Kammerspiele Caspar Western Friedrich von Philippe Quesne


 

Verheißung und Ernüchterung

Eines muss man Matthias Lilienthal lassen, konsequent ist er in seinem Vorhaben, Schauspiel im Sinne von Rollen- oder Figurengestaltung abzuschaffen. Philippe Quesnes „Caspar Western Friedrich“ erhob ebenso mehr Anspruch Bildende Kunst denn Darstellende Kunst zu sein. Die Formel für sein Wirken: „… starke Verbindung zwischen Raum, Bühnenbild und Körper“. Man beachte die Reihengfolge, wobei nicht der Darsteller sondern sein Körper am Ende genannt wird. Was möchte dieses Theater? „Inspiriert vom einsamen Cowboy sowie den Bildern und der Persönlichkeit des Malers Caspar David Friedrich. Und mittels der großen Theatermaschinerie entfaltet sich eine riesige Landschaft. Eine Landschaft, die wie die Gemälde der deutschen Romantik Sinnbild für einen inneren und veräußerlichten Zustand ist und mit den Materien der Natur spielt, sich in der Plastizität der Nebelschwaden und der Fragilität gasförmiger Aggregate abzeichnet und unter einer verflüssigten Sonne leuchtet.“ (Programmheft zur Inszenierung S.10-11)

Das klingt gewaltig; das klingt verheißungsvoll. Und womit wurde der Zuschauer beglückt? Vor dem eiserenen Vorhang, auf dem wie in einem Kinovorspann die Crew der Macher abgespult wurde, hatten fünf Cowboys in einer Prärielandschaft aus Styropor und Steppengras in Besenformat an einem künstlichen Lagerfeuer Platz genommen und sangen. Es waren raukehlige Songs harter Männer mit whiskybefeuchteten Kehlen. Sie sangen von der Sehnsucht, auch von der, von der Flasche loszukommen, die den Heimweg versperrte. Dann gratulierte man Franz (Rogowski) zum Geburtstag und schenkte ihm ein Sweatshirt auf dem C.D. Friedrich-Motiv zu sehen war. Das war das Stichwort, der Eiserne hob sich und dahinter war ein Raum, der später als Museumssaal erkennbar wurde. Ein Schriftzug leuchtete an der Rückwand: „Caspar Western Friedrich Museum“. Langatmig wurden die Prärieutensilien in den hinteren Bühnenraum geräumt, der zwei offene Portale aufwies, hinter denen Kulissenteile lagerten. Hohe Leitern wurden seitlich aufgestellt, die Schauspieler stiegen in Plastikoveralls und strichen die Wände, d.h. sie befeuchteten sie mit langstieligen Malerrollen, denn es sollen ja weitere Vorstellungen folgen. Und ehe man sich’s versah, war ein halbe Stunde um.

Stefan (Merki) hatte Styroporfelsen gebastelt, in denen Mikrofone steckten. Fertig waren die Tourguides. Man konnte so über größere Entfernung normal miteinander kommunizieren und führte das auch ausgiebig vor. Dann gingen alle auf Erkundung, verschwanden durch eine Seitentür und waren nur noch aus dem Off zu vernehmen. Die Wanderer kamen durch den Museumbuchshop und brabbelten einige Autorennamen vor sich hin. Nächste Station war das „Café zur schönen Aussicht“, welches sich eigentlich im Residenztheater befindet. Schließlich gelangten die Exkursanten in das Herz des noch unfertigen Museums, in das Magazin. Eine lange Liste der Werke C.D. Friedrichs wurde hörbar, Bilder bekam der Besucher allerdings nicht zu sehen. Es brauchte seine Zeit, bis die Schauspieler wieder auftauchten.

  Caspar Western Friedrich  
 

Stefan Merki, Julia Riedler, Peter Brombacher, Franz Rogowski

© Martin Argyroglo

 

Nebel, viel Nebel, und Regen fand statt und nachdem genügend Regen durch farbiges Licht gefallen war, durchquerte Franz (Rogowski), jetzt in Badehose, als Bodysurfer die Bühne, die weggeräumten Steppengräser wieder an die Rampe transportierend. Auch das brauchte seine Zeit. Einmal, ein echtes Highlight, rutschte er rasant und zielgenau durch die gespreizten Beine von Julia (Riedler) die inzwischen ihre Malerkluft abgelegt und ein Biedermeierkleid angelegt hatte. Die Folie wurde kunstvoll zusammengepackt, so dass kein Wasser frei wurde. Die Leitern wurden in die Bühnenmitte gerückt und ein großer Prospekt daran aufgehängt, auf dem ein Friedrich-Motiv prangte: Gebirge mit steinigem Vordergrund. Und um den steinigen Vordergrund dreidimensional zu machen, wurde ein Styroporfels darunter geschoben. Auf diesem Fels vor bergiger Kulisse und viel, sehr viel Nebel sangen Julia (Riedler) und Johann (Leysen) ein paar Lieder, Stefan (Merki) jodelte ins Tal und Franz (Rogowski) machte das Echo. Dann stieg Peter (Brombacher) auf den Stein und erzählte von seiner Reise in die Hohe Tatra, zur Schneekoppe, nach Agnetendorf, wo G. Hauptmann gelebt hatte, der auf Hiddensee begraben liegt, nahe Greifswald und Rügen, wo C.D. Friedrich gemalt hat, bis nach Krakau, wo Grotowski und Kantor gewirkt hatten. Diese Szene endete mit einigen Gruppenselfies. (Nicht in der beschriebenen Reihenfolge.) Danach kehrten die Schauspieler wieder in ihre Identitäten als Cowboys zurück und erbauten mit Holzlatten, Fuchsschanz und Akkuschrauber aus dem Prospekt einen Unterstand mit Bergkulisse im Hintergrund. Das Lagerfeuer wurde entzündet ein Lied gesunden und dann bliesen die Schauspieler das Feuer aus. Vorhang.

Es ist unbedingt anzumerken, dass die Schauspieler alle Tätigkeiten auf der Bühne nicht gespielt, wie im Schauspiel normal und üblich, sondern getan haben. Johan Leysen erklärte im Programmheft, warum das reizvoll sei: „(…) und ich glaube, wenn Leute konzentriert etwas tun, zusammen, und wenn man akzeptieren kann, dass es interessant sein kann das anzuschauen und nicht erwartet, dass da etwas passieren muss, dann wird das wunderschön … das erzählt nur, was es erzählt. Nicht weniger.“ (Programmheft zur Inszenierung S. 11) Das ist wohl richtig, aber es erzählt leider auch nicht mehr. Es erzählt von all den bedeutsamen Zielen nichts, nach denen diese Inszenierung laut Programmheft vermeintlich trachtete, nach dem Verhältnis von Mensch und Natur, von Western und Romantik. „Caspar Western Friedrich mäandert in Richtung des unerreichbaren Horizonts und hinterfragt den Platz des modernen Menschen in der Welt.“ Das blieb Behauptung, ebenso wie die vorab viel beschworene Magie der Texte von Eichendorff oder Novalis, die im günstigsten Fall von Peter (Brombacher) zum Ghettoblaster gesungen wurden, im ungünstigsten Fall vom Laufband abgelesen werden mussten.

Philippe Quesnes „multidisziplinare Performance“ war alles andere als magisch, inspirierend oder mitreißend. Wenn jemand in Personalunion die Inszenierung, das Konzept, das Bühnenbild und das Licht realisiert, sollte man davon ausgehen können, dass derjenige zwingend konkrete Vorstellungen vom Ergebnis und auch von der Wirkung hat. Spürbar war das nicht. Die versprochenen Räume, die Kraft der Bilder, befeuert von Texten der Schauspieler und der literarischen Romantiker, blieb schlichtweg aus. Vieles wirkte banal und hohl, manches unfertig und unausgegoren. Dieser Eindruck verstärkte sich zudem beim Lesen der englischen Obertitel, die häufig differierten zum gesprochenen Text. Den Schauspielern beim Werkeln zuzuschauen, das auch mal von einer Teepause unterbrochen wurde, war nicht schön, es war vielmehr langatmig und frei von tieferer Bedeutung. So verwunderte es auch nicht, dass die Zuschauerfluktuation beizeiten einsetzte und, mäßig zwar, doch kontinuierlich, anhielt. Die Inszenierung ist ein neuerlicher trauriger Tiefpunkt in einer Serie von künstlerisch wirkungslosen, ästhetisch weitestgehend gescheiterten und substanzarmen Inszenierungen an den Münchner Kammerspielen.

Wolf Banitzki

 


Caspar Western Friedrich

von Philippe Quesne

Peter Brombacher, Johan Leysen, Stefan Merki, Julia Riedler, Franz Rogowski

Inszenierung: Philippe Quesne

Kammerspiele Der Spieler  nach dem Roman von Fjodor Dostojewski in der Übersetzung von Swetlana Geier


 

 

Drei lange Stunden

Mit „Der Spieler“ kam an den Kammerspielen, nach „Schuld und Sühne“ am Volkstheater, die zweite Dostojewski-Adaption innerhalb von zwei Wochen auf eine Münchner Bühne. Zufall? Wohl kaum, denn große Literatur ist zeitlos und deren Themen bleiben stets aktuell, denn sie reflektieren menschliche Unzulänglichkeiten, die, wie es scheint, unausrottbar sind und die in dramatischen Konflikten stets aufs Neue verhandelt werden müssen. Dostojewskis Romane sind, was die Form und Sprache anbelangt, nicht unbedingt genialische Werke. Wladimir Nabokov erhielt einmal von einem Schweizer Verleger den Auftrag, eine Anthologie der besten russischen Schriftsteller zusammenzustellen. Mit Entsetzen stellte der Mann fest, dass Nabokov Dostojewski übergangen hatte. Nabokov rechtfertigte sich sinngemäß, kein Werk Dostojewskis sei es wert, in eine Anthologie aufgenommen zu werden, es sei denn, man nehme das Gesamtwerk auf. Dostojewskis Werk zeichnet sich durch eine unvergleichliche Komplexität aus, mit der er beinahe alle Aspekte des menschlichen Lebens und der Gesellschaft beleuchtete und nuanciert, tief und breit, gelegentlich auch geschwätzig, spiegelte. In „Der Spieler“ tat er das aus ureigener Erfahrung. 1865 reiste der Schriftsteller zum dritten Mal nach Westeuropa. Er wurde von seiner jungen Geliebten Polina Suslowa begleitet. In der Spielbank in Wiesbaden verspielte er am Roulettetisch 3000 Rubel, seinerzeit ein kleines Vermögen.

Die Versuchung, allein durch Spiel zu Reichtum zu gelangen, war zu allen Zeiten übermächtig. Bereits Tacitus (55 – 120) legte in seiner „Germania“ Zeugnis ab über die selbstzerstörerische Hemmungslosigkeit unserer Vorfahren, das Würfelspiel betreffend: „Dabei sind sie in Bezug auf Gewinn oder Verlust von einer so blinden Leidenschaft, dass sie, wenn sie alles andere verspielt haben, mit dem letzten entscheidenden Wurfe um ihre Freiheit und um ihre eigene Person kämpfen. Wer verliert, geht willig in die Knechtschaft, (…), er lässt sich binden und verkaufen.“ (Publius Cornelius Tacitus: Germania. Kapitel 25) Warum der Blick in die ferne Vergangenheit? Um vorab schon einmal klar zu stellen, dass Spiel eine, wenn auch zweifelhafte, kulturelle „Errungenschaft“ ist und kein maßgebliches Charakteristikum des Kapitalismus. So ist „Roulettenburg“ ein Topos der Versuchung, nicht aber das Herz des goldenen Kalbs. Und so ging es Dostojewski nicht darum, das Wesen des Kapitalismus zu entlarven, sondern das Wesen einer Krankheit, der er selbst verfallen war.

Die Frage nach dem sozialen Status war und ist fraglos an Besitz gekoppelt, zumindest in Gesellschaften, in denen die Mitglieder durch Besitz voneinander geschieden sind. So lässt Dostojewski seinen Protagonisten Aleksej Iwanowitsch, Hauslehrer beim General Sagorjanski, dessen Stieftochter und Angebeteten rigoros erklären: „Sie fragen, wozu ich Geld brauche? Was heißt – wozu? Geld ist alles.“ Würde er sich an dieser Stelle erklären und ihr seine Liebe gestehen, nähme die Geschichte vielleicht eine andere Wendung. Stattdessen erklärt er ihr, was der Besitz von Geld ihm bedeutet: „Es ist weiter nichts, als dass ich im Besitz von Geld auch für Sie ein anderer Mensch und kein Sklave sein werde.“ Das Schicksal, durch das Geld, resp. den Besitz desselben voneinander geschieden zu sein, teilen Aleksej und Polina mit dem General und Mademoiselle Blanche, er, vom Spiel ruiniert, aber in Erwartung eines Erbes, sie auf der Suche eines verlässlichen Versorgers. Chancenlos, wie sich herausstellt, denn die Großtante, die einzige Vermögende, verbietet dem General die Ehe und droht, bei Zuwiderhandlung ihr Vermögen am Spieltisch zu verschleudern. Blanche bleibt zuletzt an dem Franzosen Marquis des Grieux hängen, der sie zwar versorgt, ihr Bedürfnis nach Liebe aber nicht stillen kann. Das Dilemma ist vollkommen und lässt niemanden aus. Einzig der Engländer Mr. Astley bleibt von der Spielsucht verschont. Er hält Anteile an einer Zuckersiederei und verdient sein Geld. Er arbeitet; zumindest ist er wertschöpfender Unternehmer.

  Der-Spieler  
 

Thomas Schmauser, Niels Bormann, Anna Drexler, Ivana Uhlířová, Zoë von Weitershausen

© David Baltzer

 

Christopher Rüping, Jahrgang 1985, wird von der kommenden Spielzeit Hausregisseur an den Münchner Kammerspielen sein. Er gab mit seiner Inszenierung gleichsam seinen Einstand. Der fiel beinahe wie erwartet aus, denn Intendant Lilienthal hat sich bei der Wahl seiner Regisseure dafür entschieden, die Kammerspiele gänzlich umzukrempeln, Ensembletheater ist perdu, offene Formen werden ebenso bevorzugt wie alternative. Anstelle des ästhetisch in sich geschlossenen Kunstwerkes, an das sich der Zuschauer noch nach Jahren deutlich erinnert wie an ein großartiges Gemälde, ist eine Diskurskultur getreten, bei der Politik oder zumindest politische Einflussnahme zelebriert wird. Das ist ihm in den ersten fast hundert Tagen vortrefflich gelungen, allerdings um den Preis, dass viel Theater, wie man es liebte, verlustig ging.

Christopher Rüping selbst gab (widerwillig) im Programmheft Auskunft zu „Der Spieler“. Sehr deutlich wird darin der Widerwille erklärt: „Immer wieder stoßen wir beim Proben auf neue Gedanken, die die alten überschreiben. Alles ändert sich, nur diese Zeilen (im Programmheft – Anm. d. Verf.) nicht. Die lasten wie ein Grabstein auf unserem Abend. Oder wie Atommüll. Jedenfalls wie nichts Gutes.“ Es folgen Gedankenbrocken, aufgereiht wie zu einem Parcours. Hat man die Inszenierung gesehen, versteht man, was Rüping damit meinte, denn der Abend ließ eins mit Sicherheit vermissen, ein durchgearbeitetes, schlüssiges Konzept. Es war also eine in den Proben gewachsen Inszenierung. Das Ergebnis sah wie folgt aus: Fünfzig Minuten wurde die Szene von den Kindern Mischa und Nadja, gespielt von Nikolai Huber, Jasper Kohrs, Zoë von Weitershausen und Marlene Witzigmann dominiert. Ihretwegen war Aleksej vom General als Hauslehrer engagiert worden. Joachim Wörmsdorf, Souffleur, er stellte gleichsam den schweigsamen Mr. Astley vor, entrissen die Kinder das Textbuch und veranstalteten eine szenische Lesung. Sie waren bezaubernd anzuschauen und durchaus unterhaltsam in ihrer Unbefangenheit und Originalität. In dieser Zeit wurde auch das Bühnenbild von Jonathan Mertz, bestehend aus zu Videowänden aufgestapelten Umzugskartons, mehrfach umgeräumt und schließlich zum Einsturz gebracht.

Dann gab es für zehn Minuten Theater, das fesselte. In diesen zehn Minuten entblätterten Anna Drexler als Polina und Thomas Schmauser als Aleksej ihre zarte Beziehung zueinander und diskutierten die oben bereits zitierte Passage zum Thema: Was bedeutete Geld. Die Szene endete damit, dass Polina Aleksej aufforderte, einer deutschen Baronin einen französischen Satz ins Ohr zu hauchen, um deren Gatten zu entzürnen. Sie wollte sich daran weiden, wie Aleksej vom Baron  mit dem Stock gezüchtigt werden würde. Thomas Schmauser stieg von der Bühne und sprach seinen Satz in das Ohr einer Zuschauerin. Vermutlich war es: „Madame, j'ai l'honneur d'être votre esclave.“ Im Roman ist das der Wortlaut. Dann kamen alle anderen Darsteller auf die Bühne und prügelten eine Weile mit Schaumstoffschlangen aufeinander ein. Kurz vor Ende des ersten Teils verwandelte sich Thomas Schmauser mittels Rock, Perücke und einer schrillen Stimme in die vermeintlich sterbende, aber dann doch mopsfidele Großtante und hängte die ganze Bagage hin. Das geschah im wahrsten Sinn des Wortes. Die Darsteller baumelten zur Pause und auch danach auf halber Höhe der Bühne.

Substanzieller wurde es auch nach der Pause nicht. Die Darsteller, insbesondere Thomas Schmauser, von der spielleitenden Leine gelassen, blödelten sich mit großem körperlichen Aufwand und schrillen Manierismen durch den Roman. Dabei wurden die Figuren nicht deutlicher. Gundars Āboliņš, der den General gab, war schon zu Beginn in einen lächerlichen Tanzbären verwandelt worden. Niels Bormann, ein Schauspieler mit einer exzellenten Präsenz, hatte seine großen fünf Minuten am Ende, als er, eigentlich Marquis des Grieux,  sitzend und ohne Überflüssigkeiten den Text des Mr. Astley sprach, mit dem der Roman endet. Dabei stellte und beantwortete er sich selbst die Fragen Aleksejs. In diesem Augenblick begriff man als Zuschauer, was einem eigentlich vorenthalten worden war.

Die Inszenierung, die lebendig sein wollte, war zappelig und konfus. Ästhetisch ging kaum etwas zusammen und die Geschichte, eine große Geschichte, löste sich in Plattitüden auf. Dabei fand man die Einfälle der Kinder, die sie in den Probenpausen nebenher aufs Papier gekritzelt hatten, immerhin so witzig, dass man sie einbaute. So fragte sich Großtante Schmauser auf der Toilette, wo denn wohl die Roulette sei. Wenn man weiß, woher einige der Einfälle kamen, erübrigt es sich natürlich, der Inszenierung Infantilität vorzuwerfen. Immerhin war alles korrekt englischsprachig übertitelt, was dem Spektakel (Ein Wort, das mehrfach im Text vorkam!) zwar kein internationales Format, jedoch dem Theater den Anstrich von Weltoffenheit verlieh. Drei lange Stunden und die Begeisterung hielt sich bei dem nach der Pause noch verbliebenen Publikum der zweiten Vorstellung in Grenzen.

 

Wolf Banitzki

 


Der Spieler

Nach dem Roman von Fjodor Dostojewski in der Übersetzung von Swetlana Geier

Gundars Āboliņš, Niels Bormann, Anna Drexler, Thomas Schmauser, Ivana Uhlířová, Kaspar Huber, Nikolai Huber, Jasper Kohrs, Zoë von Weitershausen, Marlene Witzigmann, Joachim Wörmsdorf

Regie: Christopher Rüping

Kammerspiele Rocco und seine Brüder  nach dem Film von Luchino Visconti in einer Fassung von Simon Stone


 

 

Wenig hilfreich zum Thema Migration

Luchino Viscontis breit angelegtes Filmepos, Bestandteil einer filmischen Süditalien-Trilogie, ist in Schwarz-Weiß gedreht und gilt als ein Spätwerk (erschienen 1960) des italienischen Neorealismus. Noch im Erscheinungsjahr bei den Filmfestspielen in Venedig preisgekrönt, fand es erst 1993 (ZDF) den Weg in deutsche Wohnzimmer. Allein schon wegen der tragisch überhöhten Geschichte wurde das Sozialdrama in Italien ein kommerzieller Erfolg und verhalf sowohl dem Regisseur zu großer Anerkennung, wie auch dem Darsteller des Roccos, Alain Delon, zum künstlerischen Durchbruch. Der Film schockierte seinerzeit wegen der dargestellten Brutalität und des Pessimismus, den er verbreitete, und musste geschnitten werden.

Die Geschichte blieb immerhin so aktuell, dass sie 2008 in der dramatischen Bearbeitung und der Regie von Ivo van Hove in der Jahrhunderthalle Bochum uraufgeführt wurde. Nebenbei: Ivo van Hove inszenierte 2013 „Seltsames Intermezzo“ von Eugene O'Neill und 2011 „Ludwig II“ nach dem Film von Luchino Visconti  an den Münchner Kammerspielen. Jetzt nun besorgte der 1984 in der Schweiz geborene, junge australische Autor/Regisseur Simon Stone eine Bearbeitung und Inszenierung für die Kammerspiele. Er wird vor allem wegen seiner „radikalen Neubearbeitungen von klassischen Texten“ in der Theaterszene hoch gehandelt. Ohne Frage kann man Viscontis Vorlage schon als Klassiker (der Moderne) bezeichnen, bei Stones Überarbeitung von radikal zu sprechen, wäre dann doch übertrieben.

Die Geschichte wurde in den Grundzügen und Konflikten unverändert übernommen. Einziger bedeutsamer Unterschied war, dass die Witwe Rosaria Parondi mit ihren Söhnen Rocco, Simone, Ciro und Luca nicht mit dem Zug aus dem süditalienischen Lukanien nach Mailand anreisten. Diese konkrete Topografie hatte Stone aufgehoben. Bei ihm kamen die Witwe und deren Kinder aus einem unbekannten Land in einer unbekannten Stadt an. Man könnte München getrost als Ankunftsort annehmen. Der fünfte und älteste Sohn Vincenzo war schon vor längerer Zeit voraus gereist und am Abend der Ankunft seiner Familie feierte er gerade seine Verlobung. Es kam zum Streit zwischen den Familien und zum Zerwürfnis. Der Familie Parondi wurde eine Sozialwohnung zugewiesen und Vincenzo bemühte sich, seine Brüder in „Brot und Lohn“ zu bringen. Durch Vincenzo kamen Simone und Rocco mit dem Boxsport in Berührung. Zumindest für Simone verhieß der Sport sozialen Aufstieg, zumal er schnell Erfolg hatte und Geld verdiente. Die Prostituierte Nadia wurde für alle zum Prüfstein, denn Simone verliebte sich in die anziehende Frau, die jedoch Rocco den Vorzug gab. Simone, längst auf die schiefe Bahn geraten, vergewaltigte Nadia, um seinen Besitzanspruch zu definieren, und schlug den Bruder brutal zusammen. Rocco sah die Schuld bei sich und übernahm die Schulden seines Bruders, in dem er sich im Boxstall für lange Zeit verpflichtete und in die „moderne Sklaverei“ ging. Als er im Zenit seiner Leistungen anlangte, befand sich Simone auf dem Tiefpunkt. Er stach Nadia, die wieder auf dem Strich arbeitete und nur Verachtung für Simone hatte, nieder. An diesem Punkt wurde unwiderruflich deutlich, dass die Familie, die einzig verlässliche Stütze für diese Menschen, zerbrochen war. „Wir sind Feinde geworden.“ Dennoch gab es einen Hoffnungsschimmer, denn Ciro war es durch Schulbesuch und unbeugsamen Willen gelungen, einen Beruf zu erlernen und eine Arbeit zu bekommen. Er gab seine gewonnenen positiven Einsichten an den jüngsten Bruder Luca weiter.

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Thomas Hauser, Christian Löber, Samouil Stoyanov, Johannes Geller, Wiebke Puls

© Thomas Aurin

 

Ralph Myers Bühnenbilder beschränkten sich auf das Wesentliche. Berge von Taschen beschrieben die Ankunft der Migranten, die voller Hoffnungen in die Stadt kamen. Sie fielen auf in ihren Jogginganzügen und schnell wurde deutlich, dass es ein Unmenge Codes gibt, die beachtet und eingehalten werden wollen, um einer automatischen Ausgrenzung zu entgehen. (Kostüme Henriette Müller)  Ein Fitnesscenter beschrieb den Boxclub, ein Sandsack, ein Laufband, eine Hantelbank etc. Weit entfernt von der Stadt, Rocco absolvierte seinen Militärdienst, traf er zufällig auf Nadia, die eine Haftstrafe abgesessen hatte. Der romantische Ort der Annäherung war ein vergammeltes Autowrack. Am Ende stand schließlich der Boxring, in dem Nadia zu Tode kam und Rocco seine Siege feierte. Das konnte durchaus metaphorisch gesehen werden, denn dieser Kampfplatz stand für das Leben schlechthin. Willkommen in der neoliberalen, glitzernden Welt, in der der Sozialdarwinismus betörende Geschmacksrichtungen hat.

Die wichtigste Qualität der Inszenierung war ihr Rhythmus. Die Szenen, Handlungsorte wurden als Überschriften eingeblendet, gingen fließend ineinander über. Regisseur Stone trieb die Geschichte atemlos voran und verlangte den Darstellern viel Bewegung und Körpereinsatz ab, ohne dabei jemals ins Chaos abzugleiten. Immerhin ging es über weite Strecken auch um Boxen. Es fällt (mir) schwer, Boxen noch immer als Sport zu bezeichnen, denn letztlich geht es nur darum, dem Gegner mittels Schlägen auf den Körper oder gegen den Kopf, die durchaus auch tödlich sein können, das Bewusstsein zu rauben. Es lässt gleichsam tief blicken, dass sich dieser Sport wieder enormer Beliebtheit auch bei Intellektuellen und Künstlern erfreut, bedeutet er doch ganz unmittelbar: „Survival of the fittest.“ Aber wie auch in dieser Gesellschaft, ist in vergangenen Gesellschaften das Gladiatorentum stets Ausdruck von Dekadenz gewesen. Traurig ist, dass die, die häufig die ungünstigsten Voraussetzungen in der Gesellschaft haben, von den Begüterten dafür entlohnt werden, dass sie sich vor aller Augen und zum Amüsement überdrüssiger Wohlstandsbürger gegenseitig zerfleischen. „Moderne Sklaverei“ trifft es. Den Verheißungen von Glanz und Glamour gehen vor allem Migranten auf dem Leim, die mit dem Verkauf ihrer Körper ihre Misere zu überwinden suchen.

Es ist unbestritten ein brisantes Thema, angesichts der Zuwanderung. Allein, die Wirkung der Inszenierung in den Kammerspielen reichte an die des Films längst nicht heran. So sehr sich die Darsteller auch mühten mit gekreischten Gefühlsausbrüchen wie Brigitte Hobmeier als Nadia oder Samouil Stoyanov als rummelboxerhaft, balztänzelnder Simone, sie blieben nur „prollige“ Varianten der Rollen. Verglichen mit der darstellerischen Eleganz einer Annie Girardot oder dem Dynamitbrocken Renato Salvatori waren sie nur Abziehbilder. Selbst Wiebke Puls als Mutter Rosarie kam über das Plakative nicht hinaus. Da war die bubenhafte Natürlichkeit von Johannes Geller als jüngster Bruder Luca geradezu wohltuend. Christian Löbers Ciro, die moralische Instanz im Stück, vermochte in seiner Weinerlichkeit kaum Hoffnung zu verbreiten. Der Grund, warum keine wirkliche Tiefe erzeugt werden konnte, war wohl in der Sprache zu suchen. Einerseits enthielt sie Wendungen, und mit Wendungen sind durchaus Richtungsänderungen gemeint, die verblüfften und Witz hatten, andererseits war sie bis zum Erbrechen mit Vulgarismen aufgeladen, die banalisierend wirkten. Sollte das ein neuer Realismus sein, mit dem Einwanderer charakterisiert werden? Oder meinte jemand, mit derartigen Mitteln gegen den „guten bürgerlichen Geschmack“ anrennen zu müssen? Diese Form der Provokation hatte keine wahrheitsbefördernde Qualität und langweilte nur. Was ist eigentlich daran auszusetzen, dass Kunst (des Wortes) eigentlich etwas mit Sprachpflege zu tun haben sollte. - Vor allem, wenn tausende Migranten ins Land strömen, die diese Sprache lernen sollen. Bei Visconti gibt es keinerlei sprachliche Entgleisungen und trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, es sei langweilig oder fade.

Sprache ist materialisiertes Denken und verräterisch. Eine rohe Sprache impliziert rohes Denken. Unlängst sagte der deutsche Fußball-Bundestrainer im Rundfunk: „Wir waren nicht tödlich genug für unseren Gegner.“ Das ist so eine sprachliche Aufrüstung, auf die niemand reagiert hat, wohl, weil es gefällt. Die fortschreitende Brutalisierung ist nicht nur an der zunehmenden Zahl von Kriegs- und Krisenherden abzulesen, sondern auch an der alltäglichen Sprache. In der Wirtschaftsprache und in Unternehmenskommunikation hat Kriegsrhetorik beispielsweise längst einen festen Platz. Die Inszenierung von Simon Stone lebte nicht zuletzt auch von einer Brutalisierung durch Vulgarisierung der Sprache. An dieser Stelle trifft die Aussage über Stones „radikalen Neubearbeitungen von klassischen Texten“ allerdings zu. Es mag sein, dass in dieser „sozialen Schicht“ so gesprochen wird. Wenn man es aber dergestalt auf die Bühne bringt, liegt die Vermutung nahe, dass die Entstellung der Sprache sehr bewusst darauf zielt, ein gänsehäutiges Gruseln zu erzeugen, wie es sich einstellt, wenn man sich wilden Tieren gegenüber sieht und nicht genau weiß, ob der Zaun, der sie unter Kontrolle halten soll, auch tatsächlich stabil genug ist.

 

Wolf Banitzki

 


Rocco und seine Brüder

von Simon Stone

Wiebke Puls, Franz Rogowski, Samouil Stoyanov, Thomas Hauser, Christian Löber, Johannes Geller, Brigitte Hobmeier, Gundars Āboliņš, Stefan Merki, Hannah Schutsch, Maj-Britt Klenke

Regie: Simon Stone

Kammerspiele Mittelreich  nach dem Roman von Josef Bierbichler


 

Erzähltheater – leider kein erzählendes Theater

2011 erschien Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“. Es ist nicht die erste literarische Arbeit des beliebten und verehrten bayerischen Schauspielers, der auf allen wichtigen Bühnen im deutschsprachigen Raum zuhause ist, und sie trägt autobiografische Züge. Bierbichler erzählt anhand dreier Generationen von Seewirten ein ganzes Jahrhundert, nämlich das an menschlichen Katastrophen bislang reichste zwanzigste. Es geht um Erinnerungen, individuelle und kollektive, um ihre Pflege, ihre Leugnung und um die Nachwirkungen bis ins dritte Glied der Familie. Bierbichlers Roman ist alles andere als ein heiterer, optimistischer Text. Vielmehr kündet er von einer zwingenden Schicksalhaftigkeit, hervorgerufen durch das Erbe. Und hier kann Erbe getrost im weitesten Sinn genommen werden. Der Seewirt, heil davongekommen aus dem apokalyptischen zweiten Krieg, erbt vom Vater, der den ersten Krieg kennengelernt hatte, die Seewirtschaft. Er ist nun Wirt und Bauer zugleich. Zu seinem Erbe gehören einige Dauergäste, wie die Kammersängerin, die, mit einer erklecklichen Pension ausgestattet, die Seewirtschaft zu ihrem letzten Wohnsitz auserkoren hatte. Es wurden zudem einige Flüchtlinge auf den Hof geschwemmt: Das Fräulein Zwittau, wie der Name andeutet, ein androgynes Zwitterwesen, oder Viktor Hanusch aus Kattowitz.

Jeder von ihnen hatte seine Geschichte, sein Trauma: Der Seewirt kämpfte gegen die Kriegserinnerungen mit vorgeblicher Amnesie. Sein Sohn, der Semi, wurde in der Klosterschule von Mönchen missbraucht. Der junge Seewirt hatte eine musikalische Begabung, die er gern gelebt hätte. Doch die ökonomischen Zwänge waren übermächtig. Und Theres, Frau des Seewirts und Semis Mutter, wurde von den Schwestern des Seewirts deklassiert und am Ende sogar vom Ehemann verstoßen. Fräulein Zwittau war wegen ihrer physischen „Andersartigkeit“ ausgestoßen und auch Viktor fand kein wirkliches Zuhause und blieb der ewige Flüchtling.

Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“ ist ein bayerisches Buch; es ist aber zugleich auch ein gut illustriertes Abbild deutscher Geschichte. Anna-Sophie Mahler benutzte Passagen des Textes, um ein Musiktheater daraus zu machen. Die Texte von Bierbichler wurden dabei „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms gegenüber gestellt. Um dieses Werk zur Aufführung bringen zu können, wurde ein „Orchestergraben“ mit zwei Flügeln und Pauke installiert. Zu den sechs Darstellern der Kammerspiele wurde das „Junge Vokalensemble München“ engagiert. Bereits nach kürzester Zeit wurde deutlich, dass hier nicht die Bierbichlertexte mit Musik dargebracht wurden, sondern das Brahmswerk im Zentrum der Dramaturgie stand. Der musikalische Leiter Bendix Dethleffsen erklärte im Programmheft: „Mich interessiert Musik im Theater meistens dann, wenn sie keine untermalende oder atmosphärische Funktion hat, sondern durch ihre Eigenständigkeit theatral wird.“ Dies wurde umso deutlicher, da man sich nicht einmal der Mühe unterzogen hatte, die Texte in Dialogform zusammen zu führen. Es wurde vornehmlich erzählt; es wurde kaum miteinander geredet. Bei der Auswahl dominierte Drastik: Kindervergasung, Massenvergewaltigung, Sauschlachten (als Ersatzhandlung für Menschenschlachten) oder Hetze gegen Flüchtlinge in der Sprache des Nationalsozialismus.

  Mittelreich  
 

 Thomas Hauser

© Judith Buss

 

Heraus kam ein musiklastiges Konglomerat, das nicht in sich verschmolz und in dem die Schauspieler deutlich unter ihren Möglichkeiten blieben - bleiben mussten, weil vordergründig deklamiert und kaum gespielt wurde. Auch war der Gesang der Schauspieler nicht immer eine Ohrenweide. Immerhin handelte es sich um Musik von Brahms und Mahler und nicht um Brechts „Dreigroschenoper“, für die der Autor ausgebildete Sänger verboten hatte. Bereits die Textauswahl ließ wenig Raum für Hoffnung. („Alles, was kommt wird schlimmer als alles, was war!“ Textbuch zur Inszenierung, Stand 13.10.15) Die Wucht und das Pathos des Brahmschen Werkes indes erhöhte den Druck noch einmal. Obgleich mit sprachgewaltigen Bildern hantiert wurde und aufwühlende Musik erklang, waren die zwei Stunden und zwanzig Minuten (eine Pause) von einigen quälenden Längen durchsetzt. Den Machern (Anna-Sophie Mahler/Regie und Bendix Dethleffsen/Musik) war daran gelegen, dem „Themenkomplex um individuelle und kollektive Schuld und Verdrängung“ bei Bierbichler den zentralen Begriffen „Vergänglichkeit, Trost und Hoffnung“ bei Brahms gegenüber zu stellen. Obwohl „Musik-Theater“, naturgemäß Vorgänge voller Sinnlichkeit und Emphase, war der Inszenierung die Kopflastigkeit deutlich anzumerken.

Beeindruckend war immerhin das Bühnenbild von Duri Bischoff. Die Guckkastenbühne bestand aus dem hellen, perfekt gemalerten und beinahe steril anmutenden Gastraum der Seewirtschaft. Im Hintergrund befand sich eine große Falttür. Als die Geschichte die zeitliche Ebene in Richtung Vergangenheit verließ, wurde die Tür geöffnet und sichtbar wurde derselbe Gastraum in seiner heruntergekommensten Gestalt in den ersten Nachkriegsjahren. Leider wurde diese wunderbare konzeptionelle Idee der zeitlichen Ebenen im Spiel nicht konsequent umgesetzt. Zumindest wurde eine Umsetzung nicht deutlich sichtbar.

Steven Scharf war mit der Rolle des Semi betraut. Am besten charakterisiert diese Figur vielleicht folgende Selbstbeschreibung: „Ich bin jetzt 17 Jahre alt und habe gerade die 6. Klasse des Gymnasium wiederholt. Ich fühle mich seitdem gefestigt.“ Bedauerlicher Weise spielte Scharf einen Sprechfehler, wie man sie bei Menschen schlichten Gemüts mit druckvollem Mitteilungsbedürfnis findet. Das führte zu einigen akustischen Unverständlichkeiten. Thomas Hauser spielte sowohl den Jungen Semi als auch den Jungen Seewirt, letzteren als hochsensiblen und fragilen jungen Mann. Stefan Merkis Alter Seewirt und Seewirt unterschieden sich nicht. Beide waren gleichermaßen herrisch, unzugänglich und verschlossen. Verschlossen gab Jochen Noch seinen Viktor. Der allerdings war introvertiert in seinem Fremdsein und nicht wegen eventueller „Leichen im Keller“. Annette Paulmann gelang es als Kammersängerin und als Theres noch am ehesten, Figuren zu erschaffen und über eine Typologie hinaus zu gelangen. Damian Rebgetz erfüllte hingegen den Typus des Travestiten (eigentlich geschlechtslos) in der Rolle der Fräulein Twitter klischeehaft und frei von Überraschungen.

Ein weiteres Experiment also, tradiertes Theater zu umschiffen und mit neuen Formen zu erstaunen und die Horizonte der Zuschauer zu erweitern. Als gelungen kann man es schwerlich bezeichnen, denn unterm Strich war es sprödes Erzähltheater mit Musik, dem es an Eingängigkeit mangelte. Die Inszenierung kränkelte an einer fehlenden klaren Dramaturgie, die auf eine höhere Ebene als einer bloßen Gegenüberstellung hätte führen können. Dann wäre es nämlich erzählendes Theater geworden und das ist eine gänzlich andere Qualität als Erzähltheater.

Wolf Banitzki

 


Mittelreich

nach dem Roman von Josef Bierbichler / Musiktheater

 

Mit Steven Scharf, Thomas Hauser, Stefan Merki, Annette Paulmann, Jochen Noch, Damian Rebgetz

Inszenierung: Anna-Sophie Mahler
Musik: Stefan Wirth, Sachiko Hara, Manfred Manhart, Anno Kesting, Bendix Dethleffsen
Chor Junges Vokalensemble München - Dirigentin Julia Selina Blank

Kammerspiele Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2 von Rimini Protokoll (Haug/Wetzel)


 

 

Ein Buch und seine Dämonen

Am 22.10.2009 hatte „Sicherheitskonferenz“ in der Spielhalle der Münchner Kammerspiele in der Regie von Stefan Kaegi Premiere. Kaegi ist seit 2000 im Autoren- und Regieteam, das sich „Rimini Protokoll“ nennt und dem Helgard Haug und Daniel Wetzel angehören. Letztere arbeiten bereits seit 1994 zusammen und schufen eine Art Dokumentartheater, in dem die Quellen der Texte selbst und selten Schauspieler auf der Bühne stehen. Die Macher definieren diese Form des Theater als „Expertentheater“. Tatsächlich stieß ihr Konzept auf großes Interesse und so inszenierten sie unter anderem in Zürich, London, Melbourne, Kopenhagen und San Diego. 2008 erhielt das Kollektiv für ihr Gesamtwerk den Theaterpreis „Der Faust“, 2001 auf der 41. Theaterbiennale in Venedig den „Silberner Löwen“ und 2015 den „Schweizer Grand Prix Theater / Hans-Reinhart-Preis“. Dieser Zuspruch beweist immerhin, dass an „Rimini Protokoll“ kein Weg vorbei führt.

2007 erhielten Wetzel und Haug für „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“ den Mühlheimer Dramatikerpreis. Mit diesem Projekt waren sie ihrer Zeit voraus, denn die Bankenkrise im Jahr 2009 verschuf dem Dietz-Verlag (Herausgeber der Marx/Engels- Werke seit DDR Zeiten) die höchsten Auflagen von „Kapital Erster Band“. Selbst Ökonomen besannen sich in ihrer Ratlosigkeit darauf, dass Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie in Grundzügen noch immer zutreffend war und man einiges über die „Mystik des Marktes“ erfahren konnte. Von Belang für das „Mein Kampf“-Projekt ist die Erwähnung, weil das Bühnenbild (Marc Jungreithmeier) dasselbe ist. Während Marx auf der Vorderseite abgehandelt wurde, fand der Diskurs über Hitler an der Rückseite statt. Tatsächlich verstand sich Hitler mit seiner Weltanschauung als Gegenentwurf zum „Marxismus“, der in dessen Verständnis allerdings etwas völlig anderes beinhaltete. Das wird bei der Lektüre des kruden Buches schnell deutlich.

Ausgelöst wurde die Idee zum Projekt auch durch die Tatsache, dass mit diesem Jahr die Urheberrechte, die beim Bayerischen Staat liegen, auslaufen und ab 1. Januar 2016 jeder das Buch drucken könnte. Aufgeregt wird nun darüber diskutiert, ob es nicht angebracht wäre, dem Markt mit einer kommentierten Auflage zuvor zu kommen. Der Bayerische Staat hatte ursprünglich Mittel bereitstellen wollen, doch nach einem Besuch Seehofers in Israel ruderte der Ministerpräsident zurück. Nun gäbe es noch den juristischen Weg, das Buch nicht unter die Leute kommen zu lassen, denn es existiert im deutschen Recht ein Paragraf gegen Volksverhetzung. Nicht von ungefähr waren drei der „Experten“ auf der Bühne Juristen: Sibylla Flügge, Anna Gilsbach und Alon Kraus. Matthias Hageböck ist Buchbinder und Buchrestaurator und somit Experte in Bezug auf Buchdruck und –verlag. Christian Spremberg arbeitete als Radioredakteur und ist, selbst sehbehindert oder blind(?), Experte für Brailleschriften, eine von dem Franzosen Louis Braille 1825 entwickelte Blindenschrift. Tatsächlich lag und liegt Hitlers Werk auch in dieser Ausführung vor. Volkan T Error (Türeli)  ist Ethnologe, Politikwissenschaftler und Musiker.

  Mein-Kampf-Rimini-Protokoll  
 

© Candy Welz

 

Angesichts der Tatsache, dass „Mein Kampf“ bald schon wieder auf den Markt gelangen könnte, fragten die Akteure nach, inwieweit das Buch jetzt bereits verfügbar wäre. Und siehe da, es ist weltweit erhältlich und in manchen Ländern bevölkert es die Bestsellerlisten. Wer in Deutschland Interesse an dem Machwerk hat, kann innerhalb weniger Stunden ein Exemplar organisieren. Diese Probe aufs Exempel hatten die Darsteller in München selbst gemacht. Im Internet kann es ohnehin ganz unproblematisch heruntergeladen werden. Es wurde in der Zeit seines Erscheinens (1925) bis zur Kapitulation der Nazis 1945 etwa 12,5 Mio Bücher auf den Markt gebracht und verkauft.

In loser Folge, dramaturgisch von einem „elektronischen Buchstabengenerator“ organisiert, wurden unterschiedlichste Begriffe in den Raum gestellt und die entsprechenden Fragestellungen dazu entwickelt. Von: Wer hat das Buch gekauft? Wer hat es gelesen? Wurde es überhaupt gelesen? Wo sind die Bücher geblieben? Über: Ist das Buch gefährlich? Wie soll man sich dazu verhalten? Würden Sie das Buch in einem öffentlichen Cafe lesen? Auch in Israel? Bis: Gibt es Gedankengut in diesem Buch, das wir im heutigen Alltag wiederfinden?

Auch hier wurden die Fragen unterschiedlich beantwortet; es wurde sogar über die Alternativen abgestimmt. Eine Leistung des Abends waren unbestritten die klugen und notwendigen Fragen. Zum Verführungspotential dieses Buches sagte Sibylla Flügge: „Ich hatte herausgefunden: Dies ist kein Buch, das verführt, sondern eine Anleitung für Verführer. Es geht um Methoden.“ Tatsächlich wurde das Buch recht einheitlich als überbewertet eingeschätzt, resultierend aus der Dämonisierung und dem Verbot. Nun hat das Verbot eines Buches noch immer dazu geführt, dass die Begehrlichkeit, es in die Hand zu bekommen, regelrecht befeuert wird. Nichts ist verkaufsfördernder als ein Platz auf dem Index.

Walter Klemperer, der mit seiner Schrift „Lingua Tertii Imperii“ (Sprache des 3. Reiches) einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Diktatur geleistet hatte, beschrieb es 1945 als ein Rätsel, dass „Mein Kampf“ in einer so unglaublich hohen Auflage unter das Volk gebracht worden war und Hitler dennoch gewählt wurde.

Es ist schwer vorstellbar, dass die Argumente, die Sprache, der geistige Wahnwitz, der in diesem Buch auf beinahe 800 Seiten niedergelegt ist, beim heutigen aufgeklärten Bürger noch einmal verfangen könnten. Dass das Gedankengut im Volk unabhängig vom Buch existiert, hat vielleicht etwas zu tun, dass sich bestimmte Gedanken im Zustand von Angst, Verunsicherung und Perspektivlosigkeit immer wieder Bahn brechen, weil dem Menschen bestimmte psychologische Mechanismen seit Jahrhunderten immanent sind. Hitler verkörperte diese kleinbürgerlichen Eigenschaften, die er auf großsprecherische Weise zur Doktrin erhob. Und er war gewiss kein Genie, weder in geistige noch in künstlerischer Hinsicht, obgleich das ganze Buch darauf angelegt ist, genau das zu suggerieren. Sein wir doch mal aufrichtig, welch Geistes Kind würde sich selbst freiwillig „GröFaZ“ nennen lassen? (Superstar reicht doch.)

Wolf Banitzki

 


Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2

von Rimini Protokoll (Haug/Wetzel)

Sibylla Flügge, Anna Gilsbach, Matthias Hageböck, Alon Kraus, Christian Spremberg, Volkan Türeli

Regie: Helgard Haug

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