Kammerspiele  Dionysos Stadt von Antikenprojekt von Christopher Rüping


 

Grandios … an die Wand gefahren

Seit langem angekündigt und mit Spannung und auch Unbehagen erwartet: „Dionysos Stadt“, das Antikenprojekt von Christopher Rüping. Nun war es endlich soweit und ein ungeduldiges Publikum hatte sich in den Kammerspielen, deren Plätze nicht alle besetzt waren, eingefunden. Sehr schnell wurde deutlich, dass sich viele Kollegen, vor allem aber Schauspielstudenten eingefunden hatten. Das Unbehagen wuchs. Und dann ging es auch irgendwie los. Nils Kahnwald plauderte sich in den Prolog hinein, erklärte die Abläufe des Abends, und natürlich verzichtete er nicht auf die von allen scheinbar erwarteten Witzeleien. Es fanden auch die üblichen Mätzchen statt. Stichwort “Szenisches Rauchen“. Auf der Bühne war eine Raucherecke eingerichtet worden, eine Bank aus dem Garten der Kammerspiele, auch für das Publikum. Deren Bedürfnisse wurden allerdings durch eine Raucherampel (Rot und Grün) reguliert. Toll, man fühlte sich ganz wie Zuhause. Einem Zuschauer wurden 50 Euro versprochen, wenn er bis zum Schluss durchhält. Noch ein paar Anmerkungen zu kommenden gruppendynamischen Einlagen, wie gemeinsames Swingen, Klatschen und Bodysurfing, und los ging’s.

Erster Teil: Prometheus. Dem Gott war es zur Aufgabe gemacht, den Menschen zu erfinden. Er, gespielt von Benjamin Radjaipour, tat es und er gab, eine Sünde, für die er schwer büßen musste, den Menschen das Feuer und damit den freien Willen, sich zu entwickeln. Zeus zürnte ihm nicht nur, sondern ließ ihn an den Felsen des Kaukasus schmieden, wo er sich 3000 Jahre lang von einem Adler tagtäglich die Leber aus dem Leib hacken lassen und sich vom Kot des Adlers, der sich über ihn entleerte, ernähren musste. Bald war Benjamin Radjaipour, in einem Käfig hoch im Bühnenhimmel hängend mit weißem „Kot“ bedeckt. Textgrundlage war „Prometheus gefesselt“ nach der Übersetzung von Heiner Müller und John von Düffel, aber auch Texte von Platon, Goethe und Heiner Müller fanden Eingang. Besonders die Müllertexte entfalteten eine archaische Wucht und eine grandiose Bilderwelt im Auge des Betrachters. Die Bühne von Jonathan Mertz war weitestgehend leer und es bedurfte auch weiter nichts, denn die Sprachkulissen sogen den Zuschauer in eine gigantische archaische Bilderwelt. Mittendrin, Prometheus war ja für Äonen mit seinem Leid beschäftigt, wurde die Geschichte der Io erzählt, die Mutter aller Griechen und vor allem eines besonderen, Herakles, der Prometheus vom Felsen erlösen sollte. Die quirlige Maja Beckmann, gehörnt und von einer lästigen Bremse geplagt, erfuhr ihr Schicksal aus dem Munde Prometheus’ und schickte sich drein, denn in jedem Aufbruch liegt ja der Beginn eines Unterganges. Hier sollte es der von Zeus sein.

Der, arabisch und englisch sprechend, göttlich-propper von Majd Feddah gespielt, brachte das Grundproblem auf’s Tapet. Prometheus hatte dem Menschen die Freiheit und damit die Wissenschaft und die Technologien gegeben, und Zeus wäre nicht Zeus, wenn er nicht im Voraus sehen könnte, was der Mensch damit machen würde. Der Mensch würde „Bomben“ bauen und sich gegenseitig vernichten! Und, nachdem Herakles Prometheus in einer dreitausend Jahre währenden Rettungsaktion endlich vom Felsen gepickt und triumphal nach Hause gebracht hatte, sollte der zweite Teil des Abends den Beweis für die These von Zeus erbringen. Doch zuvor kam es zu einer Deklamation von Goethes Ballade „Prometheus“. Das war ein Moment mit Gänsehauteffekt. Zuletzt betrat ein Mann die Szene, der den zweiten Teil ästhetisch sehr stark dominieren sollte, der Drummer Matze Pröllochs. Er brachte dezent, aber bestimmt trommelnd den Menschen auf seinen Weg, auf dem der militärische Gleichschritt bald der Rhythmus werden sollte. Die zwei Stunden vergingen wie im Flug und die darstellerische Leistung euphorisierte, oder um es mit Goethe zu sagen: „Im Tale grünet Hoffnungsglück.“ Es war fesselndes Theater mit einer Fragestellung, die brennend aktuell ist.

Für den zweiten Teil mit dem Titel: „Troja. Der erste Krieg", hatte Bühnenbildner Jonathan Mertz ein mehrstöckiges Gerüst, versetzt mit weißen Wandplatten errichtet, in dessen Erdgeschoss das Schlagzeug von Matze Pröllochs integriert war. Das Gebäude war die Stadt Troja, auf deren Wänden bald der Widerschein eines entfesselten Krieges flackern sollte, und die zuletzt in Scherben ging. Peter Brombacher erschien als Moira, das Schicksal, und erklärte den Aufmarsch und die Stärke des von den griechischen Helden angeführten Heeres. Dass er sich dabei eines Telepromters bedienen musste, war absolut nicht anstößig. Für diesen Text hätte er vermutlich den ganzen „Lear“ lernen können und es wäre vermutlich leichter gefallen. Der Krieg begann zu toben, kommentiert von Brombachers Moira und Gro Swantje Kohlhofs Nyx, Göttin der Nacht. Über den satten und tragenden Elektroniksound von Jonas Holle trommelte Matze Pröllochs ekstatisch die Geräusche des Krieges. Laut war es, aber mitreißend, und ein Regen faszinierender Videobilder floss an den Mauern Trojas hinab. Die wichtigste Handlung: Die Helden schlachteten das gemeine Fußvolk, aber auch einander ab.

  Dionysos Stadt  
 

Ensemble

© Julian Baumann

 

Der drei Stunden währende Part, er hatte beinahe etwas von einem Rammsteinkonzert, war ein Rausch von artifiziellen Bildern, jeglicher Realismus blieb dabei außen vor, die das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dieser Krieg, von Homer als Kunstwerk erschaffen, war ein Overkill, der, wenn der trojanische Krieg tatsächlich stattgefunden hätte, unbedingt eine Massenvernichtung gewesen wäre. Diesem Theorem von Zeus, formuliert in seiner Anklage gegen Prometheus, konnte an diesem Punkt nicht mehr widersprochen werden. Ein echter Höhepunkt dieses Teils war die Verteilung der Trojanischen Frauen an die griechischen Könige. Gro Swantje Kohlhof, Wiebke Mollenhauer und Maja Beckmann spielten die Hekabe, die Andromache, die Helena und die Kassandra und offenbarten dabei ein darstellerisches Vermögen, wie man es in den Kammerspielen seit langem nicht mehr gesehen hatte. Chapeau! Auch diese drei Stunden waren ausgesprochen kurzweilig.

Die Lautstärke hatte zudem die permanenten Begeisterungslacher aus den hinteren Reihen vergessen gemacht, die im ersten Teil auf sehr ablenkende Weise immer wieder die Frage aufgeworfen hatte, was ist hier komisch? Es liegt der Schluss nahe, dass hier nicht über witzige Inhalte gekichert wurde, denn es geschah zumeist bei martialischen Vorgängen, es war vielmehr ein anbiedernder Zuspruch an die gestandenen Kollegen, denen man lästig lautstark bedeuten wollte, wie unglaublich toll sie das doch machten. Sensibel ist jedenfalls anders. Im zweiten Teil hatten die Zeitgenossen, wie bereits angemerkt, allein schon wegen der Lautstärke kaum eine Chance.

Einen letzten Höhepunkt erlebte der Zuschauer, als Kassandra kurz vor ihrem Tod von einem Traum berichtete, in dem alles rückwärts ablief, bis zu dem Punkt der Unschuld. Die Bilder waren zum Teil überwältigend, beispielsweise, wenn Waffen Wunden auf wunderbare Weise wieder verschlossen. Oder der Sohn Hektors, den die Griechen von den Zinnen der Burg hinab geschleudert hatten, um ihn zu töten, wieder hinaufsprang, um in die Arme der Mutter gelegt zu werden. Und da waren sie wieder, die Lacher, die diese Bilder als komisch empfanden und wieder stellte sich die Frage, was geht in ihnen vor. Doch die Frage stellte sich nicht lange, denn was folgte, war offensichtlich ihr Element.

Vorerst ging man als Zuschauer von Begeisterung getragen in die einstündige Pause, hielt freudig erregt seine Brotzeit und war sich sicher, dass auch die verbleibenden drei Stunden Spielzeit keine Qual werden würden. Doch, das Schicksal ist bisweilen unbarmherzig. Der dritte Teil beinhaltete die „Orestie“ von Aischylos. Eingang fanden aber auch Passagen aus „Elektra“ von Sophokles und aus Stücken von Euripides zum Thema. Als die Anzeigetafel für die Surtitles daran erinnerte, dass im dritten Teil die Texte weitestgehend improvisiert werden und eine Übersetzung ins Englische daher nicht möglich sei, war das Unbehagen wieder da. Fortan blödelte man sich durch die Geschichte, in der gemordet wird und in der eine ganze Familie an einem Fluch zerbricht, der göttlich genannt wurde. Zwei junge Männer machten gänzlich unerwartet von dem im Prolog offerierten Angebot Gebrauch und stiegen während einer Bettszene von Klytaimnestra und Aigisthos auf die Bühne, setzten sich direkt neben dem Bett in die Raucherecke und stillten ihren Nicotinhunger. Das Königspaar reagiert indigniert, wie auch nicht, versuchten sie doch gerade einen künstlerischen Vorgang zu realisieren. Die Ampel stand auf Grün, also warum nicht Rauchen, wenn man nichts Besseres vor hat?

Zur Hochzeit von Elektra und Pylades bat man Teile des Publikums auf die Bühne. Es wurde ausgeschenkt und vorgeblich gefeiert. Nils Kahnwald verlor als Orest zunehmend den Verstand und demonstrierte dies, indem er die Hosen herunterließ, sich am Ende gänzlich entkleidete und zwischen dem auf der Bühne sitzendem Publikum herumgeisterte. Am schmerzlichsten allerdings war der Verlust der Sprache, die zuvor fünf Stunden lang Magie entfaltet hatte. Doch dem Publikum schien es zu gefallen und die Lacher liefen zu ganz großer Form auf. Umso verwunderlicher war die unfassbare Stille am Ende dieses Teils, als Matze Pröllochs als Apollon im silbernen Anzug wie Major Tom in den Bühnenhimmel gezogen wurde, von wo aus er verkündete, dass das Zeitalter der Rache von nun an beendet sei und das Zeitalter des Rechts beginnen würde. Nebenbei wurde auch Helena noch in den Himmel gezerrt, sie in Gold, denn der Ort war ihr zukünftiger Wohnsitz. Das Bild war von verstörender Kitschigkeit, die Lacher indes brachte es zum seligen Verstummen. Die Formlosigkeit, die das Ganze annahm, scheint eindeutig kein Sakrileg zu sein.

Betrachtet man noch einmal die Dramaturgie des Abends, so verblüffte sie mit der durchaus gerechtfertigten Anklage von Zeus, man hätte dem Menschen nicht die Freiheit der Entscheidung und Entwicklung geben dürfen. Tatsächlich können wir uns der Einsicht nicht verschließen, dass der Mensch in seiner ethisch-moralischen und weltanschaulichen Entwicklung mit der technologischen nicht schritthalten konnte und er in seinen negativen Charaktereigenschaften zum Spielball der realisierten Technologien geworden ist. Gegen die heutigen Kriege und Konflikte wirkt der trojanische Krieg wie ein dörflicher Konflikt, denn zu Zeiten des angenommenen Krieges im 12. Jahrhundert v.Ch. waren die Einwohnerzahlen von blühenden Metropolen vier- höchstens fünfstellig. Homer hat daraus einen Blockbuster gemacht. Allem Pessimismus zum Trotz hat Aischylos den Menschen bis an die Schwelle gebracht, die das menschliche Recht und die eigentliche humanistische Ordnung ermöglichte. Damit war Zeus allerdings nicht widersprochen, denn die menschliche Entwicklung steht heute am Scheideweg. Die derzeitigen Technologien sind für einen kollektiven Suizid und zwar der gesamten Menschheit, ausreichend. Nein, die Wirkung, die in den ersten zwei Teilen des Abends aufgebaut worden war, erfuhr einen peinlichen Abbruch und landete in der Banalität. Wie ein bockiges Kind war Christopher Rüping in seinen wohlgerichteten Sandkasten gesprungen und hatte die unfertige Kathedrale zertreten, geradezu als fürchtete er sich vor einem verbindlichen Ergebnis. Der Tespiskarren war grandios an die Wand gefahren.

Der Theatertag und das Projekt sollte die ruhmreichen Zeiten der antiken Dionysien beschwören, in denen das Volk der (freien) Griechen, von Athen subventioniert, zu einer großen Bildungsschau geladen wurden, um sich staatsbürgerkundlich weiter zu bilden. Verbunden war diese Veranstaltung mit dem religiösen Dionysoskult, was bedeutete, dass es sich dabei stets um höhere Bewusstseinsebenen handelte. Es ging um „vernünftige Ordnungen“, nach denen man suchte und dank Aischylos auch fand. Die „Orestie“ war ein Quantensprung in der menschlichen Entwicklung, vermutlich der wichtigste. Davon war in den Kammerspielen leider nichts zu spüren.

Die anstrengenden Tage der Dionysien endeten immer in Satyrspielen oder Komödien, in denen man es richtig krachen ließ. Immerhin, man saß täglich viele Stunden im Dionysos-Theater unterhalb der Akropolis und konsumierte Stücke, an denen mancher Zeitgenosse heute noch scheitert und sich in Ermangelung tieferer Einsichten durch die Veranstaltung kichert. Auch das Programm des Abends „Dionysos Stadt“ sah ein solchen Satyrspiel vor und es fand auch statt, allerdings stiftete es mehr Verwirrung als dass es Party war. Sämtliche Darsteller des Abends spielten als Satyrn verkleidet Fußball. Fünfundzwanzig Minuten schaute man erwartungsvoll zu, denn immer wieder hielt einer der Satyrn inne und starrte in den Himmel, wo zwei Screens einen solchen zeigten. Dann trat Nils Kahnwald ans Mikrofon und berichtete von der Melancholie des Fußballers Zidan. Ein paar poetische Zeilen, und es wurde weiter gekickt… Titel: Was hat das mit Dionysos zu tun? Das mögen zukünftige Besucher herausfinden.

Ein unbotmäßiger Gedanke zuletzt: Wäre zwischen 18.15 und 19.15 Uhr im Theater ein Feuer ausgebrochen, es wäre ein grandioser Abend geworden.

Wolf Banitzki

 


Dionysos Stadt

Antikenprojekt von Christopher Rüping

Maja Beckmann, Peter Brombacher, Majd Feddah, Nils Kahnwald, Gro Swantje Kohlhof, Wiebke Mollenhauer, Benjamin Radjaipour, Live-Musik Matze Pröllochs

Inszenierung: Christopher Rüping

Kammerspiele  Der Vater von August Strindberg


 

Lebe dein Transsein

„Und so gehe ich wie ein Menschenfresser und Henker herum. Welch´ ein Lebensberuf Schriftsteller zu sein: wie ein Fleischhauer töten und verkaufen.“ Diesen Satz schrieb Strindberg 1898 an seine Tochter Kerstin aus zweiter Ehe, die weiland erst vier Jahre alt war und die bereits mit 8 Monaten Briefe vom Vater bekam. Strindberg, der sich selbst immer wieder ins Zentrum seiner Dramen und Texte rückte, verhinderte mit seinen literarischen Morden und Selbstmorden den eigenen Untergang. Nachzulesen ist dies auch in seiner Autobiografie, die sein Leben von seiner Geburt 1849 bis ins Jahr 1900, zwölf Jahre vor seinem Tod beschrieb. (Ausgenommen die Jahre 1888 bis 1892.) Darin fixierte er einen gewaltigen Fundus aus Zwangsvorstellungen, Verfolgungswahne, Angstzuständen, Eifersuchtsqualen und Selbstmordsehnsüchten.

Viele der persönlichen Konflikte nahmen in seinen Dramen Gestalt an. So auch in dem Jahr 1887 uraufgeführten Trauerspiel in drei Akten „Der Vater“. 1877 heiratete Strindberg die Schauspielerin Siri von Essen, die Ex-Frau seines Freundes Baron von Wrangel. Er führte sieben Jahre eine glückliche „moderne“ Ehe, in der Kinder geboren wurden. Nach seinem Pamphlet „Das neue Reich“ schlug Strindberg eine extreme Ablehnung seiner Landsleute entgegen, so dass er Schweden verließ und sechs Jahre mit seiner Familie durch Europa reiste. Seine Ehe kriselte. Strindberg glaubte, dass Siri ihn in lesbischer Liebe betrog, dass sie ihn bespitzelte und ins Irrenhaus bringen wollte. Schließlich reichten beide 1887 auf postalischem Weg die Scheidung ein. Als Strindberg 1889 nach Schweden zurückkehrte, hatte er bereits 25 Bücher verfasst. Zwei Jahre später wurde er geschieden und verfasste zu diesem Anlass eine „Verteidigungsrede eines Toren“, in der folgende Sätze stehen: „Die Geschichte ist jetzt aus, meine Geliebte. Ich bin gerächt: wir sind quitt.“

Dieses Ende war dem männlichen Protagonisten in „Der Vater“, einem Rittmeister, nicht vergönnt. Er erlag nach einem gnadenlosen Kampf gegen seine Frau Laura einem tödlichen Schlaganfall. Ausgelöst wird der finale Kampf durch einen Streit um die Zukunft der Tochter Bertha. Mutter Laura sieht in ihr eine begabte Malerin. Der Vater indes möchte die Tochter in die Stadt schicken, damit sie dort zu einer Lehrerin ausgebildet wird. Das hätte den Vorteil, dass sie in dem Fall einer Nichtverheiratung ihren eigenen Lebensunterhalt erwirtschaften könnte, im Fall einer Heirat immerhin über ein solides Rüstzeug für die Erziehung der Kinder verfügen würde. Laura ist in diesem Streit jedes Mittel Recht, sie bringt sogar Zweifel an der Vaterschaft des Rittmeisters ins Spiel. Der Rittmeister gerät in einen Strudel aus Verzweiflung und beginnenden Wahnsinn, an dessen Tiefpunkt er in einer Zwangsjacke steckt, um seiner Frau auch noch den letzten Gefallen zu tun, nämlich eines natürlichen Todes zu sterben. So bleiben sie und die Tochter Dank der Pension des Rittmeisters wirtschaftlich versorgt. Lauras Deutung des Geschehenen: „Die Macht, ja. Worum ging es in diesem ganzen Streit auf Leben und Tod denn sonst, wenn nicht um die Macht?“

  Der Vater  
 

Benjamin Radjaipour, Daniel Lommatzsch, Zeynep Bozbay

© Thomas Aurin

 

Heutige Vorbehalte gegen das Stück werden zumeist mit dem patriarchalischen Charakter der Familienkonstellation begründet und so kippt Nicolas Stemann den Konflikt, der bei Strindberg in dem Kampf zwischen das in den Wahnsinn getriebenen Prinzip der Vernunft und einem bigotten Egoismus besteht, vor dem Hintergrund der Me-Too-Kampagne in eine Neuauflage der Emanzipationskritik. Natürlich ist die Interpretation als Konflikt zwischen Vernunft und Egoismus heutigen tags unstatthaft, da er politisch nicht korrekt ist (Mann-Vernunft / Frau-Egoismus), und man gerät automatisch in den Verdacht, patriarchalischen Strukturen das Wort zu reden. Dem würde man allerdings entgehen, wenn man das Stück als ein Drama des ausgehenden 19. Jahrhunderts betrachten würde. Immer wieder erstaunlich ist, und das betrifft häufig auch die Ästhetik der Kammerspielinszenierungen, dass es dabei nicht um Ergebnisse, um Wahrheitsfindung oder gar Erkenntnisse geht, sondern um die Debatte an sich „für ein gemeinsames, offenes, auch verstörendes und verunsicherndes Nachdenken über das Mensch-Sein heute“. (Werbetext Kammerspiele) Wenn dem nicht so sein sollte, ist es den Machern gelungen, eventuelle Erkenntnisse gut zu verbergen.

Für Nicolas Stemann sind Dramen, und mögen sie eine noch so lange und erfolgreiche Rezeptionsgeschichte haben, nichts anderes als vage Vorlagen. Dabei sind die Eingriffe so radikal wie umstritten. Ein wesentlicher dramaturgischer Fakt im Strindbergschen Stück ist das Fehlen eines Vaterschaftstestes, von dem 1887 noch niemand zu träumen wagte. Den bringt Stemann jedoch ins Spiel, stattet die Tochter mit den neuzeitlichen Erkenntnissen zum Thema aus und erzeugt damit eine gewaltige Unlogik. Immerhin ist die Ungewissheit der Vaterschaft der wesentlichste Druckpunkt, den Rittmeister in den Wahnsinn zu treiben. Eingebaut wurde zusätzlich ein ganzer Verhau von zeitgenössischen Texten zum Thema, vorgetragen von Zeynep Bozbay und Benjamin Radjaipour, die gemeinschaftlich in die Rolle der Tochter Bertha schlüpften. Ansonsten wurden den Darstellern Julia Riedler und Daniel Lommatzsch keine konkreten Rollen zugewiesen, jeder sprach einmal die eine oder die andere, zumeist auf prosaische und weniger dramatische Weise. Manche Szenen wurden bis zu vier Mal eingesprochen, wobei auch ein Pastor, der Arzt Dr. Östermark, die Amme und der Hausangestellte Nöjd zu Wort kamen. Es ist schwer vorstellbar, dass sich der Zuschauer ohne Kenntnis des Werkes orientieren konnte. Letztgenannte Figuren blieben nuturgemäß völlig abstrakt, womit sich ein komplexes Zusammenspiel der Personen, hinter jeder steht schließlich ein markanter Lebensentwurf, erübrigte.

Das scheint in Nicolas Stemanns Inszenierung auch nicht vordergründig von Interesse zu sein. Vielmehr wird unablässig des Wort, der Satz gestisch und sprachlich ins Komische gekippt und verkalauert, wodurch sich große Teile des Publikums durch das geistige Labyrinth kichern konnten. Am Ende wussten sich diese Zeitgenossen gut unterhalten und honorierten das Gesehene mit frenetischem Applaus. Formen braucht es also nicht wirklich. Alle Darsteller trugen die gleichen geschlechtslosen Anzüge. (Kostüme Marysol del Castillo) Warum auch nicht, ist ja weder die Rolle, noch das Geschlecht ernsthaft zugeordnet. Das führte letztlich dazu, dass verminderte Maßstäbe (künstlerischer Verzicht allenthalben) angesetzt werden, der Freiheit oder auch Formlosigkeit der Interpretation angemessen. Allerdings ist auch diese Formlosigkeit nicht konsequent. Denn spätestens als Wiebke Puls die finale Szene sprach, war die wunderbare Kraft der Interpretation im Sinn einer Figur unüberhör- und unübersehbar. Das machte dem Betrachter schmerzlich bewusst, was er nicht zu sehen bekommen hatte.

Inhaltlich wurde jedenfalls nichts festgeklopft, was man hätte mit nach Hause tragen können. Auch auf die Gefahr hin in den Verdacht zu geraten, „über den ‚Gender-Wahn‘ herzuziehen, diskriminierte Identitätsweisen und Daseinsformen als dekadentes Establishment zu brandmarken und die Sehnsucht nach einem ‚Take back control‘ zu schüren“ (Werbetext Kammerspiele), sei festgehalten: Es gibt einen tragischen, unüberwindlichen Dualismus der Geschlechter. Das Angebot von Gender-Spezialisten ist der gutgemeinte Ratschlag zur Selbstauflösung in einem Gender-Spektrum zwischen Cis-Männchen und Cis-Weibchen (ganz widerwärtige Geschöpfe, die ihr, nach der Geburt verliehenes Geschlecht annahmen und es fortan performten) in dem sich jeder selbst zu verorten hat und sich dabei sein Transsein (Viele wissen gar nicht, dass sie ein solches haben.) eingestehen und es auch leben soll. Verzweifelte Frage: Sind das wirklich unsere drängenden, existenziellen Sorgen?

Wolf Banitzki

 


Der Vater

von August Strindberg

Zeynep Bozbay, Daniel Lommatzsch, Wiebke Puls, Benjamin Radjaipour, Julia Riedler

Inszenierung: Nicolas Stemann

Kammerspiele  Trommeln in der Nacht  von/nach  Bertolt Brecht


 

Entscheidung gegen die Entscheidung

Vier Jahre war der Frontsoldat Andreas Kragler vermisst. Dann kehrt er, ein lebender Leichnam, aus Afrika heim in ein Land, in dem es gärt. Es gibt viele Kriegsheimkehrer wie Kragler, die die Gesellschaft destabilisieren, „verwilderte, verlotterte, der Arbeit entwöhnte Abenteurer, denen nichts mehr heilig ist“, ausgebrannt und leer, ohne Boden unter den Füßen und ohne Orientierung. Der Aufforderung, sich der Revolution anzuschließen, begegnet Kragler mit den Worten: „Mein Fleisch soll im Rinnstein verenden, dass Eure Idee in den Himmel kommt? … Ich bin ein Schwein und das Schwein geht heim.“ Sein Daheim ist Anna, die Geliebte, die er vier Jahre zuvor in der Hoffnung verließ, dass sie ihm treu bleibt. Anna ist die Tochter von Herrn Balicke, einem skrupellosen und geschäftstüchtigen Kriegsgewinnler, der fett geworden ist wie eine Made am großen Kadaver. Herr Balicke möchte seine Tochter mit dem Fabrikanten Friedrich Murk verkuppeln, damit dieser seine Geschäfte einmal übernehmen kann. Murk hat Anna bereits geschwängert und ist auch willens, sie zu ehelichen, als am Verlobungsabend Kragler in der Tür steht. Tief enttäuscht von der Untreue seiner Geliebten, wirft sich Kragler nun doch in die Arme der Spartakisten, die sich anschicken, das Zeitungsviertel in Berlin zu erobern. Unmittelbar vor der Entscheidungsschlacht besinnt sich Anna, widersteht den Verlockungen der materiellen Sicherheit, verlässt Murk und kehrt zu Kragler zurück. Der muss sich entscheiden für den revolutionären Kampf oder das kleine persönliche Glück. Die Entscheidung fällt Kragler nicht schwer. Er wählt Anna und das „große, weiße, breite Bett“.

Brecht hat sich über zwei Jahre sehr schwer getan mit dem vierten Akt und damit über den vermeintlichen „moralischen Wert“ des Stücks. Am 2. September 1920 schreibt er in sein Tagebuch: „(…) Und der starke, gesunde, untragische Ausgang, den das Stück von Anfang an gehabt hat, wegen dem es geschrieben ist, ist doch der einzige Ausgang, alles andere ist ein Ausweg, ein schwächliches Zusammenwerfen, Kapitulation vor der Romantik. Hier kehrt ein Mensch auf der scheinbaren Höhe des Gefühls plötzlich um, er schmeißt die ganze Pathetik zum alten Eisen, läßt sich von seinen Bewunderern und Jüngern am Arsch lecken und geht mit der Frau heim, wegen der er das ganze tödliche Tohuwabohu gemacht hat. Das Bett als Schlußbild. Was Idee, was Pflicht!“ Brecht findet sich zur gleichen Zeit durch Döblins „Wadzeks Kampf“ bestätigt: „ (…) finde darin anklingende Ideen. Der Held läßt sich nicht tragisieren. Man sollte die Menschheit nicht antragöden.“

Bertolt Brecht sah sich lebenslang immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, er würde sich für seinen Erstling wegen der politischen Aussage schämen. Wer sich ein wenig intensiver mit Brecht beschäftigt hat, wird wissen, dass Schamgefühl etwas war, womit sich Brecht nicht aufgehalten hat. Und wenn er später vehement erklärte, dass er das Stück geschrieben hat, um Geld zu verdienen, kann man ihm das getrost glauben. Brecht war ein begnadeter Schnorrer, ließ sich in Amerika von Thomas Mann seine Zigarren (Produktionsmittel) finanzieren, obgleich er, wie die in den 80er Jahren veröffentlichten FBI-Akten verrieten, bestens mit üppigen finanziellen Mitteln ausgestattet war. Der Vorwand, Geld verdienen zu müssen, war für Brecht immer ein probates Argument, sich aus der Verantwortung zu stehlen. So verdrückte er sich 1922, im Jahr seiner Hochzeit mit der Opernsängerin Marianne Zoff, sehr häufig nach Berlin. Auch hier schützte er vor, Geld verdienen zu müssen, denn er werde schließlich Vater. Seinem Tagebuch vertraute er schon am 18. April 1921 an: „Was soll ich mit einer schwangeren Frau? Ich habe Lust, gut zu ihr zu sein. Die Hiebe sausen dick.“ Brecht seine von ihm selbst praktizierte Moral vor dem Hintergrund seiner späteren Klassenkampfphilosophie vorzuwerfen, ist lächerlich spießbürgerlich. Er war im Grunde, was das menschliche Wesen anbelangte, stets sehr aufrichtig, was seine Literatur immerhin zu Weltliteratur machte. Dass er selbst log, betrog und stets auf seinen Vorteil bedacht war, macht ihn nicht sympathischer, aber doch immerhin glaubhafter.

  Trommeln in der Nacht  
 

Damian Rebgetz, Hannes Hellmann, Wiebke Mollenhauer, Christian Löber, Wiebke Puls, Nils Kahnwald

© Julian Baumann

 

Christopher Rüpings Inszenierung sollte an die Uraufführung in den Münchner Kammerspielen vor 95 Jahren erinnern, zugleich aber auch eine Neuinterpretation sein. Besonders reizvoll erscheint ihm dabei die Tatsache, dass Brecht noch nicht der politische Theatermacher war, der seine Klassenkampftheorie in eine theatrale proletarische Ethik verwandelte, um didaktische Lehrsätze zu klopfen. Rüping: „Ich verweigere eine klare politische Stellungnahme im vierten Akt. Warum? Weil konkrete politische Forderungen, selbst die berechtigtsten, auf der Bühne so besserwisserisch, so hohl und dämlich klingen, dass ich als Zuschauer ermüdet die Arme vor der Brust verschränke und die Ohren zuklappe.“ (Programmheft)

So wurde der 1. und der 2. Akt quasi in einer restaurierten Fassung gespielt. Da es nur begrenzt Materialien über das Ereignis gibt, war etliches spekulativ, dabei aber dennoch ungeheuer wirkungsvoll. Es war einer der seltenen Momente, in denen man eine Vorstellung davon bekam, wie dieser genialische, ungeschliffene, blut- und schmutztriefende Text von einer Theaterbühne herabdonnern kann. Eingeleitet wurde das Spiel mit einer Beschreibung von Lion Feuchtwanger, auch, um auf die „Wartesaal“-Inszenierung zu verweisen und auf die Tatsache, dass Feuchtwanger nicht nur der Entdecker Brechts war, sondern über viele Jahre auch literarischer Wegbegleiter.

Regieanweisungen Brechts wurden eingehalten und so kann man wohl mit Fug und Recht davon ausgehen, dass die historische Authentizität sehr groß war. Das Bühnenbild, von Otto Reigbert konnte dank einiger (gestellter) Fotos von Jonathan Mertz nachempfunden werden. Es entsprach ganz sicher den Vorstellungen Brechts und wurde vor den Augen des Publikums erklärt und montiert. Zudem waren, wie in der Uraufführung auch, Transparente im Zuschauerraum aufgehängt, auf denen der Satz „Glotzt nicht so romantisch!“ prangte. Damit nahm Brecht schon mit seinem Erstling auf das Epische Theater als Gegenentwurf zum Illusionstheater der Naturalisten und Realisten vorweg. Darauf verwies auch der Text mit Sätzen wie „Es ist alles Krampf!“ und „Es ist ganz gewöhnliches Theater!“

Die Darsteller waren angehalten, einfach und geradezu kindlich zu sprechen, was gleichsam eine Vorwegnahme des Verfremdungseffektes war. Das Ergebnis war faszinierend, denn die Texte traten durch die mangelnde Identifikation extrem in den Vordergrund. Die Darsteller persiflierten damit zugleich ihre eigenen Rollen und sie desavouierten die Figuren über eine bisweilen extreme Komik. Hannes Hellmann gab einen gradlinig tumben Karl Balicke, dessen Weltbild leicht auf eine Seite Rechenpapier passte. Seine Ehefrau Amalia Balike wurde von einer verhärmten, stocksteifen und unsinnlichen Wiebke Puls gegeben, die stets an den Realitäten vorbei das spielte, was in ihrem kleinbürgerlichen Verständnis sein sollte. Ihre Klage konnte die Bühne selbst aus dem hintersten Winkel erfüllen. Das hatte Gänsehautqualitäten.

Ebenso Nils Kahnwald als Friedrich Murk, dessen vorgebliche Sittenstrenge mehr Behauptung als Weltbild war. Und so begann das Spiel damit, dass er die Hosen fallen ließ, um Anna Balicke auf dem Zimmertisch zu besteigen und zu schwängern, denn das war eine der dramaturgischen Voraussetzungen für die Komödie. Wiebke Mollenhauer spielte sie mit mädchenhafter Verunsicherung, getrieben vom Sollen, ausgebremst vom Wollen. Christian Löbers Kragler hatte durchgängig wenig komische Züge. Weißgeschminkt wie eine Mumie wandelte sich sein tragischer Grundgestus erst im Augenblick der Erlösung. Zwischen allen diesen Figuren irrlichterte Damian Rebgetz, der Mann für die gesanglichen Zwischenspiele, wie ein verschmitzter Puck umher.

Die ersten zwei Akte, „Bei Balicke“ und „Picadillybar“, verhießen einen grandiosen Theaterabend. Doch da hatte der Zuschauer seine Rechnung ohne den Wirt gemacht und der, also Christopher Rüping, hatte eine andere Dramaturgie vorgesehen: Der erste Akt wie gehabt. Eine bürgerliche Scheinwelt voller Lüge und Verrat. „Aber dann steht Kragler vor der Tür und die Welt bekommt Risse. Im zweiten Akt bricht sie auseinander. Im dritten Akt liegt sie in Trümmern. Und dann, im vierten Akt, wird sie gänzlich von der Bühne gespült und muss einer neuen Welt Platz machen, die ihr Gegenteil ist.“ (Programmheft) Eingeleitet wird der Wandel zur Ästhetik Christopher Rüpings mit der Demontage des Bühnenbildes, das an den Seiten abgestellt wurde. Akustisch hört man die Stimmen der Darsteller aus der Uraufführungsfassung. Dann folgten, die Darsteller, ausgenommen Christian Löber, trugen durchsichtige steife Plastikanzüge, zwei Varianten der Entscheidung Kraglers. Er zog in die revolutionäre Schlacht und Mutter Balick schnitt Anna die Kehle durch. Und/Oder Kragler folgte Anna auf das „große, weiße, breite Bett“.

Der Übergang von Brecht zu Christopher Rüping, der sich für den Zuschauer nicht allzu verständlich darstellte, hätte beim Autor vermutlich eine heftige Übelkeit verursacht, denn sie erfolgte unter viel Theaternebel, mit gleißenden Lichtsäulen und oratorienhafter Musik. Auf den Weg in Rüpings neue Welt erklangen Songs wie „When a Man Loves an Woman“ von Percy Sledge. Die Grenzen unerträglicher Süßlichkeit wurden jedoch überschritten, als Damian Rebgetz zu der donnernden Orchestermusik von Smetanas „Die Moldau“ den Song „The House of the Rising Sun“ von den Animals sang. Und so endete, was so verheißungsvoll begonnen hatte, wieder in der Auflösung in einem musikalisch-heiteren Theaterspaß. Was nun die „neue Welt“, für die Rüpings fulminante Regie-Welle die Bühne freigespült hatte, sein sollte, blieb zumindest dem Kritiker verborgen. Die alte Welt, also die re-imaginierten Theaterkulissen der Uraufführungsfassung, wurde von Bühnenarbeitern zertrümmert und durch einen Gartenhäcksler geschoben. Dem Publikum gefiel es und es bedankte sich frenetisch und johlend. Zugegeben, der zweite Teil erfüllte wieder die Kriterien einer Spaßveranstaltung. Frei von deutlichen Botschaften oder erstaunlichen Einsichten war sie allemal.

Über die von Otto Falckenberg besorgte Uraufführung berichtete der (Brecht überaus geneigte) Kritiker Herbert Ihering, hingerissen von der „beispiellosen Bildkraft der Sprache“: „Der vierundzwanzigjährige Dichter Bert Brecht hat über Nacht das dichterische Antlitz Deutschlands verändert“ (Berliner Börsen-Courier, 5. Oktober 1922). Auf seine Empfehlung hin wurde Brecht im November 1922 mit dem Kleist-Preis geehrt. Der Erfolg und die Anerkennung hat vermutlich auch etwas damit zu tun, dass Brecht eine Entscheidung getroffen hatte, hier eine Entscheidung gegen ein politisches Engagement. Ob es ehrenwert ist, eine Entscheidung gegen eine Entscheidung auf der Bühne zu treffen, sei dahingestellt. Es befördert immerhin die Beliebigkeit, und die tut dem Erwartungsfreien auch nicht weh. Um noch einmal daran zu erinnern, worum es im Hintergrund von Brechts Komödie ging: Beim Spartakus-Aufstand in Berlin verloren 1200 Menschen ihr Leben.

 

Wolf Banitzki

 


Trommeln in der Nacht

von/nach Bertolt Brecht

Christian Löber, Damian Rebgetz, Hannes Hellmann, Nils Kahnwald, Wiebke Mollenhauer, Wiebke Puls

Inszenierung: Christopher Rüping

Kammerspiele Die Attentäterin  von Amir Reza Koohestani nach dem Roman von Yasmina Khadra


 

Ohne Erlösung

Amin ist Arzt in Tel Aviv mit einer vielversprechenden Karriere. Die Chefarztstelle wird in Kürze vakant. Er betreibt seinen Beruf mit Leidenschaft und totaler Hingabe. Die Welt um ihn herum nimmt er nur peripher wahr. Er ist arabischer Israeli, was das Leben für ihn und seine ebenfalls muslimische und arabisch aussehende Frau nicht einfacher macht. Doch er hadert nicht mit seinem Schicksal, sieht er sich doch selbst als einen anständigen und guten Staatsbürger. Er wird mitten in der Nacht unter dem Vorwand, eine hochgestellte Persönlichkeit zu operieren, ins Krankenhaus gerufen. Dort muss er einen Leichnam identifizieren, von dem eigentlich nur noch der Kopf existiert. Es ist seine Ehefrau, die er fern von Tel Aviv bei der Verwandtschaft glaubte und die bei einem Selbstmordattentat inmitten eines Kindergeburtstages zu Tode kam. Der kaum fassbare Schmerz steigert sich bei Amin ins Unermessliche, als ihm der ermittelnde Polizist erklärt, dass Amins Frau Sihem die Attentäterin war.

Die polizeilichen Untersuchungen richten sich nun auch gegen Amin, dessen Leben, so wie er es bisher gelebt hatte, zu Ende ist. Er ist über Nacht zur persona non grata geworden, ein menschlicher Peilsender. Nach nur vier Tagen wird Amin aus der Untersuchungshaft entlassen. Er reist zur arabischen Verwandtschaft seiner Frau, wo sich Sihem über einen längeren Zeitraum immer wieder aufgehalten hat. Mit im Gepäck reist, lautlos und unsichtbar, der israelische Geheimdienst. Bei den Verwandten angekommen, muss Amin feststellen, dass die Verwandtschaft Bescheid wusste, dass Sihem im Ort als Märtyrerin gefeiert wird und dass die nächste Anwärterin auf einen verlängerten Selbstmord bereits auf der Schwelle steht. Die Argumente für den unaufhaltsamen Krieg ähneln sich auf erschütternde Weise auf beiden Seiten der Front und auch die Begründungen für die Notwendigkeiten des tödlichen Kampfes. Amins Argumente, die Waffen beiseite zu legen und zu reden, verhallen ohne Echo. Am Ende kommt, was gängige Praxis der Israelis ist, wenn sie den Feind einmal geortet haben. Sie töten mittels Raketen.

So absurd der Konflikt zwischen Israel und Palästina auch anmutet, so zwingend scheint die innere Logik des Tötens zu sein. Auge um Auge. Und es gibt scheinbar keinen Ausweg. Es war nicht das Anliegen Amir Reza Koohestanis, der nach „Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung“ mit der Adaption des gleichnamigen Romans des algerischen Autors Yasmina Khadra, erschienen 2005, sein zweites Theaterprojekt an den Münchner Kammerspielen realisierte, den Jahrhundertkonflikt zu lösen. Vielmehr ging es ihm darum, „einen Beitrag zur Europäischen Wahrnehmung dieser Region“, gemeint ist der Nahe und Mittlere Osten, zu leisten. Tatsächlich aber wurde in der zweistündigen Inszenierung nichts offenbar, was der interessierte Zeitgenosse nicht schon gewusst haben könnte. Wenn etwas neu und überraschend war an der Inszenierung, dann die Tatsache, dass die Existenz weiblicher Attentäterinnen Ausdruck für eine Form des Feminismus ist. Und diese Tatsache scheint ernsthaft diskussionswürdig zu sein: Weibliche Selbstmordattentäterinnen als Opponentinnen in einer patriarchalischen Gesellschaft. Quasi das letzte Aufbegehren. Es könnte natürlich auch andere Gründe geben. Erwägt wird auch romantische Liebe zu einem Mudschahed, “die Frauen in den ‚altruistischen Suizid‘ treiben“. Wichtig ist vor allem, dass wir verstehen lernen.

  Die Attentaeterin  
 

Lena Hilsdorf, Benjamin Radjaipour, Thomas Wodianka, Samouil Stoyanov, Clara Liepsch

© Judith Buss 2018

 

Dieses Denken ist einigermaßen zynisch und zeugt von einem intellektuellen Hochmut. Statt alle Energien darauf zu verwenden, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten, verwenden wir unsere intellektuelle Neugier darauf, es zu verstehen. Allerdings nicht, um die Ursachen zu ergründen und den Konflikt zu beenden, sondern um anspruchs- und bedeutungsvoll darüber reden zu können. Was sonst könnte Regisseur Amir Reza Koohestani meinen, wenn er freimütig gesteht: „Das Wunderschöne der zeitgenössischen Kunst ist, dass der Künstler genauso verwirrt ist wie das Publikum. Ich bin ebenso verwirrt wie mein Publikum.“ (Programmheft S.16) Es erstaunt schon, wenn der Künstler sich als Diskursant bescheidet und bewusst darauf verzichtet, zu mobilisieren, konkret adressierte Kritik zu üben oder gar zum (gewaltfreien) Kampf aufzustacheln. Genau diese durchschlagende Wirkungslosigkeit scheint in den Kammerspielen programmatisch zu sein. In den USA, wir geben uns so gern internationalistisch, nennt man das: paralysis by analysis. Immerhin, wir bleiben up to date, denn wir reden darüber.

Amir Reza Koohestani brachte immerhin Rollentheater auf die Bühne, was an den Kammerspielen ja inzwischen neben Diskurskultur, Party und Performance eher die Ausnahme ist. Die Bühne von Mitra Nadjmabadi verfügte über einen großen, drehbaren Tisch mit Bänken. Das Mobiliar war so neutral gehalten, dass es sowohl Krankenhauskantine, Villa am Meer oder auch das Haus von Sihems Familie sein konnte. Flankiert waren die Möbel von zwei fest installierten Kameratürmen, von denen sich einer fernbedient bewegen konnte. Damit war der Überwachungsstaat Israel hinreichend beschrieben. Koohestani setzte die Kameras ein, um die Gesichter der Darsteller auf die große weiße Wand im Bühnenhintergrund zu beamen. Die dargestellten psychischen Zustände der Figuren wurden so überdeutlich. Wie schon in seiner ersten Arbeit  „Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung“ besetzte er eine tragende Rolle, nämlich die der Ehefrau Sihem mit Mahin Sadri. Sie trat erst nach dem Ableben Sihems auf und erklärte sich und ihre Tat. Das geschah sanft deklamatorisch und auf Farsi, was sehr melodiös und poetisch klang.

Die überzeugendste schauspielerische Leistung indes lieferte Maja Beckmann als Freundin Kim und als Amins Schwester Leila ab. Allerdings hatte die Regie es kaum vermocht, die beiden Frauen deutlich differenziert anzulegen. Ungeachtet dessen überzeugte Maja Beckmann mit Präzision und Präsenz. Ebenso machte es Freude, Samouil Stoyanov als Kommissar Moshe und auch als Amins Schwager Yasser zu erleben. Stoyanovs Gestaltung wohnt stets eine unfreiwillige Komik inne, die Schmunzeln lässt, die Figur aber nicht beschädigt oder denunziert. Während Thomas Wodianka in der Rolle des Amin nicht immer den Ton traf und gelegentlich seinem eigenen seelischen Leiden hinterher hechelte, überzeugte Benjamin Radjaipour durch eine klar differenzierte und grundverschiedene Gestaltung seiner Rollen als Naveed, Amins Freund und als Amins Neffe.

Der Geschichte spürte man ihre Herkunft aus der Prosa durchaus an, obgleich Amir Reza Koohestani konsequent eine dramatische Struktur geschaffen hatte. Das ohnmächtige Ringen um Verständnis für die Tat gerann zu einem argumentativen Austausch, bei denen jedoch keine Schläge spürbar wurden, obgleich es um Leben und Tod ging. So wurde die Inszenierung durch das Entsetzliche des Inhalts vorangebracht, nicht aber durch den Konflikt, der daraus resultierte. Eine Erlösung gab es nicht und der Plot am Ende war vorhersehbar. Spätestens als das Handy Amins eingeschaltet wurde, um Musik abzuspielen, konnte man sich auf den Knall vorbereiten. So fühlten sich die zwei Stunden Spieldauer auch mindestens wie zwei Stunden an.

 

Wolf Banitzki

 


Die Attentäterin

In einer Fassung von Amir Reza Koohestani
Nach dem Roman von Yasmina Khadra

Maja Beckmann, Walter Hess, Lena Hilsdorf, Clara Liepsch, Benjamin Radjaipour, Mahin Sadri, Samouil Stoyanov, Thomas Wodianka

Inszenierung: Amir Reza Koohestani

Kammerspiele  Wartesaal nach Lion Feuchtwanger


 

Und weil der Mensch ein Mensch ist…

„Ich habe für dieses Buch (‚Exil‘ – Anm. W.B.) zwei Motive aus der historischen Wirklichkeit verwandt: die Entführung eines emigrierten Journalisten und den Ankauf und die Lahmlegung einer deutschen Emigrantenzeitung durch Agenten des Dritten Reichs. In der historischen Wirklichkeit war der entführte Journalist ein Mann namens Berthold Jacob, und die aufgekaufte Zeitung war die Zeitung ‚Westland‘, die in Saarbrücken erschien.“ Mit diesen Worten beschrieb Lion Feuchtwanger das Thema seines Romans Exil, der dritte und letzte Teil seiner „Wartesaal“-Trilogie, im 1939 verfassten Vorwort. Für den ersten Teil „Erfolg“ nahm er sich drei Jahre Zeit und beendete ihn 1930. Den zweiten Teil, „Geschwister Oppermann“, schrieb er ganz gegen seine Arbeitsgrundsätze in nur sechs Monaten und beendete ihn im September 1933. „Mir lag daran, das Leserpublikum der Welt möglichst schnell über das wahre Gesicht und über die Gefahren der Naziherrschaft aufzuklären.“ Den dritten Teil mit dem Titel „Exil“ begann Feuchtwanger 1935 und beendete ihn im August 1939, wenige Tage vor Ausbruch der II. Weltkrieges. Die hässliche Fratze des Nationalsozialismus ließ die letzte Maske fallen und entfesselte eine bis dahin unvorstellbare Apokalypse.

Kaum ein literarisches Werk über den aufkommenden und sich etablierenden Faschismus ist so aussagekräftig, so analytisch, so aufrichtig und so lehrreich wie Lion Feuchtwangers „Wartesaal“-Trilogie. Feuchtwangers Anmerkung, „Das Buch ‚Der Wartesaal‘ gibt nicht wirkliche sondern historische Menschen.“ macht das Buch zu einem exemplarischen Geschichtswerk, das sich von historistischen Arbeiten darin unterscheidet, dass der Mensch in all seinen seelischen, moralischen und gesellschaftlichen Facetten beschrieben wird.

Stefan Pucher hat dieses gewaltige Geschichtsgemälde auf die Bühne der Münchner Kammerspiele gebracht. Er nannte die Inszenierung „Wartesaal“, bezog sich aber vornehmlich auf die Geschehnisse im dritten Band „Exil“. Darin geht es um die Familie Trautwein, die in einer kleinen Herberge in Paris vegetiert. Sepp Trautwein ist Jude und verlor nach Machtantritt der Nazis seine Professur an der Münchner Musikakademie. Er arbeitet an einem Oratorium mit dem Titel „Die Perser“. Vorlage ist das erste überlieferte Drama Europas aus der Feder des griechischen Dramatikers Aischylos. Das ungewöhnliche des Stückes besteht darin, dass die Geschichte des Krieges zwischen den Griechen und den Persern aus der Sicht der Perser, der „Barbaren“, der Verlierer erzählt wird. Sepp Trautwein ist ein Mann der Musik, der immerhin erkannt hat, dass Kunst nicht unpolitisch sein sollte. Sepp Trautwein, auf der Bühne der Kammerspiele grandios agil und sehr bajuwarisch verkörpert von Samouil Stoyanov, stellte selbstreflektorisch fest: „Gute Musik und schlechte Politik vertragen sich nicht, das ist für ihn nicht mehr eine Meinung, das ist zu einem Teil seines Wesens geworden.“ Der Mann ist zudem ein Kämpfer: „Seine Musik jedenfalls, wenn sie klingen soll, dann muß reine Luft da sein. Und wenn reine Luft nicht da ist, dann muß man sie sich schaffen.“

An seiner Seite, besessen von der Idee, „Die Perser“ im französischen Rundfunk zur Aufführung zu bringen, die Ehefrau Anna. Maja Beckmann zeigte eine unermüdliche Frau, die leise und dennoch nicht unbestimmt, die Interessen ihres Mannes vertrat, der ihr keinen Dank zollte. Sie arbeitete sich auf, verdiente den Lebensunterhalt der Familie als Sprechstundenhilfe bei dem jüdischen Zahnarzt Dr. Wohlgemuth (Stefan Merki), und nahm sich am Ende, nach der Uraufführung des Oratoriums, klammheimlich das Leben. Sepp Trautwein hatte an dieser Aufführung kaum einen Anteil. Er verfolgte geradezu besessen die Idee, den von den Nazis auf Schweizer Hoheitsgebiet gekidnappten und nach Deutschland verschleppten Journalisten Friedrich Benjamin, dessen Stelle Sepp in den „Pariser Nachrichten“ eingenommen hatte, mit der Kraft seiner Worte zu befreien. Seine Artikel und Aufsätze sind den Machthabern in Berlin ein Dorn im Auge und bald schon werden Pläne geschmiedet, die „PN“, wie die „Pariser Nachrichten“ kurz genannt werden, zu eliminieren.

  Wartesaal  
 

Daniel Lommatzsch, Annette Paulmann

© Arno Declair

 

Inzwischen gelang es den Nazis, journalistisch gegen zu steuern. Erich Wiesener, der vielleicht beste Journalist des „Deutschen Reiches“ schwang seinerseits die Feder, verharmloste, beschwichtigte und beruhigte, selbst manchen Exilanten. Unter seiner Betrachtung wurde Barbarei zu notwendiger Politik, die sich vielleicht „ein wenig zu heftig gebärdete“. Daniel Lommatzsch verlieh der Figur Grandezza. Selten sah man einen servilen Nazi mit so viel Eleganz und Geschmeidigkeit. Er verriet die Figur nicht, sondern zeigte ihre großen intellektuellen und auch sprachlichen Potenzen, was die Figur wahrhaft diabolisch machte. Erst als Erich Wiesener von seinen „demokratischen Jugendsünden“ eingeholt wurde und er strauchelte, offenbarte sich die ganze Erbärmlichkeit seines Charakters. Sein Opportunismus war nicht einer politischen Idee, sondern seinem Hedonismus und seiner Selbstverliebtheit geschuldet.

An seiner Seite ein anderer Nazi, Walther Reichsfreiherr von Gehrke, genannt „Spitzi“. Er war als Mitarbeiter der Deutschen Botschaft an der Entführung Benjamins maßgeblich beteiligt. Auch sein Motiv war kein politisches, sondern der Eitelkeit geschuldet. Er brauchte 30.000 Franc, um sich bei Dr. Wohlgemut seine „Rattenzähne“ richten zu lassen. Jan Bluthardt bewies mit seiner exzellenten Darstellung einmal mehr, dass die Rollen der Fieslinge allemal mehr hergeben, als die der „Guten“. Als ihm am Ende das halbe Gesicht weggeschossen wurde, avancierte er zum Märtyrer mit Horst-Wessel-Aura. Ihn zog es jetzt ins „Reich“, zumal Dr. Wohlgemut sich weigerte, ihm seine „Fresse zu richten“, selbst wenn er ihm noch einmal so viel Geld zahlen würde, mit dem er 100 oder 200 jüdischen Leidensgenossen aus dem Reich freikaufen könnte. Irgendwann kommt halt der Punkt, wo die Taktik endet und reine Kollaboration beginnt.

Den Nazis gelang es schließlich, die „PN“ zu übernehmen. Sie hatten die in Deutschland lebende Tochter des Verlegers Louis Gingold wegen Rassenschande hinter Gitter gebracht und erpressten ihn nun. Peter Brombachers Gingold war ein Geschäftsmann, der sich um Politik wenig kümmerte. Seine Haltung resultierte aus einer Abgeklärtheit der Geschichte gegenüber, in der die Juden immer verfolgt waren. Warum also politisch kämpfen und sich nicht besser auf das Wesentliche, auf die Geschäfte konzentrieren? Auch Freiheit kann als Ware betrachtet werden, obgleich es Gingold zutiefst anwiderte. Der erste Schritt war die Entlassung Sepp Trautweins. Doch den warf das nicht aus der Bahn: „Der starke Mann ficht, und der kranke Mann stirbt.“ Dieser Satz stammt aus dem Munde Macky Messers in Brechts „Dreigroschenroman“. (Brecht hat ihn allerdings von Rudyard Kipling übernommen, ganz nach dem Brechtschen Motto: Wenn du stielst, stehle bei den Besten.)

In der Tatsache, dass sich die Nazis dem Druck beugten und Friedrich Benjamin freigaben, sah Trautwein die Bestätigung, dass sich der Kampf lohnt. Das Vorbild dieser Figur Feuchtwangers hatte indes nicht so viel Glück. Berthold Jacob, bekennender Pazifist, wurde von den Nazis zwei Mal entführt, das zweite Mal, als er im Begriff war, in Lissabon das Schiff nach Amerika zu besteigen. Er erlag den Torturen im Februar 1944 in einem Berliner Gestapogefängnis. Angesichts seines Schicksals drängt sich die Frage auf, ob dieser Mann nicht besser geeignet wäre zum Gedenken an den Widerstand gegen die Nazis, als Stauffenberg und seine Verschwörer.

Sepp Trautwein wandte sich wieder der Musik zu und komponierte eine Sinfonie mit dem Titel „Wartesaal“. Das Buch „Exil“ endet mit der Uraufführung der Trautweinschen Sinfonie in London. Er, dem es unangenehm war, sich in einen Frack zu zwängen, verfolgte die Aufführung in Paris am Radio. Feuchtwanger beendete das Buch mit den Worten: „Die letzten, starken Takte des ‚Wartesaals‘ klangen auf, da die unsichtbaren Wände einstürzen und der langerharrte Zug nun doch kommt, die Wartenden aufzunehmen.“ In der Inszenierung wurde allerdings zum Schluss ein anderer Text von Feuchtwanger zu Gehör gebracht: „Trübe Gäste“. (Im Programmheft zur Inszenierung abgedruckt. Unbedingt lesenswert!) Es ist ein Text über Exilanten, über ihre Situationen und über ihre Befindlichkeiten. Feuchtwanger beschreibt darin mit tiefer Menschlichkeit, was diese Situation mit den Menschen macht. Der Text erschütterte, insbesondere aus dem Mund von Annette Paulmann, die in der Inszenierung durchgängig als Erzählerin fungierte.

Es war endlich wieder einmal einer dieser unvergesslichen Abende, die unauslöschlich im Bewusstsein bleiben, nicht nur, weil eine große und großartige Botschaft in die Welt gebracht wurde, sondern weil erlebbar war, welche bewegende Kraft gutes Schauspiel haben kann. Barbara Ehnes Bühne war funktional und technisch aufwendig, es waren viele Räume, die zusätzlich magische Perspektiven bekamen, weil sie per Videoübertragung auf einen großen Screen gebeamt wurden. (Live-Video Ute Schall) Doch bei allen technischen Raffinessen und bildgewaltigen Einblendungen waren es die Schauspieler, die leisteten und dominierten. Es erfüllt ein wenig mit Wehmut, zu wissen, wie großartig diese Darsteller sind, es aber so selten erleben zu dürfen.

Es ist ein besonderes Verdienst von Stefan Pucher, dass er dieses Thema, das ja ein Dauerthema ist, nicht nur unterhaltsam, was die üblichen performativen Veranstaltungen vielleicht auch sein mögen, sehr eindringlich und nachhaltig über die Rampe brachte. Ein äußerlicher Beweis dafür war: Das (die eigene Anwesenheit betonende) Kichern des Publikums, das inzwischen beinahe durchgängig in den Inszenierungen der Kammerspiele zu hören ist, verstummte nach kürzester Zeit gänzlich. Wer immer in der Vorstellung saß und zukünftig sitzen wird, wird nicht mehr über das Thema Flüchtlinge und Exil sprechen können, ohne an diese Aufführung zu denken. Die Inszenierung war zwingender und auch informativer zum Thema als die endlosen Talkshows und Reportagen, weil sie unverhohlen und mit (ideologisch) unverstelltem Blick auf den Menschen, der in erster Linie Mensch ist, geschaut hat. Genau so funktioniert gutes Theater.

Wolf Banitzki

 


Wartesaal

Nach dem Roman „Exil“ von Lion Feuchtwanger

Annette Paulmann, Daniel Lommatzsch, Gundars Āboliņš, Hassan Akkouch, Jan Bluthardt, Jochen Noch, Johann Jaster, Julia Riedler, Maja Beckmann, Niklas Herbert Wetzel, Peter Brombacher, Samouil Stoyanov, Stefan Merki, Walter Hess, Zeynep Bozbay

Regie: Stefan Pucher

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