schwarz gekleidet, in ihrer Muttersprache lamentierend, das Bild Musas vor der Brust, zog sie zwanzig Jahre ihren Weg auf der Suche nach ihrem Sohn durch die Geschichte, nicht akzeptierend, dass er tot ist. Die eigentliche Trauerarbeit hatte Haroun zu leisten. In der Inszenierung des iranischen Regisseurs Amir Reza Koohestani war er in drei Lebensaltern (auch gleichzeitig auf der Bühne) präsent: Haroun als siebenjähriger (Dennis Kharazmi/Jasper Kohrs), als junger Mann (Samouil Stoyanov) und als alter Mann (Walter Hess). Haroun war die Hauptperson in der Geschichte, denn ihm oblag es, sich zum sinnlosen Tod des Bruders zu verhalten und, so sieht es die gesellschaftliche Konvention und die „ewige Ordnung“ vor, ihn zu rächen.

Harouns erster Auftritt geschah als alter Mann. Walter Hess erschien nur als Kopf auf der Bühne im Angesicht seiner betenden Brüder in der Moschee und erklärte dem Publikum, dass er ein Ausgestoßener sei, denn er glaubt weder an Gott, noch hat er Weib und Kinder und er trinkt gern Alkohol. Auf die Androhung, man werde ihm die Beine ausreißen wegen seiner Gottlosigkeit, antwortete er lakonisch: „Darum bin ich auch nur als Kopf gekommen.“ Und genau diese bisweilen sehr komische Lakonie war es, die die Geschichte und die Inszenierung trug und kurzweilig machte. Dabei hatte sie durchaus einen existenzialistischen Beigeschmack. Am Ende erschoss Haroun den Franzosen Joseph, als dieser sich vor den Aufständischen der algerischen Unabhängigkeitsbewegung auf dem Hof Harouns in Sicherheit brachte. Gundars Āboliņš gab den Joseph, wie er zuvor den Mörder Meursault gab. Dabei ging ihm das Sterben nicht so leicht von der Hand wie die Tötung Musas. Der Paradigmenwechsel dieser Rollen war durchaus ein Indiz für die Absurdität des Daseins. Hier allerdings wurde sie ausdiskutiert. Sinngemäß: „Du hättest doch nur sagen sollen: geh, und ich wäre gegangen.“ „Wir haben dir oft gesagt: geh, und ihr seid nicht gegangen.“ „Aber wenn du es jetzt gesagt hättest, wäre ich gegangen.“  Es wurde noch absurder, als Haroun (Samouil Stoyanov) sich vor dem Polizisten (Hassan Akkouch) für die Tötung rechtfertigen musste. Die Unabhängigkeit war gerade errungen und somit war Haroun nach dem geltenden Gesetz ein gemeiner Mörder, denn Joseph war algerischer Bürger. Einige Tage zuvor wäre der Mord eine patriotische Tat eines Widerstandskämpfers gewesen und somit folgenlos geblieben. An diesem Punkt wurde überdeutlich, dass Amir Reza Koohestani die postkolonialen Positionen überwunden hat, die sich bei Camus noch finden.  

Die Inszenierung war ästhetisch sehr ansprechend dank der Ausstattung (Mitra Nadjmabadi) und den eingespielten Videoinstallationen von Meika Dresenkamp. Der poetische Inszenierungsansatz zielte nicht auf einen reinen Plot, den der Zuschauer im Kopf getrost nach Hause tragen konnte. Regisseur Amir Reza Koohestani erklärte diesen Ansatz im Programmheft so schlüssig, dass dem nichts hinzufügen ist: „(…), denn mein Theater folgt keiner kausalen Logik, es ist mehr ein visuelles Gedicht, eine Aneinanderreihung von lyrischen Bildern – ein Mond, zwei Männer, Nebelschwaden, das Geräusch des Meeres – und ein Gedicht verliert seinen Sinn, wenn man sich ihm mit Logik nähert.“

Ein sehenswerter Theaterabend, mit dem die Münchner Kammerspiele die neue Spielzeit eröffneten. Und das überaus zufriedene und freudige Gesicht des Autors Kamel Daoud ließ darauf schließen, dass die Inszenierung der Prosavorlage gerecht wurde. Was will man mehr!

Wolf Banitzki

 


Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung   

Nach dem Roman von Kamel Daoud

Gundars Āboliņš, Hassan Akkouch, Walter Hess, Mahin Sadri, Samouil Stoyanov, Maya Haddad, Dennis Kharazmi/Jasper Kohrs

Regie: Amir Reza Koohestani

Kammerspiele Wut von Elfriede Jelinek


 

Amüsement im Angesicht des eigenen Todes

Nachdem die für November 2015 geplante Inszenierung „Die Kontrakte des Kaufmanns 2015 ff.“ aus (mir) unerfindlichen Gründen ausgefallen war, nun die Uraufführung von „Wut“ von Elfriede Jelinek. Für die Inszenierung von Jelinek-Stücken/Texten heimste der jetzige Hausregisseur der Münchner Kammerspiele, Nicolas Stemann, in der Vergangenheit viel Lob ein. Das machte neugierig und gespannt. Stemann selbst trat vor Beginn der Vorstellung an die Rampe und erklärte in bester Entertainermanier das Vorhaben: Es handelt sich bei dieser Inszenierung um „work in progress“, sei also noch nicht fertig und ermuntere zugleich dazu, sollte die UA nicht gefallen, in eine spätere Vorstellung wiederzukommen, die dann ganz sicher befriedigender sein wird. Das Stück ist auch kein Stück, sondern ein Text, ohne Rollen, ohne dramatische Strukturen. Weiter erklärte Stemann, dass der Umfang des Textes 120 Seiten (Ohne Absätze, Punkte oder Kommata!) beträgt, den man (wegen einer anderen Formatierung) auf 140 Seiten gekürzt hat und von dem man allerdings noch nicht weiß, wie lange er wirklich dauern wird. Mit ca. vier Stunden muss allerdings gerechnet werden. Und da das Stück keine Pause hat, was eigentlich unzumutbar ist, wird man irgendwann die Türen öffnen. Die Zuschauer können, müssen aber nicht, den Saal verlassen, um Getränke und Speisen zu sich zu nehmen. Diese, und hier wurde ein echtes Tabu gebrochen, dürfen sogar mit in den Zuschauerraum gebracht werden.

Elfriede Jelineks Text verhandelt, vielschichtig mäandernd und mittels Sprachkaskaden, die sich immer wieder aus sich selbst speisten, das Thema Wut. Anlass dafür waren die tödlichen Attentate auf acht Redaktionsmitglieder des Satiremagazins „Charlie Hebdo“, auf zwei Polizistinnen und vier Kundinnen eines Supermarktes für koschere Lebensmittel. Die Autorin beließ es nicht dabei, nur die Wut der Attentäter in den Focus zu rücken, sondern ebenso die der hinterbliebenen Opfer, aber auch die der so genannten Wut-Bürger, der selbsternannten Abendlandretter. Neben der eigenen Wut über die Ohnmacht thematisiert Elfriede Jelinek schließlich sogar die Wut jener Menschen, die all die Wut, die in der Welt umgeht, wütend macht. Letztlich, und das ist immer wieder auch eine der herausragenden Qualitäten in Frau Jelineks Stücken/Texten, wird außerdem die blinde Wut zitiert, die bereits den antiken Helden und Totschläger Herakles veranlasste, anstatt sich gegen seine wirklichen Feinde zu wenden, seine eigene Familie auszulöschen. Tatsächlich sind in und mit den Texten der antiken Mythologien alle Konflikte gezeichnet und alle Geschichten erzählt. So ist die europäische Literatur immer nur Variation zum Thema.

Die Inszenierung beginnt mit der Projektion des berühmten Satzes von André Breton: „Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, solange man kann, in die Menge zu schießen.“ Schade, dass man es dabei beließ, denn wenn schon zitiert wird, sollte man nicht auf halbem Weg innehalten. So fügte Breton in „Zweites Manifest des Surrealismus“ aus dem Jahr 1930 an: „Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen - der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe.“ Was sagt das? Erst einmal, dass sich die Verhältnisse wohl kaum oder nur unzureichend geändert haben und es auch in dieser Welt das „elende Prinzip der Erniedrigung und Verdummung“ gibt. Es bedeutet aber auch, dass dem Menschen unter entsprechenden Voraussetzungen, und die scheinen gegeben zu sein, eine surreale Gewalttätigkeit innewohnt. Also Schluss mit dem ungläubigen Staunen.

  Wut  
 

Julia Riedler, Thomas Hauser, Annette Paulmann, Ensemble

© Thomas Aurin

 

Der Zuschauer erlebte, anders als in den Johann Simons-Inszenierungen, der stets bemüht war, die Jelinekschen Texte zu einer stringenten Geschichte zu verweben, eine Nummern-Revue, deren Inhalte sich an den jeweiligen, im Focus stehenden Gruppen von Menschen orientierte. Der Text hat kaum analytische Ansätze und so führte Elfriede Jelinek aus, wie die Wut-Protagonisten in ihre Zustände gerieten. Der Terrorist braucht keine tieferen Einsichten, die hat der Imam für ihn gehabt, er, der zum Teil Selbstermächtigte spiegelt sich in seiner Unverletzlichkeit, die ihm die selbstzerstörerische Gesinnung verleiht. „Das jetzt, das ist unser Moment! Ihr hattet eure Zeit, jetzt ist es unsere! Seht her und sterbt!“ Der Wutbürger gerät bei den ersten Fragezeichen aus dem Tritt in seinem Kälbermarsch, wie Brecht den Gesinnungsfaschismus charakterisierte, was ihn aber von seinen tumben Begründungen jedoch nicht zu trennen vermag. Eher kriegt der Frager eins auf die Fresse, als dass man sich in seinen unerschütterlichen Wahrheiten irritieren lässt. Ohne Frage ein probates Mittel, das Geschichte gemacht hat. Die wütenden Fragen derer, die den Taten ohnmächtig gegenüberstehen, verhallen ungehört, denn ein wesentliches Merkmal von Wut ist, dass sie taub macht. Immer wieder verirrt sich der Text zu anderen Krisenherden: das Internet, in private Beziehungen, nach Griechenland oder Ruanda.

Grundtenor der Texte ist Entsetzen und Ratlosigkeit. Also jegliche Erwartung, Antworten zu bekommen, sollten zurück geschraubt werden. Was auf der Bühne passierte, war theatralisch aufgeheizte Medienrealität. Dabei ging es über weite Strecken auch recht lustig zu. Nicolas Stemann machte es möglich. Nachdem bereits in der Introduktion über die „offene Form“ der Inszenierung parliert worden war, ging es unverbindlich weiter. Spielort war, sinnfällig für eine Betroffenheitsrevue, eine große holzfarbene Revuetreppe, gekrönt von einem dominant leuchtenden, grinsenden Smiley. Links ein Piano, rechts von der Treppe die Perkussionsinstrumente und blinkende Klangerzeugungselektronik. Davor ein paar Sessel, Sofas und Tischchen. Für die Bühne zeichnete Katrin Nottrodt verantwortlich. Viele Umzüge fanden auf offener Szene statt und es wurden auch Rauchpausen eingelegt. Angesichts so laxer Abläufe, die nicht selten den Eindruck von Privatheit erweckten, erscheint der Satz von Matthias Lilienthal, „Die Schauspieler fühlen sich wohl auf der Bühne.“ glaubhaft. Es wurde über weite Strecken aus den Textbüchern gelesen, was den Ausschluss von gestischer Darstellung bedeutete. Es ist schon erstaunlich, wie leicht so hochkarätige Schauspieler zum Verzicht ihrer künstlerischen Mittel, die sie so einzigartig machen, verführt werden können.

Bei Annette Paulmann hat das allerdings nicht geklappt. Diese scheinbar unzerstörbare Komödiantin hat mit ihrer Eifersuchtsszene schmerzlich spürbar gemacht, worauf weitestgehend verzichtet wurde, ästhetischer Genuss und glaubhafte menschliche Figuren. Ähnlich markant waren zudem die Gesangseinlagen von Jelena Kuljić, von der man spätestens seit „La Somnambula“ weiß, was sie auch darstellerisch zu leisten vermag. Ansonsten unterwarf man sich einer Ästhetik, die auf Vorstellung und nicht auf Darstellung setzte. So verwandelten sich die Schauspieler zu Beginn in Clowns (Kostüme Katrin Wolfermann), um diese harmlose Vorstellung bald wieder zu zerstören, als die Bewaffnung mit Kalaschnikows vollzogen war. Das erinnerte stark an Banksy „Insane Clown“. Streetart scheint den Kammerspielen momentan ohnehin näher zu sein, als Theatertradition. Wer es noch nicht wusste, erfuhr nebenher auch gleich, wie die Mechanik einer vollautomatischen Waffe funktioniert.

Ein anderes ästhetisches Highlight war der Auszug der Teenekämpferinnen in den „Heiligen Krieg“, schrillbunt und quietschig von Jelena Kuljić, Julia Riedler und Zeynep Bozbay gegeben. Diese Szene erzeugte einige Heiterkeit. Gegen Ende übersetzten die Schauspieler die Metapher „Shitstorm“ in die Realität; sie schieden auf der Bühne Fäkalien aus und bewarfen damit Projektionen von anderen Schauspielern. Richtig lustig war es in der Pause, als eine Göttersatire (nicht von Frau Jelinek) gegeben wurde. Da trat Jesus auf, dessen Kreuz zugleich ein Selfiestick war, und zeigte, wie man über Wasser gehen kann oder auch Heerscharen von Hungernden satt macht. Buddha führte vor, wie man schweigt oder denkt. Als allerdings Mo (Mohammed) im Minirock auftauchte, kippte die Geschichte wieder zurück in den Hass, denn seine Darstellung ist ja bekanntlich verboten und ruft sofort die Verteidiger des wahren Glaubens auf den Plan.

Schließlich nahm Nicolas Stemann mit Gitarre und die Musiker Thomas Kürstner und Sebastian Vogel auf dem Pausentalksofa Platz, um die Geschichte mit weiteren aktuellen Themen aufzuladen. Da durfte natürlich Böhmermann nicht fehlen. Wer glaubte, dass nach Götter-Satire und Fraueneifersüchteleien nun Gesellschaftssatire geboten würde, ging leer aus. Mit wenig dezenter Herablassung und einiger Selbstgefälligkeit erging man sich musikalisch und kalauernd. Einsichten, die Satire, wie kaum ein anderes Medium, befördert, blieben aus. Allein, den Anhängern dieser Theaterauffassung und der dazugehörigen Ästhetik gefiel es derart, dass sie die Inszenierung und alle Beteiligten nach dreidreiviertel Stunden frenetisch feierten. Die Zuschauer, die damit nicht einverstanden waren, hatte die Pause genutzt und den Heimweg angetreten.

Bei Inszenierungen von Texten Elfriede Jelineks muss man stets mit Überraschungen rechnen. Dass man mit Realität nicht rechnen kann, liegt auf der Hand, denn Elfriede Jelinek selbst ist nicht in der Realität. Dazu bekennt sie sich in ihrem Text. Dennoch können ihre hochpoetischen Denkkonstrukte durchaus hilfreich sein für die Orientierung im Umgang mit der Realität. Dass das Thema Wut und Terrorismus allerdings so viel Heiterkeit erzeugen kann, damit war nicht zwingend zu rechnen. Es ist auch fraglich, ob Frau Jelinek damit einverstanden wäre, denn eine Botschaft, so sie sie hineingeschrieben hat, kam nicht über die Rampe. Immerhin macht diese Inszenierung deutlich, dass es kaum ein Thema gibt, und sei es noch so barbarisch und deprimierend, das nicht für Entertainment taugt. Die These des großen Medienkritikers Neil Postman „Wir amüsieren uns zu Tode!“, hat längst den nächsten Level erreicht und lautet: „Wir amüsieren uns im Angesicht des eigenen Todes!“

Wolf Banitzki


Wut

von Elfriede Jelinek

Daniel Lommatzsch, Jelena Kuljić, Thomas Hauser, Julia Riedler, Annette Paulmann, Franz Rogowski, Zeynep Bozbay

Inszenierung: Nicolas Stemann

Kammerspiele Figaros Hochzeit nach Mozart/da Ponte und Beaumarchais


 

Auf der Suche nach dem wahrhaftigen Klang

Es ist ohne Frage immer problematisch, wenn nicht drin ist, was drauf steht. Drauf steht, „Figaros Hochzeit“ nach Mozart/da Ponte und Beaumarchais. Es bedurfte, sieht man einmal von den „Ohrwürmern“ ab, die jedem Opernfreund geläufig sind und die unschwer wiederzuerkennen waren, einer Menge Kenntnisse des Librettos und auch Fantasie, um die Liebesgeschichten um Susanna und ihren Figaro, den Grafen Almaviva und seine Gemahlin zu verstehen. Von den Nebenfiguren einmal ganz zu schweigen, denn es ist ein komplexes Werk aus einer Vielzahl von Charakteren, die sich in diffizilen familiären, sozialen und psychologischen Verstrickungen miteinander befinden. Aber: „Um diese Handlung im eigentlichen Sinne geht es heute Abend nicht. Stattdessen beschäftigt sich das Opernhaus der Kammerspiele (…) mit Musik und damit, einen eigenen, aus der Musik von Mozart hervorgehenden Klang zu finden. Wie kommt ein Ton zustande und wie entwickelt ein Ensemble mit ganz verschiedenen Fähigkeiten und Erfahrungen einen Klang, der eigenständig und direkt ist und der mozartschen Musik auf Augenhöhe begegnet?“ (Programmheft) Also ging es nicht um das epochale dramatische Werk von Beaumarchais, der ursprünglich Pierre Augustin Caron hieß und Uhrmacher war? Doch, allerdings wird die Frage, ob es revolutionär war oder die Revolution wie kaum ein anderes Werk befeuerte, nicht in den Focus der theatralen Auseinandersetzung gestellt. Worauf in der Inszenierung weitestgehend verzichtet wurde, sei an dieser Stelle nachgereicht. Hier ein Zitat Figaros aus dem Drama „Figaros Hochzeit oder der tolle Tag“, der seinem Herrn, den Grafen Almaviva, die Meinung sagt: „Weil Sie ein großer Herr sind, meinen Sie, ein großes Genie zu sein. Adel, Vermögen, Rang, Würden, all das macht so stolz. Und was haben sie geleistet für so viel Herrlichkeiten? Sie haben sich die Mühe genommen, geboren zu werden: weiter nichts! Im Übrigen ein Alltagsmensch, während ich, im dunklen Haufen verloren, nur um mich fortzubringen, mehr Witz und Wissen aufwenden musste, als man in den letzten hundert Jahren für die Regierung aller spanischen Provinzen verbraucht hat. Und Sie unterfangen sich, mit mir anzubinden?“

Zum besseren Verständnis des historischen Stellenwertes dieses Theaterstückes soll der französische König Ludwig XVI. gehört werden. Aufgefordert von seiner Frau Marie Antoinette, das Stück zur Aufführung frei zu geben, ließ der König das gesamte Drama im Beisein seiner Gattin lesen. Er kommentierte einzelne Passagen lobend, andere tadelnd. Zunehmend unwirscher kamen schließlich Äußerungen wie „Das geht zu weit!“ oder „unanständig“. Als jedoch der Monolog im fünften Akt gelesen wurde, sprang er auf: „Das ist abscheulich! Das wird niemals gespielt werden: Die Aufführung des Stückes wäre eine gefährliche Inkonsequenz, wenn man nicht zuvor die Bastille niederreißen wollte.“ Zur Erinnerung: Acht Jahre später wurde die Bastille gestürmt und geschleift und sowohl der König wie auch sein Gattin verloren ihre Köpfe.

  Figaros Hochzeit  
 

Nurit Stark, Thorbjörn Björnsson, Franz Rogowski, Jelena Kulic

© Christian Friedländer

 

Worum ging es nun in der Inszenierung von „Figaros Hochzeit“ unter David Marton, der für seine Inszenierung „La Somnambula“ durchgängig Lob erntete, über die Entdeckung des wahrhaften Tons hinaus? In der Frage verbirgt sich bereits eine Antwort. Es geht um eine Revolutionierung des Theaters, denn das alte, das „verschulte Kommerztheater“ verhindert schon durch sein Wesen und seine Struktur alles Spontane, wohl eine Grundvoraussetzung für Wahrhaftigkeit. Wie kann etwas spontan sein, wenn es über Jahre (Spielpläne, Engagements etc.) hinweg geplant wird? So zumindest äußerte sich David Marton im Programmheft und er zitierte in diesem Zusammenhang Pierre Boulez, der die Sprengung sämtlicher Opernhäuser gefordert hatte. Natürlich meinte Boulez das metaphorisch, wie auch David Marton, wenn er sich wünscht, dass das Opernhaus in den Kammerspielen am Ende der Spielzeit in Flammen aufgehen solle. Immerhin ernähren ihn die Kammerspiele recht gut. Stellt sich die Frage, ob diese Revolution tatsächlich vonnöten ist oder ob es sich einfach nur um spätpubertäre Bilderstürmerei handelt, die allemal Aufmerksamkeit erregt? Es hat einfach schon zu viele „Revolutionen“ am Theater gegeben. Die meisten sind als illustre Marginalien in der Theatergeschichte verzeichnet, manche als Phasen der bloßen Verwahrlosung. Bei allem Aufbegehren lief es immer darauf hinaus, Zwänge und Verkrustungen zu überwinden. Die Wege waren vielfältig, manchmal klug und mit echten Neuerungen, manchmal allerdings auch nur anarchisch, laut und ziellos.

Theater war in den Hochzeiten immer eine kollektive Idee, von der alle Beteiligten gleichermaßen ergriffen waren. Selten war gutes Theater der Ausdruck der individuellen Ideen eines Kollektivs. In diesen Fällen war Theater zumeist Propaganda oder Ausdruck von persönlichen emotionalen und politischen Befindlichkeiten, zumeist beliebig und vor allem wirkungslos. Der Verdacht, dass letzteres gerade jetzt an den Münchner Kammerspielen passiert, kann durchaus aufkommen, wenn Franz Rogowski im Programmheft bekennt: „Den Menschen in seiner Körperlichkeit auszustellen, schwitzend und schreiend in der Welt, ist meiner Ansicht nach ein weit politischerer Gestus, als ein 200 Jahre altes Revolutionsstück aufzuführen.“ Für Franz Rogowski mag das zutreffen, trifft es aber für das Publikum auch zu? Ist es für das Publikum wirklich so sinnstiftend, wenn Franz Rogowski schreiend und schwitzend menschliche Körperlichkeit ausstellt (von einem 200 Jahre alten Revolutionsstück inspiriert), oder ist es vielleicht doch hilfreicher, wenn dem Publikum auf künstlerische, die emotionale Intelligenz ansprechende Weise, moralische Werte und humanistische Haltungen vermittelt werden, die es in den Stand versetzt, gegen Unterdrückung, Bevormundung und Würdelosigkeit anzugehen? In „Figaros Hochzeit oder der tolle Tag“ geht es um nichts Geringeres als die Rechte des Bürgers in Staat und Gesellschaft. Was sollte also schlecht daran sein, wenn Theater eine moralische Anstalt ist?

Philipp Ruch vom Zentrum für Politische Schönheit meint: „Wo die Politik versagt, ist es die heilige Pflicht von Künstlern, Dichtern und Denkern, einzuspringen und das politische Vermächtnis dieser Zeit zu retten.“ (Website der Münchner Kammerspiele) Wenn sich Theater allerdings auf die Ebene von Politik (hinab-) begibt, verrät es seine ureigene Aufgabe, Anschauungen und nicht Meinungen zu bilden. So geschehen auch in Martons Inszenierung, der immer wieder kulturpolitische Dekrete und Manifeste einstreute. Gleich eingangs entpackten die Youngster in der Geschichte Figaro (Thorbjörn Björnsson), Susanna (Jelena Kuljić) und Cherubino (Franz Rogowski) eine vorsintflutliche kleine Druckerpresse, auf der sie Flugblätter herstellten. Inhalt war die Arie des Figaro, seine Kampfansage an den Grafen: „Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen, mag er’s nur sagen, ich spiel‘ ihm auf.“

Es gab Momente mit interessanten Bildern und hörenswerten Klängen, doch diese blieben weitestgehend singulär und sie waren auch nicht kontextual eingebunden. Eine schlüssige Dramaturgie war nicht auszumachen und so irrlichterte die Geschichte zwischen Momenten musikalischer Interpretation umher, die von harmonisch bis dissonant reichten und provokant Schrilles aber auch Lyrisches bereithielten. Im Eingangsbild sang das gesamte Ensemble chorisch auf stupende Weise das Eingangsduett  Figaros und Susannas: „Fünfe, zehne …“, in dem Figaro die Maße für die Möbel der gemeinschaftlichen Wohnstatt nimmt. Derartige Arrangement waren durchaus unterhaltend, doch unterm Strich hatte die fast zweieinhalbstündige Aufführung etliche Längen. Aus der aufkommenden Agonie rissen dann immer wieder die bekannten Motive, mit denen sich Mozart unsterblich machte. Szenische Umsetzungen der Geschichte, die, auch wenn sie vorab schon zu nebensächlich erklärt worden war, durchaus komplex ist, blieb für den Zuschauer, der die Handlung nicht aus der Mozart-Oper kannte, kryptisch und schwer entschlüsselbar.

Das Bühnenbild von Christian Friedländer hielt zwei Bühnenräume vor, an der Rampe vor einem gelben Vorhang ein Innenraum des gräflichen Schlosses, bei offener Bühne das Schloss selbst und der Park. Ein Weg aus Rindenmulch machte es möglich, das Schloss, das eigentlich erst ab dem ersten Stock als solches zu erkennen war und dessen Erdgeschoss aus Baugerüsten bestand, zu umkreisen. Davon wurde auch Gebrauch gemacht, insbesondere vom morgenrockbewandeten Grafen (Niels Bormann) und seiner verzweifelt um die Ehe ringende Ehefrau (Marie Goyette). Bei Mozart wandelte man im Grünen, bei Marton indes hetzte man durch das Gelände, um seinem Frust Luft zu machen. Und wieder war es Annette Paulmann, die in der Rolle der durchgängig alkoholisierten Marcellina daran erinnerte, welchen Zauber gutes Schauspiel entfalten kann. In der Zurschaustellung von Figuren, das war der vorherrschende Gestus, war sie durchaus als Fremdkörper auszumachen.

Musikalisch hatte David Marton viel aufgeboten. Neben einem ganzen Orchester, bestehend aus Petra Slottova (Flöte), Alissa Rossius (Flöte), Miriam Ströher (Oboe), Maximilian Strutynski (Klarinette) und Andrjei Slota (Cembalo) agierten die Solistin Nurit Stark (Violine) und Michael Wilhelmi (Klavier). Daniel Dorsch unterlegte als Klanggestalter. Auch war die musikalische Bearbeitung von Michael Wilhelmi und David Marton originell, witzig und gelegentlich auch überraschend. Allein, der tiefere Sinn der gesamten Unternehmung ließ sich am Ende nicht wirklich definieren. So setzte die Fluktuation des Publikums, das Mozarts „Figarios Hochtzeit“ erwartet hatte, weil es draufstand, recht früh ein. Sie riss bis zum Ende nicht ab und mancher, der ausgeharrt hatte, verließ das Haus in Ratlosigkeit.

Bemerkenswert war immerhin ein Zuschauersegment, das diese Inszenierung vorbehaltlos feierte. Vermutlich handelte es sich um eine nicht unbeträchtliche Zahl von „Erleuchteten“, die insbesondere durch Lachen, Begeisterungsbekundungen und Heiterkeit in Szenen von sich hören machten, in denen die meisten Zuschauer keinen echten Grund für Gefühlsausbrüche sahen. Vielleicht ist aber genau dieses Phänomen die Lösung für das anhaltende Dilemma an den Münchner Kammerspielen. Die Kammerspiele löst sein Publikum auf und wählt sich ein neues. Bei Intendant Baumbauer hat es auch funktioniert.

Wolf Banitzki

 


Figaros Hochzeit

nach Mozart/da Ponte und Beaumarchais

Niels Bormann, Jelena Kuljić, Franz Rogowski, Gundars Āboliņš, Annette Paulmann, Thorbjörn Björnsson, Marie Goyette, Nurit Stark, Michael Wilhelmi
Orchester: Petra Slottova, Alissa Rossius, Miriam Ströher, Maximilian Strutynski, Andrjei Slota

Regie: David Marton

Kammerspiele 50 Grades of Shame von She She Pop


 

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Im Dunkel der schwarzen Bühne wurde der angekündigte „Bilderbogen“ auf zwei schwarze Leinwände projiziert und von einer schwarzen Kanzel herab erklangen die Erläuterungen dazu. Führt doch das Thema Scham in die dunklen Abgründe des Menschen, in denen die farbigen Punkte der Unzulänglichkeiten aufleuchten und die Angst vor Entblößung, Schande, ihren Ursprung hat. Mit den Elementen Predigt, Darkroom und Körpereinsatz fand die Umsetzung, „Eine vertrauensvolle Unterweisung der Unerfahrenen mit den Mitteln der Kunst“ im „Frontalunterricht“ statt.

„Ihr wollt wissen was Liebe ist, wir sollen es euch zeigen …“, sang dazu der Musiker Santiago Blaum. Das Publikum, die Unerfahrenen zwischen 18 und 80 Jahren, harrte gespannt der Beleehrungen. Mit Fragen und Antworten zu, „Was ist verboten …Was ist erlaubt“, stiegen die Aktionisten unverzüglich ein. Darauf folgten die Erläuterungen zur praktizierten Vorgangsweise, die ersten der 50 Konzeptpunkte und die kurze Beschreibung der Personen in „Fifty Shades of Grey“, des Romans von E.L. James. Szenenpassagen aus dem 1891 entstandenen Drama „Frühlingserwachen“ von Frank Wedekind wurden als tragender Rahmen verwendet und lakonisch vorgelesen, ganz so als wäre dieser Mix eine Art von Aufklärung, dem Wissens- und Entwicklungsstand angemessen. Ganz so, als hätte es weder Sigmund Freud noch Oswald Kolle, noch Beate Uhse und die wilde 68ziger Bewegung gegeben und in den Schulbüchern wäre das Thema Sexuelle Aufklärung nach wie vor ausgespart. Allein die Naivität im Umgang und der Erfahrung dürfte sich kaum verändert haben, und dafür wurde wohl dieser Abend entwickelt. Der Zuschauerraum war bis auf wenige Plätze besetzt.

Im Mittelpunkt der Aktion standen die Leinwände. Der darauf projizierte „Bilderbogen“ beschränkte sich im Wesentlichen auf die Montage von Körperteilen der verschiedenen Aktivisten. Abwechslungsreich und gelegentlich witzig wurden Köpfe, Oberkörper und Beine kombiniert, sodass dem Kopf eines Aktivisten ein weiblicher Oberkörper zugeordnet wurde, und/oder das Geschlecht wiederum männlich war oder drei verschiedene Beine zu einem Bild zusammengefügt waren. Ganz so, wie es üblich ist, Beziehungen zu wechseln, wechselten die Aktivisten die Bekleidung. Am Ende, nach Wedekind, standen weiße Knochen und ein Schädel. Eine Stunde und fünfunddreißig Minuten lang wechselten die farbigen Projektionen der Körperteile, ein geradezu perfektes technisches Spiel.

Dazwischen und davor sprachen die Aktivisten von Emotionen und Befindlichkeiten im Zusammenhang mit Sex, ganz so, als wäre es auch eine Sprechstunde beim Psychologen. Dabei kam auch ans Licht, dass „beim Sex an Hausarbeit oder den Job“ gedacht wird und diese Äußerungen ließen sich perfekt nutzen, um Lacher und Beifall im Publikum zu generieren.

SheShe Pop, ein Frauen-Performance-Kollektiv aus Berlin, „verweigert sich den männlich geprägten Machtstrukturen des hierarchischen Kulturbetriebs“. Die unmittelbare Auseinandersetzung mit Figur und Thema ist ihr Aktionsraum, den sie durch persönlichen Bezug zu klassischen oder aktuellen Themen austesten und füllen. Weltweit finden sie Anerkennung.

Aktionismus mutet an wie der Versuch alten Strukturen zu benutzen, zu hinterfragen und aufzulösen, ohne ein Angebot oder gar eine Welt dagegen stellen zu können. In einer Zeit, in der Socialmedia, also die elektronisch-globale Form des Nachbarschaftstrasches die Öffentlichkeit beherrscht, lässt sich eine Aussage blitzschnell zu einer gewaltigen Welle auftürmen. Aufmerksamkeit erreicht, wer es versteht die Spitze der Welle zu reiten.

   50 Grades of Shame  
  © Judith Buss  

Im Programmheft steht die Aufzählung der 50 Arten von Scham. Wobei sich die Punkte 01 und 41 widersprechen und  davon auszugehen ist, dass es Punkt 41 war, der dieser Aktion zugrunde liegt. „Ich habe kein Problem damit, was-auch-immer zu tun. Das Geheimnis ist, dass ich kein Schamgefühl habe.“ Wie sonst ließe sich erklären, dass eine willkürliche „Zusammenstellung von Texten und Fundstücken des Produktionsteams unter Verwendung von Texten von BrenéBrown, Demokrit, Werner Ettmeier, Melanie Hinz, E.L. James, Dakota Johnson, Monica Lewinsky, Oliver Meiler, Laurie Penny, Henriette Reker, Jens Rosselt, Jean Paul Sartre, Eve Kosowsky, Sedgwick, Hans Unstern, Frank Wedekind und aus der Bibel, dem Glossar der Orgonomie, Meyers Konversationslexikon 1885-1892, den Synonymwörterbuch der deutschen Sprache und einem Foto von Jean Baptiste Mondino“, sowie der Titel eines geschickt vermarkteten Weltbestsellers und ein realistisches Drama einfach für egozentrisch exhibitionistische Zwecke genutzt werden.

Denn, eine Zusammenstellung von Sätzen und Aussagen schafft noch lange keine Geschichte oder gar einen Theatertext. Vielmehr entsteht durch die Vielzahl ein scheinbar gehaltvolles Gemenge, welches durchaus mit dem allgemein üblichen Gerede gleichzusetzen ist und intellektuellen Anstrich bestenfalls vorgibt. „Man sollte nicht immer an Sex denken …Das Leben hat mir die kalte Schulter gezeigt …Das Leben ist Geschmacksache …Man sollte sich beim Anblick einer Banane nicht viel denken, außer wenn es Kunst ist, dann ist es erlaubt …“

Nimmt man den Satz von Joseph Beuys „Alles ist Kunst wenn es dazu erklärt wird.“, aus seinem Kontext und ernst, folgt ihm blindlings, so entsteht daraus eine Ideologie die das Banale zum gehuldigten Objekt stilisiert. Bedenkt man, dass dies einen Markt kreierte, einen Kunst-Markt, so rückt Geschäftigkeit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Bedenkt man auch, dass jeder wahre Gedanke, der zu Ideologie erhoben wurde, schwere Irrtümer hervorbringt und zu geistiger wie materieller Verelendung führt, so erkennt man den Ursprung von Propaganda oder neuzeitlich PR. Und, es ist niemals nur die Zeit, die damit totgeschlagen wird!

 

C.M.Meier

 


50 Grades of Shame

von She She Pop 

Gunars Äbolins, Sebastian Bark, Lilli Biedermann, Santiago Blaum, Anna Drexler, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Walter Hess, Christian Löber, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou, Florian Schäfer, Berit Stumpf
Musik: Santiago Blaum

Konzept/Regie: She She Pop

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