Marstall  Wolken.Heim.  von Elfriede Jelinek


 

Verloren im Mythos

Ausgangspunkt des Textes „Wolken.Heim.“ war das Studium Elfriede Jelineks von philosophischen Texten (Hegel und Fichte) und literarischen (Kleist und Hölderlin) zum Thema Mythos der deutschen Nation. Dass sie sich damit auf ein Minenfeld politischer Entartungen begab, war ihr nicht nur bewusst, sondern strategisches Ziel. Elfriede Jelinek ist eine Unerschrockene und scheut auch die notwendige Denunziation von Tätern nicht. Und sie ist Visionärin, wie der Weltzustand 30 Jahre nach dem Entstehen des Textes beweist.

Das Problem im Umgang mit Mythologie ist die Unfassbarkeit der Inhalte, denn der Mythos ist nicht Wissen, sondern Ahnen. Und das hebt auf eine emotionale Ebene, auf der alles möglich wird. Der Mythos ist wie ein Nebelschwaden in der Frühdämmerung. Ehe man ihn ergründet hat, ist er auch schon vom Licht der Sonne getilgt worden. Es gibt Menschen, die fühlen sich im Nebel wohler und aufgehobener, weil er keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt. Im grellen Licht der Sonne ist die Selbstwahrnehmung unausweichlich und die fällt, ist man nicht gänzlich umnachtet, zumeist enttäuschender aus.

Und da der Mythos so viele Unwägbarkeiten mit sich bringt, eine Verifizierung sehr schwer (naturgemäß gar nicht) möglich ist, braucht es das „Wir“, in dem sich Bestätigung findet. Und gibt es das verschworene „Wir“ erst, gibt es keine Hemmungen mehr und man mythologisiert drauf los, bis man sogar erkennt, dass die Kondensstreifen der Flugzeuge am Himmel eine perfide Vergasungsaktion der Völker durch dunkle Mächte ist. Nichts ist dabei tauglicher sich der „mythologischen Wahrheit“ zu nähern, als die Begegnung mit der Natur, die nur (Und das kann gewiss auch notariell bestätigt werden!) die Wahrheit raunt.

Wenn „Wir“ nur genau hinhören, dann hören „Wir“ deutlich das Wispern der dunklen Mächte, der Alberichs und deren Horden willfähriger Gefolgsleute mit ihren „langen Nasen und fliehenden Stirnen“. Wer kann sich da schon den Bildern verweigern, zumal, wenn der Soundtrack von Wagner ist oder aus einem schönen deutschen, zu Herzen gehenden Volkslied besteht, in dem mindestens einige Linden oder Eichen vorkommen. Genau um diese Wanderer durch die berückenden Landschaften deutscher Wälder und Fluren geht es im Text von Frau Jelinek.

  WolkenHeim  
 

Sibylle Canonica, Mathilde Bundschuh, Ulrike Willenbacher, Thomas Huber

© Matthias Horn

 

Im Marstall, unter der Spielleitung von Matthias Rippert, wanderten sie indes nicht durch C.D. Friedrichsche Landschaften, sondern fanden sich in einem Wartesaal ein (Bühne Fabian Liszt). Der war in fein abgestuften, z.T. sehr eleganten Grautönen gefasst. Das war mehr als nur eine Farbe, das war die konsequente Abwesenheit von Farbe. Es war das Eliminieren von Farbe im alles gleichmachenden Nebel, in den Wolken, die zum Heim auserkoren wurden und in dem man sich gemeinsam einrichtete. Ein Reich – nicht von dieser Welt. Farbe, ein grelles Orange, schien nur durch die beiden Türfenster im Bühnenhintergrund, hinter der der Lärm der wirklichen Welt oder, wie Nitzsche es ausdrücken würde, der Lärm des Marktes tobte. Am Ende gelingt dank der Macht des Willens aber auch die Verwandlung des ohrenbetäubenden Lärms in heimeliges Vogelzwitschern. Hörbar wurde der Lärm nur beim Ein- oder Austritt der handelnden Figuren, die ebenfalls in elegantes Grau gewandet waren (Johanna Lakner). Einzig Mathilde Bundschuh trug ein Kopftuch, auf dem sich ein zartes farbliches Blütenmuster abzeichnete.

Nach dem Eintritt, auch nach jedem erneuten Auftritt der Wanderer deutschen Geistes, zog jeder von ihnen eine Nummer, wie es sich gehört in deutschen Landen, die allerdings nie aufgerufen wurde. Auf demselben Monitor, auf dem die Zahlen aufgerufen wurden, spielte ein Animationsfilm, der eine Familie im Auto auf der Landstraße, also einer Straße, die durch das schöne Land führte, zeigte. Man trat auf, setzte sich durch wenige Blicke oder Gesten ins Einvernehmen und philosophierte oder literarisierte auf überaus kultivierte Weise los. Dabei konnte man sich des Wohlwollens aller Anwesenden sicher sein, denn sie summierten sich zu dem erhofften und ersehnten „Wir“. Die Situation war allerdings unüberschaubar und Bedrohlichkeiten schwangen mit, wurden allerdings nie konkret. Wörter wie das „Fremde“ oder „Kulturen“, stets als Bedrohlichkeiten empfunden, reichen, sind wir einmal ehrlich, aus, um den politischen Pawlowschen Reflex auszulösen.

Die Texte wurden langsam und präzise gesprochen, waren monologisch und wurden durch die Anwesenden milde lächelnd, weise kopfnickend oder gar nicht kommentiert. Doch es gab auch Ausnahmesituationen, beispielsweise wenn Yannik Stöbener plötzlich, von einer folkloristischen Anwandlung übermannt, das Platteln anfing. Das nahm denn auch schon die bedrohlichen Züge des Marsches auf Stalingrad an. Als Thomas Huber das Philosophieren anfing, musste er sich entkleiden, denn die innere Selbstentblößung brauchte unbedingt einen äußerlichen Ausdruck. Als ihn jedoch die Fliehkräfte seiner eigenen geistigen Verzweiflung und Gefangenschaft durch die Wand katapultierten, kommentierten Mathilde Bundschuh und Sibylle Canonica, die nicht unbeteiligt an diesem Unfall waren, die Szene mit einer gemeinsamen Zigarette, quasi die Zigarette danach.

Die fortwährend tippelnde Ulrike Willenbacher im grauen Dirndl mit Rucksack, war hingegen überwiegend auf der Flucht, insbesondere vor den peinlichen, oder peinlich empfundenen Eskapaden ihres Ehemanns, gespielt von Thomas Huber. Sie hatte als Frau längst die höhere Entwicklungsstufe erlangt, war gänzlich Ehefrau. Die vergleichsweise wenigen dramatischen Szenen im Fluss von scheinbar bezugslosen Auslassungen und Monologen wirkten geradezu brachial. Zum Beispiel als, für das Publikum unsichtbar, ein deutscher Hirsch aus dem deutschen Unterholz brach und in Dolby Surround die Szene umkreiste. Das hatte etwas von der Bedrohlichkeit Godzillas. Tatsächlich kam dieser Hirsch auf der deutschen Landstraße durch ein Automobil, wie im Animationsfilm gezeigt, zu Tode. Yannik Stöbener erschien, leuchtend blutüberströmt und eine gute deutsche Leitplanke schleppend, zuletzt zu seinem Abgesang.

Es war ein wunderbarer und beeindruckender Theaterabend, den die Macher um Matthias Rippert dem Publikum bescherten. Es war aber auch eine (beinahe unmögliche) intellektuelle Herausforderung, die Fülle der Texte aufzunehmen und zeitnah zu verarbeiten. Der Inszenierung war es unbedingt zu danken, dass über das konkrete Wort hinaus die Pose des „Romantikers“ auf zum Teil sehr komische Weise ausgestellt und somit ein Grundgefühl für die Situation ermöglicht wurde. Dabei tauchten immer wieder Wörter auf, die heute einen hohen Reizfaktor haben. Immerhin handelte es sich um kanonisierte Texte, die nicht auf die heutige Situation geschrieben worden sind. Sie sind zwar von Elfriede Jelinek „überschrieben“ worden, doch nur, um das Wesentliche in ihnen an die Oberfläche zu heben. Dass sich die heutige Realität mit ihren ganz konkreten Stigmata in diesen Texten wiederfindet, zeigt einmal mehr, woher das heutige Denken kommt, wie weit es in die Vergangenheit zurückreicht. Und die Vergangenheiten waren nicht unbedingt die glorreichsten.

Wolf Banitzki


Wolken.Heim.

von Elfriede Jelinek

Mit Mathilde Bundschuh, Sibylle Canonica, Thomas Huber, Yannik Stöbener, Ulrike Willenbacher

Regie: Matthias Rippert

Marstall  Begehren von Josep M. Benet i Jornet


 

Trugbilder

Wir werden in Einsamkeit versinken, prophezeit sie. Er hält dagegen: Wir sind nicht einsam. Es sind nur wenige Menschen da, aber wir sind nicht einsam. Das Paar hat sich ein Wochenendhaus gekauft und ist nun dabei, es zu restaurieren. Während er darin eine sinnvolle Aufgabe und einen willkommenen Ausgleich sieht, bleibt sie auf Distanz, hinterfragt es. Doch dieses Hinterfragen bezieht sich nicht nur auf das Haus, sondern auf ihre ganze Existenz. Die Ehe ist monoton geworden und ihr ist es lieber, er berührt sie nicht. Sie gesteht sich ein, dass ihr die beiden gemeinsamen Töchter egal geworden sind und nun auch noch diese Verlassenheit. Bier, sie bevorzugt Bier, ist letztlich auch kein probates Mittel, dem Dilemma zu entkommen.

Sie erzählt ihm, dass sonderbare Dinge vor sich gehen. Sie wird angerufen, doch niemand spricht mit ihr. Wenn sie in den eine halbe Stunde Wegstrecke entfernten Supermarkt fährt, begegnet ihr immer an der selben Stelle ein Mann, der ihr vom Straßenrand Zeichen gibt, die sie jedoch ignoriert. Warum erzählt sie das ihrem Mann? Vielleicht, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, bevor sie bei der nächsten Fahrt anhalten wird. Doch der Mann geht pragmatisch damit um, findet einfache Erklärungen und schenkt dem keine Beachtung. Bei der nächsten Fahrt hält sie an. Der junge Mann hat eine Panne mit seinem Auto. Das Gespräch mit dem jungen Mann, der vorgibt, noch nie an diesem Ort gewesen zu sein, bleibt für sie unentschlüsselbar. Sie kann sich kein Bild machen, folgt aber seiner Einladung in einen Self-Service, wo sie auf eine Bekannte des jungen Mannes treffen. Eine bedrohliche, jedoch nicht fassbare Situation baut sich auf und die Frau flieht nach Hause. Sie ist sichtlich verändert, positiver gestimmt. Nach kürzester Zeit drängt es sie, zurückzukehren zu dem Mann. Diesmal täuscht sie eine Autopanne vor und lässt sich von ihm helfen.

Der Text, die Geschichte ergeben scheinbar keinen Sinn. Es geht nichts zusammen, alle reden an einander vorbei und mit den Geschichten, die jeder erzählt, ist kaum oder wenig anzufangen. Der katalanische Autor Josep M. Benet i Jornet beruft sich bezüglich seiner literarischen Herkunft auf Autoren wie Samuel Beckett, Heiner Müller und Harold Pinter. Wir sind also, zumindest ein stückweit, beim Theater des Absurden angekommen. Die Geschichte „Begehren“ ließe allerdings mehr Pinter als Beckett vermuten. Sie erscheint indes nicht so absurd wie Becketts Stücke. Zumindest sollte man nicht unbedingt dem Ratschlag folgen, der da in Bezug auf einige von Becketts Geschichten lautet: Versuche gar nicht erst zu verstehen, dann wirst Du verstehen! Wer das Stück von Benet i Jornet in der Inszenierung von Mirjam Loibl im Marstall gesehen hat, der wird zwar die Verwirrung gespürt haben, die der Text, die Geschichte auslöst, aber er wird auch deutlich gespürt haben, dass da etwas drin steckt, was den Zuschauer angeht. Was hat das Auge des Betrachters nun gesehen? Unterschiedliches, davon kann man wohl ausgehen.

So, wie künstlerische Qualität nicht nur im Auge des Betrachters liegt, man kann durchaus rationale Kriterien für die Bewertung von Kunst festmachen, liegt auch die Logik einer Geschichte nicht ausschließlich im Auge des Betrachters, denn es gibt mehr als nur eine Logik in ein und derselben Geschichte. Und so ist es an uns, an unserer psychischen Konstitution, welche Logik wir entdecken und welcher wir folgen. Darum entscheidet häufig auch die Zeitdauer, die wir zur Entschlüsselung eines Werkes brauchen, über die Lebensdauer desselben. Aller guten Kunst wohnt ein Geheimnis inne und solange das Geheimnis nicht gelüftet ist, lebt das Werk fort, fordert heraus und wird nicht vergessen.

  Begehren  
 

Philip Dechamps, Hanna Scheibe

© Thomas Aurin

 

Hier nun ein Deutungsversuch, der, ich hoffe, ich finde Zustimmung, durchaus logisch erscheint. Die Frau steckt mit ihrem Lebensgefühl in der Sackgasse. Sie will nicht akzeptieren, dass es das gewesen sein soll, dass das Leben nicht mehr für sie bereithält als ein Wochenendhaus, dessen Renovierung Jahre verschlingen wird. Sie ist erfüllt von einem starken „Begehren“ nach Ausbruch. Folglich schafft ihr Unterbewusstsein die Figur des jungen Mannes, von dem sie sich stark angezogen fühlt, den sie jedoch nicht beherrschen kann. Und genau das macht den Reiz der Situation aus. Es fühlt sich an, als würde er sie entführen, obgleich sie doch freiwillig seiner Einladung folgt. Im Self-Service angekommen, hat sich ihr Äußeres verändert, sie steckt in einem glitzernden Abendkleid, das sie sehr lasziv wirken lässt. Ein starkes erotisches Gefühl schwingt ständig mit, obgleich sich der junge Mann unnahbar gibt. Er ist ja in erster Linie eine Wunschvorstellung, eine Projektion. In dem schmuddeligen Laden begegnen sie einer Bekannten des jungen Mannes. Diese Tatsache straft ihn natürlich Lügen, wenn er behauptet nie zuvor hier gewesen zu sein. Wenn nun die junge Frau auch nur eine Projektion darstellt, dann aus einem einfachen Grund. Sie ist eine Nebenbuhlerin. „Begehren“ ist ein Stück, in dem Verzweiflung und Sehnsüchte Gestalt annehmen, menschliche, aber auch engelhafte Gestalt.

Für ihre Inszenierung ließ sich Mirjam Loibl von Thilo Ullrich das Fragment eines Wochenendhauses, eigentlich nur eine Ecke mit einem jalousienverhangenen Fenster entwerfen. Gedreht war das Innere des Hauses der Self-Service, beliebig austauschbar, ohne einprägsame Charakteristik. Und noch einmal gedreht war das Äußere des Self-Service zu sehen mit einem Telefon an der Wand. Das Gebäude befand sich im linken Drittel der Bühne, die jedoch in Gänze bespielt wurde. Es gab zu keinem Zeitpunkt Tageslicht. Immer wieder wurde der Raum durch Autoscheinwerfer oder aus dem Gebäude dringendes Licht teilweise erhellt, vor allem aber strukturiert. (Licht Uwe Grünewald) Es wurden Kälte, Regen und Wind als Sprachkulisse beschworen. Es waren die Techniken des Film Noir, die hier zur Anwendung kamen und eine ganz besondere Stimmung schufen. Kongenial unterstützt wurde diese durch die Musik von Constantin John.

Arthur Klemt gab einen emsig handwerkelnden Ehemann, der durch und durch Vernunftmensch war und in seiner Aufgabe aufging. Seine Liebenswürdigkeiten der Ehefrau gegenüber waren ehrlich, aber abgenutzt, was ihren Frust erklärte. Hanna Scheibe gab sich sperrig, ging nicht auf den Mann ein und breitete über allem ihren Frust aus, um ihn zugleich zu leugnen. Als jedoch die Figuren ihres Unterbewusstseins die Oberhand gewannen, geriet sie unweigerlich aus der Fassung und kam an die Grenzen der Hysterie, ohne jedoch im Spiel hysterisch zu werden. Barbara Romaner gab die Freundin des unbekannten jungen Mannes, leise, zurückhaltend und ein wenig wie ferngesteuert. Schlussendlich nahm sie gleichmütig hin, dass die Frau ihr mit dem Stemmeisen des Mannes die Pulsader aufschlitzte. Philip Dechamps fremder Mann verhielt sich zur Frau ebenso undurchdringlich, so unnahbar wie die Frau ihrem Ehemann gegenüber. Fast hätte man meinen können, es handle sich um eine Spiegelung. Sein sonderbares Kostüm (Kostüme Anna Maria Schories) bestärkte die Annahme, dass er nicht aus dieser realen Welt stammte, dass er eine Projektion sei. Er kam und ging, ohne jegliche Erklärung für das Wohin oder Woher. Schließlich tauchte er in diffusem Licht wie ein Engel im Hintergrund des Spiels auf.

Als der Vorhang fiel, brauchte das Publikum eine Weile, um sich aus der Erstarrung zu lösen. Erst zur letzten Verbeugung bekamen die Darsteller einen befreiten und herzlichen Applaus. (Zweite Vorstellung) Das ist leicht erklärbar, denn das Publikum rang die ganze Vorstellung über darum, zu verstehen, was es gerade gesehen hatte. Nachdem man sich des Endes bewusst geworden war, fühlte man, dass gerade etwas Unerhörtes, im Sinne von so noch nicht gehört oder gesehen, passiert war. Das ist natürlich eine echte Qualität, zumal man sich durchaus ein Bild davon machen konnte, was alle Beteiligten mit dieser Inszenierung bezweckten. Da sowohl die Inszenierung, wie auch die darstellerischen Leistungen beeindruckend und sehenswert waren, können die Macher für sich getrost reklamieren, einen besonderen Theaterabend kreiert zu haben. Eine Inszenierung, die man so schnell nicht vergisst.

Wolf Banitzki

 


Begehren

von Josep M. Benet i Jornet
Aus dem Spanischen von Fritz Rudolf Fries unter Einbeziehung der Übersetzung aus dem Katalanischen von Alia Luque und Susanne Meister

Arthur Klemt, Hanna Scheibe, Philip Dechamps, Barbara Romaner

Regie:  Mirjam Loibl

Marstall  Der Mieter  von Roland Topor


 

Wenn die Dämonen kommen

Der stille Angestellte Trelkovsky ist auf Wohnungssuche. Als er endlich fündig wird, muss er feststellen, dass die Wohnung noch gar nicht wirklich frei ist. Die eigentliche Mieterin war aus dem Fenster der Wohnung gesprungen und lag nun im Krankhaus. Sie lebte noch. Also musste Trelkovsky warten. Endlich erreichte ihn die Nachricht, dass die Mieterin Simone Choule verstorben sei. Der Vermieter ist ein Mann der häuslichen Ordnung. Er erklärt Trelkovsky die strengen Regeln des Hauses. Trelkovsky ist willig, schließlich weiß er genau, wie schwer es ist, in Paris eine bezahlbare Wohnung zu finden und darum, so der Vermieter sinngemäß, sollte man alles daran setzen, die Wohnung auch zu behalten. Das klang schon mal wie eine Drohung. Trelkovsky stellt bald fest, dass die Nachbarn nicht einfach nur Nachbarn sind, sondern potentielle Feinde, die scheinbar alles daransetzen, Trelkovsky aus der Wohnung zu vertreiben. Das schärft Trelkovskys Sinne und bald macht er sonderbare Beobachtungen, die unerklärlich sind.

Es dauert nicht allzu lange und Trelkovsky ist sich sicher, dass ein Komplott gegen ihn im Gange ist. Seine Ängste steigern sich langsam und unaufhaltsam, bis er eine ausgewachsene Identitätskrise bekommt. Er ist sich sicher, dass man ihn ebenso wie die arme Simone in den Tod treiben will und er beginnt sich immer mehr in die Identität der Leidensgefährtin zu flüchten. Er trägt ihre Wäsche, ihre Kleider, eine Perücke und Lippenrouge. Einzige Verbündete die er hat, ist Stella, die Freundin Simones, mit der er eine Beziehung eingeht. Doch bald schon glaubt Trelkovsky auch in ihr eine Feindin und Beteiligte an dem Komplott gegen ihn auszumachen. Nun, gänzlich von allen verlassen und von der Schar der Verfolger immer mehr bedrängt, stürzt er sich aus dem Fenster und endet, wie zuvor Simone, im Krankenhaus. Dort muss er erleben, wie Stella und er selbst ihn besuchen. Ein entsetzlicher Schrei entringt sich seiner Kehle und hier schließt sich der Kreis, denn als Trelkovsky und Stella sich kennenlernten, geschah das am Krankenbett von Simone. Die, von Verbänden unkenntlich, sah Trelkovsky und schrie ebendenselben markerschütternden Schrei.

  Der Mieter  
 

René Dumont, Aurel Manthei

© Armin Smailovic

 

So erzählt es, hier in groben Zügen wiedergegeben, der Roman von Roland Topor und die Verfilmung durch Roman Polanski, der in seinem Werk die Rolle Trelkovskys selbst übernahm und eine grandiose Figur gebar. Es ist die Geschichte eines Mannes, der durchaus bereit ist, sich den gesellschaftlichen Regeln unterzuordnen, der aber bald erkennen muss, dass die Mitmenschen ihm nach und nach sein Leben nehmen. Die junge Regisseurin Blanka Rádóczy, inzwischen bekannt für ihre „somnambul aufgeladenen, atmosphärisch dichten Arbeiten“, schickte sich nun an, das Werk auf die Bühne des Marstalls zu bringen. Heraus kam eine Inszenierung, die ohne Zweifel düster anmutete und in der sich das Schicksal des Mieters Trelkovsky, wie von Topor entworfen, auch erfüllte. Dabei brachte Blanka Rádóczy einen gelungenen Einfall in das ebenfalls von ihr selbst entworfene Bühnenbild ein. Eine erhebliche Fläche der Bühne war mit einer großen Folie bedeckt, den Innenhof oder auch das Glasdach beschreibend, auf das sich Simone gestürzt hatte. Die Wohnung, um die es ging, war durch die Größe des Innenhofes (Plane) so dicht an das Publikum herangerückt, dass ein Gesamteindruck eines geschlossenen Bühnenbildes ausblieb. Das Spiel begann mit dem Auftritt des Vermieters Monsieur Zy, gespielt von Joachim Nimtz, der von Anna Graenzer gegebenen Concierge und einem Nachbarn namens Scope, dem René Dumont Gestalt verlieh. Sie glätteten gemeinsam die Plane und tilgten damit die Spuren des Suizides Simones. Mit eben dieser Handlung endete das Stück auch, die Spuren des Selbstmords Trelkovskys beseitigend.

Trelkovsky wurde von Aurel Manthei gespielt, der sich in Zurückhaltung und sensibler Reaktion an der von Polanski gestalteten Figur durchaus messen lassen konnte. Obgleich der Ton des von Joachim Nimtz gegebenen Vermieters Monsieur Zy, ob er forcierte oder nur in sich hineinsprach, stets wie drohendes Donnergrollen klang, brachte Aurel Manthei einen Trelkovsky auf die Bühne, der durchaus über Selbstbewusstsein und über ein gehöriges Maß an Freundlichkeit verfügte. Er ließ sich auch nicht aus der Reserve locken, als der von René Dumont gegebene penetrante und Trelkovsky fortwährend auflauernde Nachbar, ihn zum Widerstand gegen das rigide System der lebensunterdrückenden „Wohngemeinschaft“ geradezu aufzuwiegeln versuchte. Marginal blieb indes die Erscheinung der von Cynthia Micas gespielten Stella. Im Grunde war sie die am schwersten einzuordnende und zu verstehende Figur.

Blanka Rádóczy hatte die Geschichte auf gerade einmal eine Stunde eingedampft. Hinzu kam, dass die Inbesitznahme der Wohnung, beschrieben durch zunehmend ritualisierte Vorgänge, beinahe ein Viertel dieser Zeit in Anspruch nahm. Danach erst begann sich der Konflikt aufzubauen. Von der komplexen Geschichte Topors wurden im Wesentlichen nur einige äußere Vorgänge beschrieben, die dennoch nicht zum Verständnis der ganzen Geschichte reichten, wenn man die beiden Vorlagen, Roman und/oder Film, nicht kannte. „Somnambul aufgeladenen“ war die Geschichte bis zu einem gewissen Grad. Zum einen durch das Licht (Martin Jedryas), zum anderen durch gespenstische Figuren, die die Nacht und auch die Fantasie Trelkovskys bevölkerten. Das Attribut „atmosphärisch dichte Arbeit“ kann man dieser Inszenierung nur bedingt zusprechen. Zu karg, zu sporadisch war das, was von der Geschichte übrig geblieben war und zu dünn die Psychologie, die die Vorgänge bis hin zum Suizid Trelkovskys erklärte. So griff die Geschichte nicht hinreichend und die eine Stunde Spieldauer fühlte sich nicht kurzweilig an. An den Leistungen der Schauspieler lag es indes nicht.

Es ist ohne Zweifel ein aktuelles Thema, denn ein Mieter ist, verfügt er nicht über finanzielle Mittel im Übermaß, heute zuallererst ein Bittsteller, der, wenn er nicht genügend Devotheit mitbringt, vielleicht sogar noch Forderungen stellt, ganz schlechte Karten bei einer Wohnungsvergabe hat. Es ist ja auch hinlänglich bekannt, dass Vermieter demütigende Regeln und Forderungen aufmachen und bisweilen sogar bis zu sexueller Nötigung gehen. Doch das ist alles nur der Ausgangspunkt für die Erzählung von Topor. Die Geschichte ist ein großes psychologisches Drama, das auf dem Nährboden der beschriebenen Zustände gedeihen kann. Düstere Bilder allein genügen da nicht. Da braucht es feinfühlige, psychologisch ausgefeilte Szenen und den spielerischen Raum, um das Grauen wachsen zu lassen und vor allem, um die Geschichte zu verstehen, denn Topors Geschichte ist nicht abwegig. Wenn die Dämonen kommen, geschieht Unerhörtes. Leider ist es den Machern nicht gelungen ein ganzheitliches, in sich schlüssiges und logisches Bild von der Auferstehung der Dämonen zu schaffen.

Wolf Banitzki


Der Mieter

von Roland Topor
Deutsch von Wolfram Schäfer

Aurel Manthei, Cynthia Micas, René Dumont, Joachim Nimtz, Anna Graenzer

Regie: Blanka Rádóczy

Marstall Stille Nachbarn von Azar Mortazavi


 

Wir sind alle allein

Das Stück „Stille Nachbarn“ von Azar Mortazavi ist ein Stück über Einsamkeit in der Gemeinschaft, über das Verlorensein in einer vermeintlich sicheren Welt. Vier Menschen bevölkern den Mikrokosmos, den die Autorin exemplarisch ausstellt. Da ist Charlotte Grau, die sich einer beginnenden Demenzerkrankung ausgeliefert sieht und an Orientierung verliert. Was übrig bleibt, lässt sie hartherzig und widerspenstig erscheinen. Äußere Feinde bevölkern ihre Fantasie: „Man wird uns aussaugen, wie das Kaninchen meines Kindes.“ Ihr Kind heißt Isabell und Charlotte hat es nie geliebt, zumindest glaubt sie es, denn die Erinnerungen lassen ihr keine Wahl. Für sie war es immer das hässlich, dicke Kind mit den unförmigen Waden, schon als kleines Mädchen mit Schultüte. Recht scheint ihr dabei zu geben, dass Isabell sie in ein Seniorenheim „abgeschoben“ hat. Die neue Umgebung, man könnte sie ja nach Gutdünken persönlich einrichten, wird rigoros abgelehnt.

Isabells Versuch, eine bürgerliche Existenz zu leben, ist mehr als fadenscheinig. Gemeinsam mit ihrem Mann, von dem man nicht weiß, ob er tatsächlich jemals existiert hat und dessen permanente Abwesenheit mit Migräne entschuldigt wird, hat sie eine Wohnung gekauft. Die wird renoviert und ist eine Baustelle, was zusätzlich, neben der feindlich gesinnten Mutter, an Isabells Nerven zehrt. Isabell weicht aus in das Leben ihrer Nachbarin Leyla, drängt sich in deren kleine Welt. Leyla, eine introvertierte junge Frau, lebt gemeinsam mit Ibrahim, einem Studenten, der hofft, irgendwann mit seinem Studium fertig zu sein, um endlich frei von materieller Bedrängnis leben zu können. Es ist allerdings kein Ende absehbar und Ibrahim flieht immer wieder in seine Aufgabe als Übersetzer in ein nahe gelegenes Flüchtlingsheim. Leyla hofft auf ein gemeinsames Leben mit Ibrahim, denn, was der nicht weiß, sie ist schwanger. Schließlich passiert etwas, man erfährt nicht was. Nur so viel, es hat etwas mit den „Landsleuten“ von Ibrahim zu tun. Leyla hält dagegen: „Er ist hier geboren!“

Es ist ein Stück ohne Plot, ohne Anfang und ohne Ende. Es ist ein Ausschnitt aus einer scheinbar beliebigen Welt, die unaufgeregt vor sich hin dümpelt. Doch bei näherer Betrachtung stellt man schnell fest, dass es an allen Ecken und Enden gärt. Und obgleich die Autorin selbst in einem Interview, abgedruckt im Programmheft, darauf verweist, dass es die „aggressive rassistische Zuspitzung der letzten Jahre“ war, die sie zum Schreiben dieses Textes veranlasste, ist es vordergründig kein Stück über Ausländer- oder Rassenhass. Es ist vielmehr eine gesellschaftliche Bestandsaufnahme, die psycho-pathologische Zustände beschreibt, die letztlich in Ausländerhass und ähnlichem gipfeln, denn derartige Zustände haben immer wahnhafte, realitäts-verrückte Vorstellungen als Ausgangspunkt. Tatsächlich zeichnet Azar Mortazavi mit ihrem kleinfokussierten Ausschnitt ein beklemmendes Bild, das schwerlich dazu angetan sein kann ein allgemeines Lamento über den Zustand der Welt zu singen. Es könnte sogar dazu führen, die Verdrossenheit der Gesellschaft und dem Leben gegenüber auch zu befördern. Doch diese Entscheidung muss jeder Zuschauer für sich selbst finden und treffen.

  Stille Nachbarn  
 

Barbara Melzl, Bijan Zamani, Katrin Röver

© Thomas Aurin

 

Es ist ein hochpoetisches Werk, das in der Regie von Aureliusz Śmigiel eine kongeniale Umsetzung auf der Bühne des Marstalls fand. Die Textur des Werkes hat einen überbordenden Subtext, den sichtbar aufzustellen, nur eine artifizielle Inszenierung leisten konnte. Das ist fraglos geschehen.

Für den ersten Teil der knapp zweistündigen Inszenierung hatte Martin Eidenberger (Bühne und Video) die Welt in einen Minigolf-Parcours verwandelt, in dem Bahnen zu Straßen wurden, gesäumt von winzigen altmodischen Telegrafenmasten und Straßenlampen, oder auch zu einer sich in der Tiefe verengenden Wohnung, deren Ende ein Kühlschrank war. Das Bild war offen und sämtliche Darsteller konnten sich mehr oder weniger frei darin bewegen. Im zweiten Teil, nach aufwendigem Umbau in der Pause, bildete eine offene Pyramide das Zentrum der Bühne, aus der keiner der Akteure herauskam. Alles war in Schwarz und Weiß gehalten. Die Welt war kleiner geworden, zwanghafter, und folglich stieg der Stresspegel, denn es gab kein Entrinnen mehr. Ein Chor (Musik und Liedtexte Torsten Knoll) kommentierte das Spiel, der aus der Konserve eingespielt wurde. Videoprojektionen überlagerten das Bild bei Szenenwechsel mit flimmerndem, verpixeltem Schwarzweißlicht. Realität war damit aufgelöst und auf eine andere Wahrnehmungsebene gehievt worden.

Die Darsteller sprachen Texte, die viel traurige Befindlichkeiten spiegelten und die sich in ihrer Selbstdefinition zur These machten, auf die die Gegenüber ebenso als Antithese reagierten, denn nichts ging tatsächlich zusammen. Es gab kein Entrinnen aus dem: Am Ende sind wir alle allein! Und nicht nur das, wir geben auch alles weiter was wir erfahren haben, worunter wir gelitten haben, was wir als unvermeidlich einschätzen. Ein bewegender Moment war, als Bijan Zamani in der Rolle des Ibrahims einen Monolog an sein ungeborenes Kind hielt. Aureliusz Śmigiel hatte ihm dafür einen Fötus aus tropfendem Eis in den Arm gelegt. Stark dominiert wurde die Inszenierung durch das Spiel von Barbara Melzl als Charlotte Grau und Katrin Röver als ihre Tochter Isabell. Beiden hatte die Regie deutlich mehr Expression zugestanden. Dabei muss Barbara Melzl besonders herausgehoben werden, denn ihr Spiel erklärte wie kaum ein anderer Beitrag das Vage der menschlichen Existenz, das sich Zersetzende an sich in einer sich selbst zersetzenden Gesellschaft. (Es ist nicht nachvollziehbar, dass diese grandiose Darstellerin so selten auf den Bühnen des Staatsschauspiels zusehen ist!)

Doch auch Katrin Röver, die sich als Isabell in ein rechtes Licht setzen wollte, um Zuneigung zu gewinnen, um Einlass zu finden in eine menschliche Gesellschaft, und sei sie noch so klein, die dagegen anspielte, nicht das verworfene, ungeliebte, hässliche Kind zu sein, berührte vor allem wegen ihrer kontrastierenden leuchtenden Schönheit. Kostümbildnerin Laura Yoro hatte sie mit einem figurbetonten, leuchtendroten Kleid ausgestattet. Einzig Esther Schwartz blieb blass in der Rolle der Leyla, was aber vermutlich an der Kargheit ihrer Texte lag. Sie war die „Erwerbstätige“, um auch Ibrahim mitzutragen, der sich den äußeren Anforderungen seiner Existenz verweigerte. Sie war die still Leidende, die tief in ihrem eigenen Konflikt, der Schwangerschaft, verstrickt war.

Es war ein Theaterabend, der weniger die Ratio und viel mehr die Emotio ansprach. Eigentlich sollte das im Theater selbstverständlich sein. Allein, in der Diskurskultur, wie sie sich heute auch in den Kulturinstitutionen mit geringer Effizienz breit macht, werden mehr „Tore“ geschossen und das ist unterhaltsamer. Auch wenn man nicht alles mit Azar Mortazavi teilt, sich nicht unbedingt auf ihre Seite schlägt, hat sie dem Publikum doch in Zusammenarbeit mit Aureliusz Śmigiel einen bewegenden und berührenden Theaterabend mit hohem künstlerischen Anspruch geschenkt. Dafür sei ihnen gedankt.

Wolf Banitzki


Stille Nachbarn

von Azar Mortazavi

Mit: Barbara Melzl, Katrin Röver, Esther Schwartz, Bijan Zamani

Regie: Aureliusz Śmigiel

Marstall Victory Condition von Chris Thorpe


 

Störfaktor Gefühle

In der neoliberalen Welt muss, wer „überleben“ will, sich für den Sieg konditionieren. Hinderlich im durchdigitalisierten Leben sind dabei Skrupel, Selbstzweifel und vor allem lästige und unkontrollierbare Gefühle. Hinderlich sind aber auch die Banalitäten des Lebens. Die kann man immerhin dank der technischen Entwicklung outsourcen, in dem wir die uns umgebenden technischen Einrichtungen auf dieselbe Informationsebene heben, auf der wir selbst, nun überaus effizient, agieren. Dabei vernetzen wir die belebte und die unbelebte Materie soweit, bis wir den Überblick verlieren, und dann werden wir, nach allen Seiten hin offen, zum ungeschützten Raum und zum angreifbaren Subjekt. Das ist der Preis, der gezahlt werden muss, wenn wir uns zum großen Ganzen, also zum Geldstrom, dazugehörig fühlen wollen. Die Mehrzahl unserer Zeitgenossen glaubt diesen Schwachsinn und kniet nieder vor dem neuen Gott Digital. Dann kann es allerdings passieren, dass uns irgendwelche Impulse, wir wissen nicht woher sie kommen und auch nicht wer sie möglicherweise geschickt hat, aus der Bahn werfen. Wir werden unwissentlich „umprogrammiert“ oder in Besitz genommen.

In Chris Thorpes Theaterstück „Victory Condition“ wird ein Ehepaar von eben diesem Phänomen eingeholt. Gemeinsam kehren sie von einer Reise in ihr stylisches Appartement zurück und sortieren sich selbst wieder akribisch in ihre vollkommen digitalisierte und optimierte Welt ein. Und während sie ihre Hygieneartikel fein säuberlich aufgereiht an dem einzig richtigen Ort platzieren, ihre Kleidung ebenso fein säuberlich an den vorgeschrieben Platz bringen, eine Dusche nehmen, ein Fertiggericht in der Mikrowelle bereiten, ein paar Eier braten, nicht ohne vorher die fein gebügelte Schürze angelegt zu haben, überfällt es sie urplötzlich und ein Redestrom bricht aus ihnen hervor, der, hier sind grundsätzliche Zweifel angebracht, tatsächlich der eigene ist. Er, der Mann, der für den Staat arbeitet, erklärt mit größtmöglicher Präzision, wie er, oder wer auch immer, als Scharfschütze einen Menschen töten wird. Er wurde abkommandiert, um in einer Gruppe Protestler, die nebenher auch Molotow-Cocktails basteln, ein staatsfeindliches Subjekt zu eliminieren. Sie, die Frau, überfällt unvermittelt die Vorstellung, sie sei auf einem U-Bahnsteig zusammengebrochen und kann sich selbst nicht mehr helfen… Beide beginnen sich in komplexen Bildern, schließlich ist alles vernetzt, zu verlieren. Scheinbar ohne zwingenden Grund schleichen sich unverhofft Gefühle für ein unbekanntes Mädchen mit großer Anziehungskraft ein. Dem Mann, der vorgibt ein Präzisionsschütze zu sein, besitzt urplötzlich nicht mehr genügend feinmotorische Fähigkeiten, ein Getränk in ein Glas zu gießen. Der Frau ergeht es nicht besser. Zwischendrin gibt es Momente des ängstlichen Innehaltens wenn die Türglocke schellt. Vor der Tür steht ein anonymer Mann in Motorrad-Kombi und Helm auf dem Kopf. Einmal bringt er eine DVD mit einem Militärspiel, ein zweites Mal eine Pizza. Zuletzt nur eine kryptische Botschaft.

Regisseur Sam Brown brachte das Stück von Chris Thorpe als deutsche Erstaufführung auf die Bühne des Marstalls. Da das Stück in einem hermetisch abgeschlossenen Appartement spielt, brachte Sam Brown konsequenterweise einen geschlossenen Raum auf die Bühne. In Brusthöhe befand sich ein umlaufendes Fenster, durch das das Publikum, wohlgemerkt stehend, Einblick nehmen konnte. (Bühne und Kostüme Alex Lowde) Der Theaterbesucher, der sonst artig auf seinem nummerierten Stuhl sitzt, wurde so zu einem Voyeur gemacht, der teilhatte an den intimsten Vorgängen, die weniger ausgestellt, als vielmehr szenisch gelebt wurden. Mit Nora Buzalka und Till Firit war das Paar erstklassig besetzt. Die Nähe erlaubte dem Zuschauer geradewegs intime Einblicke in die Schauspielkunst der beiden Hochkaräter. Till Firits großartige Sprechkultur machte die Beschreibung der Kalkulation eines tödlichen Gewehrschusses zu einem Gänsehautmoment. Nora Buzalkas Entsetzen, sich hilflos in einer Situation des physischen Ausgeliefertseins zu befinden, beschrieb in der Doppeldeutigkeit auch die Situation der Möglichkeit des Ausgeliefertseins im Netz. Man erinnere sich an Shitstorms oder Hackerangriffen, verbunden mit Kontrollverlust und der Konfrontation mit einem entfesselten Mob. Dabei ist das erst der Anfang, denn die fortschreitende Vernetzung wird den Bürger in ein gläsernes, zerbrechliches und verletzbares Wesen verwandeln, dessen eigener Wille durch im Hintergrund bewusst- und gnadenlos agierende Logarithmen zunehmend manipuliert wird.

  Victory Condition  
 

Till Firit, Nora Buzalka

© Armin Smailovic

 

Die Inszenierung blieb, was die Aussage betrifft, vage. Es war vielmehr ein Vexierspiel in einer Welt der Bilder, die sich in Details und Marginalien verliert, weil diese alle vornehmlich Geschäftsfelder sind. Siegen heißt in dieser Welt zuallererst ökonomisch erfolgreich zu sein. Verloren geht und auf der Strecke bleibt dabei alles das, was den Menschen einzigartig und charaktervoll macht. Nie war das Menschenbild so verworren, komplex und fragil zugleich. Im Grunde kann man den Zustand nur als einen Auflösungszustand begreifen, einer lustvollen Vereinigung mit der digitalen Welt. Es gibt Zeitgenossen, die lassen sich elektronische Haustürschlüssel zu ihren Wohnungen unter die Haut in ihren Körper einpflanzen. Abgesehen davon, dass der Sinn höchst fraglich ist, von der Schönheit eines Schlüsselbundes und dem haptischen Vergnügen es zu fühlen und zu benutzen ganz zu schweigen, stellt sich doch die Frage, wie viel Respekt der Mensch noch vor dem eigenen Körper hat. Für eine physische Vereinigung mit der digitalen Welt scheint er indes bereit zu sein.

Nie war die Manipulation durch die Bilder so stark und moralisch so fraglich. Wenn vor gar nicht allzu vielen Jahren ein Mensch unerwartet fotografiert wurde, dann empfand er den Vorgang zumeist als unbehaglich. Heute posieren die Menschen vor jeder der Abermillionen Kameras im öffentlichen und privaten Raum in der Hoffnung, auf irgendeiner Plattform, in irgendeinem Forum oder sozialen Medium wahrgenommen zu werden. Noch stärker als der Voyeurismus scheint doch inzwischen der Drang zum Exhibitionismus zu sein, und das mit fatalen Folgen.

Der Mensch ist längst nicht mehr in der Lage, die ethischen Probleme, die der rasante technische Fortschritt hervorbringt, überwiegend befeuert von Profitgier, auch nur ansatzweise zu lösen. Zumeist ist er sich der Probleme noch nicht einmal bewusst. Das und einiges mehr lassen sich aus der Marstall-Inszenierung herauslesen, die ästhetisch wie darstellerisch durchaus gelungen ist. Auch der Einfall, das Publikum zu stehenden Voyeuren zu machen ist keineswegs unlogisch. Big Brother is waching you. In diesem Fall ist das Publikum der große Bruder, ob es will oder nicht. Doch Vorsicht, selbst eine kurzweilige Stunde Spielzeit können physische Probleme mit sich bringen, Ohnmacht inbegriffen, wie in der 2. Vorstellung geschehen. Man sollte sich also vorab befragen, ob man sich für dieses Experiment eignet. Empfehlenswert ist die Inszenierung allemal, wenngleich am Ende eine Menge Fragen offenbleiben.

Wolf Banitzki

 


Victory Condition

von Chris Thorpe
Deutsch von Katharina Schmitt / Deutschsprachige Erstaufführung!

Mit Nora Buzalka, Till Firit

Regie Sam Brown